Markus Grundtner

Wildnis

I
Mit dem Klang einer Trommel, auf welche der erste Ton eines fremden Rhythmus geschlagen wurde, prallte Petros Stirn gegen die beschriebene Tafel. Jede Nuance der Vibration ging in ihn über. Die Schwingung des Geräusches außergewöhnlicher Art, keiner Kurvendarstellung in einem kahlen Koordinatensystem gleichend, wurde zum beherrschenden Teil von ihm. Mit wissenschaftlichen Messgeräten hätte sie nicht in ihrer Gesamtheit erfasst werden können, da sie allein in ihrem dumpfen akustischen Abglanz durch das Tor einer anderen Welt hinüberdrang. Als Petro durch jene Pforte fiel, wandelte sich der Laut zu einem unberechenbaren Spiel von Wellen, welche die morschen Pfosten eines Bootssteges umspülten.
Petro stürzte auf die schief gezimmerten Planken eines nebelumwobenen Piers. Begleitet wurde dieser Aufprall vom nachhallenden Dröhnen seiner Stirnhaut, welche an der harten Grenzfläche aufplatzte. Petros materielle Hülle brach an der Barriere.
Ein erkaltender Blutstrom durchtrennte Bruchstriche und verstümmelte griechische Buchstaben. Quer über die Tafel schliff Petros Stirn, um schließlich den Kreidebehälter mit zu Boden zu reißen. Zurückfedernd schlug sein Kopf in dem Staubwirbel auf, zuerst alles an zersplitternden Kreidestücken um sich rot bespritzend und tränkend, jedoch schließlich verblassend und entschwindend.
Modrige Feuchtigkeit schmiegte sich an Petros Lippen. Er öffnete seine Lider, um sie gleich wieder zu schließen. Nebel umgab ihn, den nichts durchdrang außer dem ungestümer werdenden Branden der Wellen überdeckt von brausendem Zittern, als ob hinter der weißen Wand gewaltige Wellenberge kurz vor dem Losbrechen standen, die von etwas Übermenschlichem gerade noch zurückgehalten wurden.
Das fühlbare Beben vermischte sich mit einem Kichern, welches aus der Ferne näher kam und dabei seine Widernatürlichkeit drastisch steigerte. Es löste bei Petro mehr als die kurzzeitige körperliche Erstarrung eines Angstanfalls aus. Jeder Ton war derart schauerlich, dass er befähigt schien, ganz gezielt Muskelstränge wie die Saiten einer Violine straff zu spannen, um Petro gefangen zu setzen in eine ewige Gelähmtheit verdammt zum reinen Hören. Ein Zustand, in dem der Schrecken ihm nie plastisch greifbar gegenübertreten, sondern genährt von seiner ungebrochenen Phantasie ihn in immer bizarreren Gestalten heimsuchen würde.
Petro wand sich hilflos in seiner verkrampften Stellung und erhaschte einen kurzen Eindruck, von dem Schatten, der sich dunkel im Nebel abzeichnete. Damit er besser sehen konnte, drückte er seine Schulter gegen das Holz, das prompt nachgab. Petros steifer Arm glitt durch den aufgebrochenen Spalt nach unten, mit einem Ohr kam er über dem Loch zu liegen. Die herabfallenden Holzstücke wurden bei der Berührung an den Wogenkämmen, wie beim Schlagen einer silbrig glänzenden Axtschneide in eine unversehrte Baumrinde, lautstark zerfetzt.
Jene Kakophonie der Gewalt versetzte Petro in eine faszinierte, zugleich angsterfüllte Trance, eine Betäubung, aus der er von einer sanften Berührung gerissen wurde. Der krumme Stock, der ihn anstieß, hätte genauso gut die Spitze eines Insektenkiefers sein können, im Begriff seine vor Furcht zur Wehrlosigkeit gefrorene Beute bei vollem Bewusstsein zu verzehren.
Petro hielt es für einen Spazierstock, jedoch wurde dieser von keinen Fingern, sondern einer geleeartigen Masse gehalten, die überzogen von Nesselfäden um Petros Hals floss. Sie zog den vor Schmerzen schreienden zum Rand des Steges, legte ihn dort ab, bevor sie ihn schließlich hinab zu der nahen Stätte der Verstümmelung stieß.
Der freie Fall endete auf festem Untergrund. Petro glaubte sich kurzweilig schaukelnd auf der bösartigen Wasseroberfläche, die begierig war, sich über ihn zu einer geschlossenen Kapsel zu wölben. An den glatten Wänden würden winzige Tropfen, die Nadeln gleichkamen, dem herabbrausenden Klingenregen vorangehen, wenn die Blase in sich und gegen Petro hin zusammenstürzte.
Im Meeresschaum zu blutigen Fetzen und Klumpen wiedergeboren zu werden, davon blieb er jedoch verschont, denn nicht am schwarzen Wasser, sondern scheinbar in einem Boot war Petro auf seinem Rücken gelandet. Der Schatten war ihm nachgesprungen und begann vor Petro einen humpelnden Tanz aufzuführen, dessen Takt von metallischem Klimpern angegeben wurde.
Die Arme, wenn es Arme waren, fuhren raserisch herum und stießen das Boot vom Steg ab. Nun glitt die Erscheinung zu Petro, sodass dieser zum ersten Mal einen optischen Eindruck von ihr erhielt. Was er sah, leitete die Finsternis ein, welche über ihn hereinbrach. In unzählbaren eckigen Augenpaaren steckten deformierte Schlüssel, die sich im funkelnden Schein von selbst einmal in die Höhlen hinein und dann wieder hinausdrehten.

