Anna Heinichen

Der Lieblingsduft - Teil 1

Pflegerin im Hospiz: „Wir stellen den Patienten gern ein duftendes Öl ins Zimmer, um die Atmosphäre angenehmer zu gestalten. Wissen Sie vielleicht, was die alte Dame am liebsten mag? Hat sie einen Lieblingsduft? Vielleicht der Duft von Rosen? Das haben wir oft.“

Junge Frau: „Ich weiß nicht. Vielleicht.“

Pflegerin: „Wie wäre es mit Zitrone? Wirkt aufmunternd. Oder Melisse? Die beruhigt. Oder etwas Blumiges. Wir können auch Öle mischen.“

Junge Frau: „Ich sage doch, ich weiß es nicht. Im Grunde kenne ich die alte Dame doch gar nicht.“

„Ich dachte nur, weil Sie eben bei ihr waren.“

„Mein Großvater lag in diesem Zimmer, aber er ist vor zwei Wochen gestorben. Für ihn gab es keinen schöneren Geruch als den Duft von frisch geschlagenem Holz. Da bin ich mir sicher. Er war meine Familie. Jetzt weiß ich nicht, wie es weitergeht.“

„Entschuldigen Sie bitte. Ich habe Sie nicht erkannt. Wir haben so viele Patienten.“

„Ich wollte nur noch einmal in dieses Zimmer. Mich verabschieden. Dann lag da diese alte Dame. Sie schlief und sah so friedlich aus. Also habe ich mich an ihr Bett gesetzt. Das war irgendwie beruhigend.“

„Verstehe. Leider wird sie nur noch sehr selten wach, sie ist ja auch schon 96. Lange wird der Tod sicher nicht mehr auf sich warten lassen. Besuch bekommt sie keinen. Das Altersheim, in dem sie bisher wohnte, hat keine Adressen von Verwandten oder Freunden. Sehr traurig. Deshalb hatte ich gehofft, als ich Sie sah, dass…“

„Es tut mir leid. Ich wollte keine Verwirrung stiften. Sie stirbt und niemand kommt, um nach ihr zu sehen?“

„Niemand.“

„Das ist furchtbar. Bitte lassen Sie mich die alte Dame besuchen. Ich werde mich nur an das Bett setzen und ihr etwas die Hand halten. Und ich denke, Rose ist ein schöner Duft.“

„Das ist sehr nett von Ihnen. Sie müssen mir dieses Formular ausfüllen. Name, Adresse, Telefonnummer. Damit wir wissen, wer Sie sind. Reine Formsache, falls doch mal jemand fragt.“

Mit dem Formular in der Hand geht die junge Frau in das Krankenzimmer. Das schneeweiße schulterlange Haar der alten Dame ist frisch gewaschen und zum Mittelscheitel gleichmäßig nach links und rechts gekämmt. Die Augen sind geschlossen, der Mund leicht geöffnet. Ganz ruhig liegt sie da. Behutsam streicht die junge Frau mit der linken Hand über das noch etwas feuchte Haar und setzt sich auf die Bettkante. Sie greift nach der rechten Hand der alten Dame. Sie ist ganz zart, weich und warm. Unzählige braune Pigment-Flecken in verschiedenen Größen verraten ihr hohes Alter. Ebenso wie die Adern, die sich blau und dick unter der blassen Haut emporheben, die schon lange jegliche Spannkraft verloren hat. Die Fingernägel sind gepflegt, aber recht kurz gefeilt. Eine schöne alte Hand.

„Wer sie wohl ist?“, denkt die junge Frau. Das alte Gesicht wirkt freundlich. Viele Lachfalten um Augen und Mund lassen ein fröhliches Leben erahnen. „Sie sieht zufrieden aus. Bestimmt hat sie viel Gutes getan. Ganz sicher ist sie um die Welt gereist und hat sich um Menschen gekümmert, die Hilfe brauchten. Vielleicht in Afrika. Dort hungern doch so viele Kinder. Deshalb kommt sie auch niemand besuchen, weil sie keine Zeit hatte, Freunde zu finden und eine Familie zu gründen. Nein, anders. Sie ist eine Weltenbummlerin. Nie lange an einem Ort. Rom, Madrid, New York, Rio, Moskau, Tokio. Überall war sie. Eine Dame von Welt, die mehr gesehen hat als jeder andere. Eine Lebenskünstlerin. Wunderschön. Intelligent. Beneidenswert. Deshalb lässt sie nun die Augen zu und sagt kein Wort mehr. Sie hat genug gesehen und geredet.“

Völlig in sich versunken drückt die junge Frau die Hand der alten Dame immer fester, bis diese im Schlaf leise aufstöhnt. „Ich will auch was erleben. Ein Abenteuer. Das wäre mal was. Einfach los und verschwinden. Egal wohin. Erstmal mit dem Auto, bis der Tank leer ist. Weiter mit dem Zug. Oder zu Fuß. Ich bleibe, wo es mir gefällt. Einfach nur frei sein. Schließlich bin ich doch erst 25. Was habe ich denn bisher gesehen von der Schönheit und Weite dieser Welt? Opas Garten. Der ist schön. Aber weit? Nein.“

Ruhelos wandern ihre Augen über das Gesicht der alten Dame. „Na los, wachen Sie auf.“ Fest presst sie ihre Lippen aufeinander, atmet flach und hektisch, wie nach einem Hundert-Meter-Sprint. „Wachen Sie doch auf. Sie sind nicht mehr allein.“ Die Augen der alten Dame bleiben geschlossen. Unverändert liegt sie da. Friedlich. Freundlich. Stumm.

„Vielleicht bleibe ich doch lieber hier“, denkt die junge Frau. „Heirate einen netten jungen Mann. Bekomme Kinder. Habe Freunde, die mich und meinen Lieblingsduft kennen und mich nicht allein sterben lassen.“ Sie beugt ihren Oberkörper vor, bis sie mit ihren Lippen das Ohr der alten Dame erreicht hat: „Was meinen Sie, was ich tun soll? “, flüstert sie. Gleichmäßig und ruhig atmet die alte Dame ein und wieder aus. Die junge Frau lächelt und flüstert erneut: „Mein Name ist Veronika. Und mein Lieblingsduft ist der Geruch von Regen nach einem heißen Sommertag.“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.08.2020. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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