Robert Berndt

Schlafes Bruder

Komm... es ist Zeit für uns, zu gehen.

-Jetzt schon?

Ja.

-Warum?

Willst Du es wirklich wissen?

-... Ich glaube nicht.

Gut.

-... Kann ich Dir Fragen stellen?

Nur zu.

-Gibt es keine Möglichkeit, es hinauszuzögern?

Nein.

-Wirklich nicht?

Willst Du es denn so unbedingt?

-Ja!

Wozu?

-Ich will die, die ich liebe, noch einmal sehen, auf Wiedersehen sagen...

Und den Schmerz vergrößern, Deinen wie ihren?

-Aber...

Warum sorgst Du Dich um die, die zurückgeblieben sind? Auch sie werden eines Tages hier bei mir sein. Das Leben ist wie ein Traum, aus dem Du jetzt erwacht bist.

-Dann war alles, was ich bisher geglaubt und gefühlt habe, eine Lüge?

Hier gibt es weder Lügen noch Wahrheit. Nur das, was ist, und das, was war, vereinigt zu einem Ganzen, das nicht mehr getrennt werden kann. So sehe ich Dich, so ist und war Deine Wirklichkeit als Mensch. Die Wahrheit bist Du selbst, Du könntest nicht lügen, selbst wenn Du wolltest. Genausowenig, wie ich es vermag.

-Du kannst mich nicht anlügen?

Nein. Wozu auch? Es würde keinen Zweck erfüllen, Dein eigenes Denken ist Dein Schutz. Auch wenn ich auf alle Deine Fragen ausführlich antworten würde, wärest Du nicht immer im Stande, diese Antworten aufzunehmen, geschweige denn zu verstehen.

-Habe ich denn soviel Zeit, dass ich Dir alle meine Fragen stellen kann, alle, die ich mir jemals ausgedacht habe?

Jeder hat soviel Zeit, wie er benötigt, nicht mehr und nicht weniger.

-Und was kommt danach?

Das weiß ich nicht.

-Wie? Ich dachte, Du weißt alles?

Das ist die einzige Erfahrung, die mir für immer verwehrt bleiben wird. Außerdem könnte ich mir vorstellen, dass jeder sie anders empfindet.

-Also kannst Du auch nicht in die Zukunft sehen?

Es ist nicht notwendig. Jeder, der hierher kommt, hat das Seine getan. Er ist fertig. In seiner Zukunft liegen nur noch seine Fragen und das, was danach kommt. Aber dafür bin ich nicht zuständig.

-Stellt jeder Fragen?

Nein. Jedenfalls nicht in dem Maße wie Menschen, obwohl es auch bei ihnen natürlich Unterschiede gibt.

-Stellen Kinder auch Fragen?

Sie stellen die allermeisten, denn es gibt so vieles, das sie noch nicht wissen. Ihr Vorrat ist beinahe unerschöpflich.

-Aber es gehen doch Tausende in jeder Sekunde Fort. Wie kannst Du da so ausführlich antworten?

Niemand kommt oder geht zu genau der gleichen Zeit. Es ist immer ein Abstand dazwischen, so kurz er auch sein mag. Dieser winzige Augenblick kann sich hier bis in alle Ewigkeit dehnen, denn Zeit und Raum sind hier nicht sehr klar umrissen.

-Wo ist “hier“ eigentlich?

Schwer zu sagen, in der Sprache der Menschen. Auch würdest Du es nicht vollständig verstehen. Sagen wir einfach, “hier“ ist der Äther, der Limbus zwischen den Welten.

-Der Weltraum?

Nein. Sonst würdest Du ja etwas sehen.

-Aber ich bin doch...

Das spielt keine Rolle. Du würdest etwas sehen, begnüge Dich damit. Es ist nicht der räumliche, aber auch nicht der zeitliche Abstand zwischen den Welten. Es ist das Nichts zwischen den Ebenen.

-Dann gibt es also Paralleluniversen und Inkarnation und Außerirdische?

Selbstverständlich.