II
Kaum Verwunderung hatte Petros längere Regungslosigkeit angesichts der Rechenaufgabe hervorgerufen. Weder der Lehrer noch die Schüler konnten sich erinnern, dass er von selbst jemals die Lösung eines Beispiels zustande gebracht hätte.
Sprachlos stand der untersetzte Mathematikprofessor, bislang sich überlegen am Fensterbrett des Klassenraumes abstützend, dem Zusammenbruch seines Schülers gegenüber. Sprachlos nicht, weil es ihn entsetzte. Er musste ganz einfach eine reiflich überlegte spöttische Bemerkung, die er wegen der nervösen und daher oft fehlerhaften Rechenweise des Schülers anbringen wollte, zurückhalten und schnell angemessenere Worte finden.
Was denn dieses Verhalten denn nun wieder zu bedeuten hätte, fragte er den Ernst bewahrend. Doch Petro blieb stumm, sodass einige Schüler unsicher versuchten, erste Hilfe zu leisten an dem leeren Körper, dessen Glieder hart und kalt waren wie Marmor.
Nach einer Diskussion zwischen Schülern und Lehrer, bei welcher der Professor letztlich nur einlenkte, um nicht weitere kostbare Unterrichtszeit zu vergeuden, wurde Dr. Rada, der Hausarzt und väterliche Freund Petros, verständigt. Bereits kurz darauf traf er ein und begann seine Untersuchungen.
Daneben stehend wurden die tuschelnden Schüler nicht müde zu erwähnen, wie seltsam und eigenbrötlerisch der wortkarge Petro immer schon gewesen sei. Oftmals bat der Arzt sie und den skeptisch dreinschauenden Lehrer, ihm und dem Patienten Luft zum Atmen zu lassen, doch lösten sie den Kreis, den sie um die beiden geschlossen hatten, nicht auf. Dazu kamen die laienhaften Bemerkungen und penetranten Fragen des Mathematikprofessors, die den sonst gutmütigen Rada in einer Situation ärgerlich und ungehalten werden ließen, in der er seine Konzentration nicht verlieren durfte.
Sehe der Doktor denn nicht die Pupillen, die sich bewegten, woraus zweifelsfrei zu folgern sei, dass Petro nur simulieren würde, wahrscheinlich um sich vor einer weiteren schlechten Benotung zu drücken? Könne man ihn, der sowieso nur eine leichte Kopfverletzung habe, nicht endlich wegschaffen, da er mit der Vermittlung des festgesetzten Lehrstoffes ob solch unnötiger Unterbrechungen sowieso ständig im Verzug sei?
So ging es in einem fort, bis der Doktor das Bild des pflichtbesessenen Zahlenfanatikers bestätigt sah, welches Petro mehrfach gezeichnet hatte. Seine ihm dennoch bewusste Ratlosigkeit kaschierend, diagnostizierte Rada, dass alle Körperfunktionen zwar normal seien, wie der Herr Professor fachkundig erkannt habe, Petro aber keine Pupillenreflexe zeige, wie sie zu erwarten wären. Bei Lichtkontakt blieben sie eng geschlossen, doch weiteten sie sich sporadisch bei Dunkelheit. Man könnte meinen, schloss Rada, sie würden auf Reize reagieren, die sich hier im Klassenzimmer nur im Oberflächlichen feststellen ließen.
Derart zeigten sich die einzigen äußeren Anzeichen, von denen man auf eine ferne, aber vorhandene Geistesgegenwart bei Petro schließen konnte. In seinen Augenbewegungen, die vormals unbewegt, plötzlich auf Furcht und Verzweiflung hindeuteten, spiegelte sich Petros beginnende Agonie an einem Ort wieder, dessen eigendynamische Geheimnisse kurz davor standen, sich ihm zu offenbaren.