-Selbstverständlich?! Wenn jemand bei uns so etwas glaubt, gilt er als Träumer, Phantast, Weltfremder, Spinner, und jetzt soll es auch noch wahr sein?!

Es gibt hier keine Wahrheit. Nur das, was ist. Warum erregst Du Dich so sehr darüber? Es gibt so Vieles, was unglaublich erscheint, aber das Universum mit seiner unendlichen Zahl an Möglichkeiten bietet alles.

-Dann existiert alles, was der menschliche Geist sich jemals ausgedacht hat?

Ja. Alle Gedanken und Vorstellungen, alle Bücher, die je geschrieben wurden, mit all ihren Geschichten, und noch viel mehr, das alles ist real, irgendwo, irgendwann.

-Das...ist schwer zu schlucken. Demnach gibt es auch so etwas wie...Zauberei?

Ja. Jedenfalls ist das die Antwort für Dich. Es gibt unendlich viele Antworten, je nachdem für welche Ebene und wie weit der Fragesteller schon ist. Hättest Du diese Frage gleich am Anfang gestellt, hätte ich mit “Nein“ geantwortet.

-Aber dann hättest Du gelogen!

Nein. Für Deinen Wissensstand wäre es die richtige Antwort gewesen. Auf Deiner Ebene und in Deiner Zeit gibt es nichts, was Du als Zauberei bezeichnest.

-Das ist so...phantastisch. Verwirrend. Ebenen, Zauberei...alles existiert...

Geh vorsichtig mit solchen Worten um. “Zauberei“ ist kein feststehender Begriff. Auch Technik ist, in gewissem Sinne, eine Art Zauberei.

-Aber sie beruht auf Gesetzen, die überall gelten. Wir können sie kontrollieren, wissen, wie sie funktioniert...

Tut ihr das wirklich?

-Naja...

Überlege Dir Deine Argumente besser. Hier hast Du die Zeit dazu.

-Aber wenn die Zeit gerade dann abgelaufen ist, wenn ich mitten in einem Gedankengang bin?

Vergiss diese Angst. Du hast soviel Zeit, wie Du brauchst, um bereit zu sein.

-Bereit wofür?

Um zu gehen.

-Aber ich bin doch schon gegangen! Mein Körper ist fort, ich bin nur noch Gedanke oder Seele oder irgendetwas...Und ich habe Angst!

Jeder hat sie in mehr oder weniger großem Ausmaß. Selbst Neugier ist eine Art von Angst.

-Neugier?

Ja. Es kam einmal jemand hierher...

-Ich dachte, hier gibt es keine Zeit?

Es gibt keine Zeit, aber eine bestimmte Reihenfolge.

-Aha?

Du bist zu Deiner ganz eigenen Zeit gekommen, nicht zu der Deines Vorgängers, nicht zu der Deines Nachfolgers, sondern genau zu Deiner Zeit.

-Ich verstehe...oder versuche es zumindest...Wer kam also einmal hierher?

Eine recht junge Seele. Sie erzählte mir, dass sie sich immer vor dem Gehen gefürchtet hatte, nicht aber vor mir. Sie wollte unglaublich viel wissen, und seltsamerweise war ich der Hauptgegenstand ihres Interesses. Auf ihre Weise war sie die außergewöhnlichste Seele, die mir je begegnet ist, aber auch die quälendste, denn ich konnte ihre Fragen immer nur unzureichend beantworten.

-Warum?

Weil der menschliche Geist nicht für alle Antworten geschaffen ist. Er versteht sie einfach nicht.

-Was fragte sie denn zum Beispiel?

Woher ich komme.

-Und woher kommst Du?

Ich war schon immer hier.

-Aber Du musst doch irgendwann einmal angefangen haben zu existieren...und auch irgendwann einmal aufhören?

Nein. Ich war schon immer hier und werde immer hier sein. Ich bin niemandes Vater, Mutter, Sohn oder Tochter.

-Und wer bist Du dann?

Schlafes Bruder.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.09.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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