III
Petro erwachte im Zentrum verfallener Mauern, die gleich einem Gebiss fauliger und abgebrochener Zähne aus dem Boden ragten. Gelehnt an eine in mehrere Teile zerfallene Säule fand er sich in einer von Hügeln und Bergen umgebenen Ebene verdorrter tropischer Pflanzen wieder. Petro war auf einem toten Inselparadies abgelegt worden, inmitten von Wänden, früher bestimmt reichlich verziert, die ihm die nicht zu leugnende sakrale Aura einer Tempelanlage vermittelten.
Alles Weihevolle fehlte an diesem Platz, der einst einem Naturvolk dazu gedient haben mochte durch ekstatisches Singen, Tanzen und Trommeln im flackernden Schein hunderter Kerzen mit ihren Göttern in Kontakt zu treten.
Wesen, die dem theosophischen Verständnis der Eingeborenen entsprechend, in allem Gegenständlichen inbegriffen waren. Unendlich existierende Entitäten, die einzig in einer unbekannten Sprache angerufen werden konnten, deren Bedeutung nicht schlicht vergessen, sondern von menschlichem Verstand noch nie gewusst worden war.
Doch bei der nächsten Zeremonie, sollte es auf dieser Insel je wieder eine geben, würden die Gesänge keine Resonanz im überirdisch beseelten Dickicht finden. Wo sich einst tiefe Wälder befunden hatten, erstreckten sich nunmehr Felder von in sich verschlungenen Pflanzenleichen. Die Konturen einer gebirgigen Landschaft zeichneten sich nicht mehr an einem unergründlichen Dschungel ab. Die darin versteckten Schätze waren geraubt, die dorthin verbannten Monster unter der Wucht der mächtigen Stämme erschlagen oder verheddert im dornigem Gestrüpp verendet.
Bis hinauf zu den Spitzen der Berge und weit hinab in der Ebene verrottete die grüne Haut der Insel. Das Singen der Vögel, das Rauschen der Flüsse, sogar die Schreie, weder Mensch noch Tier zuordenbar, waren verstummt. In die Stille drang nur ein knisterndes Geräusch, so als wäre diejenige Kraft zu hören, welche die Pflanzen zersetzte, deren Bestandteile sich aber nicht mehr in den ewigen Kreislauf zwingen ließen. Aus ihnen schien nichts weiter zu entstehen, zumindest nichts Lebendiges.
Langsam regte sich Petros erschlaffter Körper. Seine Kleider waren zerfetzt, seine Schuhe verschwunden. Mühselig krallten sich seine Finger in den abbröckelnden Stein der Säule. Ein kurzer Rundblick seinerseits genügte, um zu sehen, dass dieses sonnenüberflutete Refugium, von dem viele Menschen träumen würden, er insbesondere, bis an ihr Lebensende verweilen zu dürfen, eine Ansammlung eilig zugeschütteter Massengräber war, aus denen noch Arme und Beine empor ragten.
Die ausgetrockneten Flussbette, welche die Gräben voneinander trennten, belegten anschaulich, dass die unerklärliche Dürre schon sehr lange anhalten musste, weswegen sich die Eingeborenen wahrscheinlich an einen sicheren Platz zurückgezogen hatten. Ebenso mochte sie Furcht geleitet haben, da ihre angebeteten Götter in ihren irdischen Gefäßen eine augenscheinliche Verwandlung zum Obskuren durchmachen mussten. Etwas entstieg sichtbar dem weitläufigen Friedhof und Petro, dessen Wahrnehmungsapparat sich an die groteske Umgebung anzupassen begann, fühlte, dass er sich nicht mit der rationalen Beschwichtigung vertrösten konnte, es wäre ja nur die Hitze.
Wie von einem uralten Instinkt, der über die Jahrtausende verkümmert war, nun wieder hervorbrach, sprang er, den Entschluss fassend, die Insel zu erkunden, aus der Ruine heraus, wo sich sein Fuß bald in einer Kletterpflanze verfing. Er entzog sich der Ranke, trotz ihrer Brüchigkeit unzerreißbar, und stolperte weiter durch das verdorrte Gestrüpp vor ihm. Der Sand, den er aufwirbelte, wurde vom Wind in die Leblosigkeit um ihn herum getragen. Er ließ seinen Blick schweifen, wenn auch nur, um den kleinste Blume zu entdecken, die noch wagte und darum kämpfte, zu blühen.

IV
Suchend wanderten Petros Augen im Krankenwagen umher. Die Platzwunde an seiner Stirn war verbunden worden. Manchmal blickte Petro Doktor Rada verzweifelt an, der zuerst noch meinte, Petro sei wieder bei Bewusstsein. Schnell stellte sich heraus, dass Petro Medikamentenpackungen und das Eisengestell seiner Liege mit dem gleichen flehenden Ausdruck bedachte.
Rada bemühte sich, damit keiner Untätigkeit Raum blieb, Petros Symptome in den Rahmen eines ihm bekannten Krankheitsbildes zu bringen. Als der Krankenwagen nach langer Fahrt vor dem Hospital hielt, war er immer noch zu keiner befriedigenden Schlussfolgerung gekommen.
Kaum erinnerte er sich eines Falles, der diesem ähnelte, musste er seine Überlegungen wiederum verwerfen, da Petros Zustand sich einfach gegenüber allem widersprach, was er gelernt und bislang in seiner Praxis beobachtet hatte. Er gab trotzdem die Wiederbelebungsversuche von Petros Geist nicht auf. Er musste sie nur häufig wegen der Untersuchungen auf den verschiedenen Stationen des Krankenhauses unterbrechen.
Auch die Neurologen, Psychiater und andere Fachärzte im Krankenhaus fanden weder eine Erklärung, die schlüssig war, noch einen Weg, Petro wiederzuerwecken. Ihre Ahnungslosigkeit hinderte die Ärzte keineswegs daran, ihre Chance zu erkennen als Entdecker einer neuen Krankheit berühmt zu werden. Nach heftigen Diskussionen, welcher Abteilung der Patient nun zur Beobachtung zugeteilt werden sollte, brachte man Petro in die Psychiatrie.
Dort nun verordnete der Oberarzt, um irgendetwas zu verordnen, Vergrößerung und Verkleinerung der Pupillen zu messen. Dazu legte man Diagramme an und tabellierte außerdem die Anzahl der Augenbewegungen nach links, rechts, oben und unten.
Nach mehreren Stunden wurde Petro in ein Bett der psychiatrischen Abteilung des Krankenhauses gelegt. Rada ließ sich heute in seiner Praxis vertreten. Er hatte gleichzeitig dafür gesorgt, dass Petro ein Einzelzimmer erhielt. Er kannte seine Affinität für die Einsamkeit, welche Petro dann und wann mit Rada bei ihren Konversationen teilte. Mit der Rekapitulation dieser Gespräche versuchte er zu ihm durchzudringen, ohne Erfolg.
Seit einer unvorhergesehenen Entspannung der Muskeln bei seiner Ankunft hatte es keine besonderen Vorkommnisse mehr gegeben. Zusammen mit Petros Eltern, die so schnell es ihnen möglich war, eintrafen, setzte er sich an das Krankenbett zu Petro, dessen Augen sich – vorläufig entspannt – nicht von der Decke abwendeten.

V
Das Schimmern des hinein- und herausschwappenden Meereswassers tauchte die Höhlenwände um Petro in grünes, von hellem Glitzern durchsetztes Leuchten. Die übermäßige Anstrengung der Wanderung war ihm hier an diesem Ort eine völlig fremde Empfindung. Zufällig hatte er eine Stelle des Urwaldes entdeckt, die an einer Klippe ins Meer hinausragte. Darunter verbarg sich ein Labyrinth, das bei Flut nicht zu sehen war.
Er ruhte sich an einem flachen Felsen vor dem Eingang zu den weitverzweigten Gängen aus. Auf eine seltsame Art zufrieden dachte er über sein Schicksal nach, welches ihm mehr und mehr zusagte. Durch außergewöhnliche Umstände, deren Ursprung und Zweck er sich nicht begreiflich machen konnte, hatte er einen einzigartigen Ruheort gefunden. Allem Unerfreulichen hatte er sich hierdurch entzogen, wie dem Hohn seines Professors und der Gesellschaft von Menschen, die ihn nur gering schätzten. Ihrem missgünstigen Blick und ihrem spöttischen Urteil war er nicht mehr länger ausgesetzt.
Nach einem theatralischen Zusammenbruch, ließ er ihnen allen seinen Körper da, der sowieso immer nur Anlässe für Witzeleien gab. Über jenen sollten sie nun lachen so oft sie wollten. Sie brauchten es nicht einmal mehr hinterrücks zu tun. Dieser Ansammlung von Gewebe, die nur dafür geschaffen worden war, Schmerz zu empfinden, hatte er sich zu seinem Glück entledigt.
Nie wieder musste er sich gegen andere verteidigen, nie wieder seinen Standpunkt vertreten, den er in einem Streitgespräch meist wegen seiner großen Selbstzweifel sowieso gleich wieder aufgab. Keinen Referaten oder mündlichen Prüfungen würde er nervös entgegenfiebern, ja sich gar davor fürchten, da ihn der kritische Blick anderer verstörte. Kurzweilig überkam ihn die Sicherheit, konkret erreicht zu haben, wovon er besonders in letzter Zeit öfter zusammenhanglose Eingebungen hatte. Gedankenblitze, die in seine Seele vereinzelt einschlugen, bis sich schließlich der donnernde Schlag an der Tafel ereignete, der ihn hierher versetzt hatte. In diesem Moment vergaß er alles um sich herum. Häufig zogen jene Augenblicke aber eine peinliche Desorientiertheit nach sich, welche scharfzüngigen Bemerkungen von Petros Mitmensche Anlass gab, die ihn gnadenlos verfolgten.
Petro behielt diese und andere Kleinigkeiten, die er nicht verdrängen konnte, als innere Narben. Eine simple Assoziation und schon rissen die kaum verheilten Wunden auf. So durchlebte Petro die ihm verhassten Szenen der Peinlichkeit nochmals, sein Gesicht krampfhaft verzerrend, seine Fingernägel in seine Handfläche drückend. Der Tag, als er in der Volksschule von seiner Lehrerin vor allen anderen bei einer Lüge ertappt wurde, war derart in seine Erinnerung eingebrannt. Ebenso die eine Straßenfahrt, bei der ihn ein Mädchen nach der Zeit fragte, er vor lauter Überspanntheit die Uhr aber nicht mehr richtig lesen konnte.
Die einzige Linderung, die für ihn bisher großteils ungenutzt in Aussicht stand, war es, jemanden davon zu erzählen, mit dem er ohne Herzrasen, ausgetrocknetem Mund und schweißnassen Händen zu reden vermochte. Seine Eltern und sein einziger Freund waren aber nicht hier, was allen Frohsinn vernichtete und die altbekannte Niedergeschlagenheit über seine Unfähigkeit zur Kommunikation mit sich brachte. Er hätte nun doch gerne jemanden von ihnen bei sich gehabt. Die Erfüllung jenes Wunsches geschah unverzüglich: Doktor Rada saß Petro mit einem Mal gegenüber.
Ohne überrascht zu sein, malte sich Petro die ersten Worte aus, die er zu Rada sprechen würde, aber aus ihnen wollte sich kein Satz formen. Was Petro hervorzubringen versuchte, war sich wiederholendes kehliges Gekrächze, während Rada sich im klarsten Redefluss über Petros undeutliche Sprechweise beschwerte.
Hitze stieg in Petros Wangen, Rada sollte sein Erröten nicht bemerken und so wollte er sich abwenden, schaffte es aber nicht, da Rada Petro plötzlich verblüffend genau nachahmte. Petro erstarrte. Er strengte sich an, so zu tun, als könnte er über sich selbst lachen, doch Radas Antwort war eine noch überzeugendere Imitation. Rada reflektierte die gekünstelte Selbstironie wie ein Spiegel. Petro war erschlagen von seiner eigenen Stimme, die er selbst für extrem lächerlich erachtete, weil das unabsichtliche Umschlagen von tiefer zu hoher Tonlage, seine hoffnungslos missglückten Witze und seine skurrilen Versprecher von anderen ständig nachgeäfft wurden. In Petros Gesicht breitete sich ein unaufhaltbares Glühen aus, das auf die Höhlenwände überging und sie kaminrot bestrahlte. Er konnte es nicht mehr länger kaschieren, das zunehmende Unbehagen verwandelte sich in Panik, die umso schlimmer war aufgrund des neu eintretenden Verlustes seiner Bewegungsfähigkeit.
An Ort und Stelle festgebannt sah Petro den Mund Radas, der sich öffnete, immer weiter und weiter zu einem mächtigen Schlund, bis schließlich daraus, mit einem Echo, wie aus den feuchten, im Erdinneren liegenden Gedärmen der Inselleiche herausdringend, das infernalische Kichern wieder schrecklich anhob.

VI
Das permanente Blinzeln von Petros Lidern machte Rada aufmerksam. Er dachte, es würde nicht schaden, Petro nach draußen zu bringen. Nach einem Streit mit dem Oberarzt, der von Anfang an widerstrebend einen anderen Mediziner zu seinem Patienten gelassen hatte, wurde Petro in einen Rollstuhl gesetzt und in den Innenhof des Krankenhauses geschoben.
Petros Eltern begleiteten ihn. Sie versuchten sich mit ihrem Sohn zu verständigen, erwähnten beiläufig, dass sie in den vorangegangenen Monaten in einer immer gravierender werdenden Geistesabwesenheit angetroffen hätten und konnten nicht umhin die Absonderlichkeit diverser Charakterzüge ihres Sohnes herauszustreichen. Seiner Umgebung begegnete er mit Gleichgültigkeit, er schien nur noch auf sich selbst fixiert. Sein eigenes Denken und Fühlen blieb unverändert der Brennpunkt seiner Konzentration.
Rada erinnerte sich ebenfalls Beobachtungen gemacht zu haben, die seine Ansicht über einen inneren Konflikt Petros bestärkten. Jener, so meinte Rada, lag darin, dass er es zwar liebte alleine zu bleiben, sich vom Zusammensein mit anderen Menschen, denen er vertraute und die ihn nicht einengten, nie lösen konnte. Seine Eltern und Rada selbst zählten zu den wenigen Menschen, denen sich Petro offenbaren wollte, es aber nie zuwege brachte. Sie standen bedingungslos zu ihm. Längere Trennungszeiten von ihnen überstand er nur schwer, in Zuständen arger Melancholie, die ihn alles daran setzen ließ, zu ihnen zu finden, um sich auf nächster Nähe wiederum zu distanzieren.
Zu den meisten seiner Altersgenossen fand er überhaupt keinen Anschluss. Für ihn waren sie ausnahmslos Rivalen. Er hatte sich angewöhnt, sich mit ihnen zu messen, auf unvorteilhafte Weise. So kam es mit der Zeit schon so weit, dass er jedes Wort, welches er mit jemandem wechselte, bewertete und sich für jedes Stottern, jeden undeutlich gesprochenen Satz oder jede missglückte Formulierung selbst geißelte.
An solchen Tagen vermochte Rada seinem Schützling Beistand zu geben, doch nun war das einzige, was er tun konnte, Petro wieder nach drinnen zu bringen. An diesem Tag hielten sich nämlich ungewöhnlich viele Besucher im Innenhof auf. Als Rada Petro an den Herumstehenden und Spazierenden vorbeimanövrierte, wurden sie sichtlich aufmerksam und vergaßen die gebotene Höflichkeit. Sie starrten unverhohlen auf diesen Patienten, von seinem Zustand fasziniert, bis Petro ein Zucken durchfuhr, welches ihn aus dem Rollstuhl warf.

VII
Petro taumelte aus der Höhle. Erneut war er davongelaufen, unerträgliche Scham überkam ihn. Bestimmt hatte er wie sonst auch eine Gelegenheit verpasst, die alles zum Besseren hätte wenden können. Unaufmerksam wegen einer Retrospektive vergebener Chancen, die ihn von Krämpfen geschüttelt umherstolpern ließ, wurden seine nackten Füße von einer Welle der heranströmenden Flut leicht gestreift, was seine Sohlen und seine Waden bis zu den Knochen aufschürfte. Petro knickte ein, wobei er gezwungen wurde sich mit seiner Hand auf der zurückgehenden Woge abzustützen. Es zog die Haut auf Petros Handfläche mit sich.
Den Schmerz noch nicht in seiner Gesamtheit spürend, stürzte er um den Felsen und weiter weg vom Strand. Inmitten von herabgefallenen Palmwedeln, in denen ein Rascheln anhob, brach er zusammen. Etwas Lebendiges vermutend griff er achtlos mit seiner verletzten Hand in das Gestrüpp. Darunter spürte er nichts.
Er wollte seine Hand von den Zweigen zurückziehen, jedoch hing er an ihnen fest. Sein Handgelenk kam nicht frei, eine Ranke schien sich sogar immer fester darum zu schließen. Er zog stärker, nahm seine zweite Hand zu Hilfe und glaubte, sich von dem Geäst gelöst zu haben. Es hatte nur kurz nachgegeben, sodass er auf seinen Rücken in einen Haufen faseriger Lianen fiel und einsank. Beginnend an den offenen Stellen seines Körpers drang es nun unter seine Haut.
Tote Zweige sprossen von seiner Hauptschlagader aus in seine Blutbahnen. Wie abgestorbene Äste färbten sich seine Gefäße, wie zu verwelkten Blättern trocknete seine Haut aus. Petro schrie gegen das innere Absterben seines Körpers an, er wand sich auf dem Boden, doch bewegte er sich kaum von der Stelle. Bei jeder Regung knisterte und brach seine Haut, unter der Holz wuchs, das sich gleich wieder zersetzte. Seine zu Krallen verkrampften Hände gruben sich in den Sand.
In seine Wangen stießen die braunen Adern weiter vor, welche sein Gesicht mit Pilzen überzogen. In die Kapillaren seiner Augen gelangten die hölzernen Gefäße zuletzt. Seine Augäpfel begannen zu schimmeln.

VIII
Das seltsame Lebenszeichen hatte sich nicht wiederholt. Im Gegenteil, die Kurven der Diagramme und die Werte der Tabellen erreichten einen konstanten Nullwert. Doktor Rada schickte Petros Eltern nach Hause, er würde bei ihm bleiben.
Er musste die Ursache von Petros Krankheit ergründen. Er resignierte nicht, auch wenn die Stunden vergingen und die Nacht begann. Im Dunkeln saß Rada bei Petros Bett, nur das Licht vom Gang schien herein. Petros Lider hatten sich längst geschlossen. Umso überraschter war Rada, als Petro ihm die Hand entgegen streckte. Da es sehr spät und Rada allein war, wollte er die Lebenszeichen überprüfen. Routiniert drückte er seinen Daumen auf das Handgelenk. Er wich zurück, Fliegen stoben davon und Käfer brummten unter seinem Finger.
Was die Insekten in diese sterile Umgebung lockte, wollte er nicht wahrhaben. Er berührte das andere Handgelenk: kein Puls. Er berührte die Halsschlagader: auch kein Puls. Die Haut schuppte ab, Teile des spröde gewordenen Überzugs blieben an seiner Handfläche kleben. Er betätigte den Lichtschalter über dem Bett, um sich genauer anzusehen, was in der Finsternis geschehen war. Im Flackern der Neonröhre sah er die geöffneten Augen Petros.
Sie waren schwarz und leer, genau wie sein Mund, in dem sich früher seine Zunge befunden hatte. Wider besseren Wissens musste die Verwesung an Petro genagt haben und das bereits seit Wochen. Maden waren längst aus abgelegten Fliegeneiern geschlüpft und hatten sich durch das Fleisch gefressen. Von innen heraus trieben Bakterien den Zerfall voran, dessen Geruch zu Radas Nase hinaufdrang.
Rada wendete sich ab, sein Herzschlag erhöhte sich, Ekel überkam den erfahrenen Mediziner. Es kostete ihn große Anstrengung, das Gefühl der Übelkeit zu unterdrücken. Rada legte seine Hand über Nase und Mund, während Petro hinter ihm von der Wärme des pulsierenden Lebens geweckt wurde.
Petro durchfuhren nie erlebte Qualen. Jucken, das bis in das Mark seiner Knochen drang, Brennen auf seiner Haut, das sich bei jedem darüber wehenden Luftzug wie Flammen anfühlte, und ein Stechen als wäre er nahezu überall von spitzen Stöcken durchbohrt.
Aus jener Tortur erwuchs die triebhafte Kenntnis, das jenes Wesen vor ihm, den allumfassenden Schmerz lindern würde. Petro überkam der Zwang es zu berühren. Von hinten packte er den Hals Radas und schloss seinen steifen Griff. Dann steigerte sich sein Verlangen. Er zog ihn zu sich. Petro wollte jenes Leben mit allen Mitteln in sich aufnehmen.

IX

Das Letzte, was der Arzt spürte, war der feine Sand eines Meeresstrandes auf seinem Nacken, bevor aus der Stelle, an der ihn Petro biss, weißer Nebel entstieg, der erhellt war von intensiver werdendem hypnotischem Glanz.

Anfang des Sommers habe ich die Rohfassung dieses Textes geschrieben und konnte danach aufgrund widriger Umstände
(=Pflichtheer) nicht kontinuierlich daran weiterarbeiten. Die vielen unnötigen Unterbrechungen (Truppenübung, Erkrankung, Lustlosigkeit, ...) haben dazu geführt, dass ich den Text mit zu vielen Ideen angereichert habe. Zu Beginn war der Text eigentlich noch eine reine Zombie-Geschichte beeinflusst von Voodoo-Mystik. Daher stammen auch der Trommelrythmus, der verfallene Tempel, die Säule, die Namen der beiden Hauptfiguren, etc .

Die Szene am Bootssteg habe ich später eingefügt, genauso wie Petros Gedanken in der Höhle. Und so habe ich an anderen Stellen Überarbeitungen vorgenommen, bis ich die jetzige Fassung, welche mehrere Unzulänglichkeiten enthält, hier veröffentlicht habe.

Verbesserungsvorschläge und Kritikpunkte, die ich bis jetzt erhalten habe, werde ich auf jeden Fall bei einer grundlegenden Überarbeitung des Textes in meine Arbeit miteinbeziehen. Nur möchte ich etwas Distanz zu Wildnis gewinnen, um mich ganz darauf konzentrieren zu können.
Markus Grundtner, Anmerkung zur Geschichte

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Markus Grundtner).
Der Beitrag wurde von Markus Grundtner auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.09.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Markus Grundtner als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Du und ich - Gedichte mitten aus dem Leben von Marion Neuhauß



In einer Reise durch die Empfindungen des Lebens erzählen die Gedichte von der Dankbarkeit, vom Lachen, aber auch von der Traurigkeit, von unbedachten Worten und anschließender Versöhnung.
Gemeinsam schöne Momente genießen und schwierige Momente bewältigen.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Horror" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Markus Grundtner

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Die Stadt des Blutes von Markus Grundtner (Horror)
Ein ganz normaler Schultag... von Carrie Winter (Horror)
Meine Straße von Monika Klemmstein (Besinnliches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen