Rainer Loewe

Trennung

Gestern war R. bei seinem kranken Sohn gewesen - in seiner alten Wohnung. Er hatte den Kleinen wie vereinbart am Nachmittag abholen wollen von seiner Ex in der Hoffnung, er sei wieder gesund, aber als sie aus der Wohnung zu ihm ans Auto kam, wusste er schon, was los war. „Er ist krank. Ich möchte ihn nicht aus der Wohnung lassen. Du kannst ihn ja besuchen“. So, sein eigenes Kind durfte er „besuchen“ - na ja, so war sie eben. Sie schien wirklich keine Ahnung zu haben von den gefühlsmäßigen Bindungen zwischen Vater und Sohn - als seien sie zwei Fremde, die sich - notgedrungen - gegenseitig sehen. Es hätte ihn wirklich einmal interessiert, was in ihr eigentlich vorging. Sie schien sich im Kopf ein bestimmtes, recht einfaches Bild zu basteln und schloss davon alles, was nicht richtig hineinpasste, einfach aus. Aber so war sie ja schon früher gewesen. Sie zu korrigieren war sinnlos; wie oft hatte er es versucht, als er noch um sie kämpfte. Wie oft hatte er ihr z. B. gesagt, dass nicht sie beide sich getrennt hatten, sondern sie sich von ihm - aber was hatte das genützt? Nur Wut und Verzweiflung wegen dieser starren Haltung, diesem blinden Beharren auf der eigenen Meinung!

Er war die enge Holztreppe hinaufgegangen und zu L. gegangen. Er saß - wie so oft - vor dem Fernseher und sah wirklich leidend aus. Der Bauch tat ihm weh. Er nahm ihn in den Arm, und gemeinsam sahen sie sich Comics an. Ab und zu streichelte er seinem Sohn den Bauch. Beide fühlten sich sehr wohl: Der Kleine legte den Kopf an die Brust seines Vaters, sein Vater legte die Arme um ihn. Das war es, was er so oft entsetzlich vermisst hatte und auch heute noch oft vermisste - diese zärtliche Vertrautheit. Mit Frauen konnte er das nicht erleben, dazu war er zu zerstört von der Beziehung mit seiner Ex. Bei Frauen war Spaß, Neckerei, Sex angesagt, aber keine großartige Zärtlichkeit, keine tiefen Gefühle.

Seine Ex war nicht dabei; sie räumte wohl auf oder telefonierte, denn sie hatte die Türe zugemacht (Mein Gott, wie hatte sie ihn damals noch angefahren, weil er mal die Türe zugemacht hatte, um mit seinem Sohn im Wohnzimmer zu spielen!). An einer Pin-Wand hing das Foto eines Mannes: jünger als er, leicht zur Fülligkeit neigend. Gefragt, ob das Mamas Freund sein, sagte der Kleine nur: „Ja“. Komisch, er fühlte keine Eifersucht, kein sich schmerzhaftes Ausmalen, wie sie es trieben in „seiner“ Wohnung. Er wusste, dass sie ihren Spaß haben würden - aber es machte ihm nichts mehr aus - einfach uninteressant. Nach einer Stunde kam sie ins Wohnzimmer, entschlossen, und meinte: „Du hast genug ferngesehen. Macht doch etwas anderes.“ Na ja, so gingen Vater und Sohn eben ins Kinderzimmer und spielten mit Legobausteinen. Es machte auch irgendwie Spaß, diese Plastikklötzchen zusammenzufügen, egal, was entstand. Stolz zeigte der Kleine sein Gebautes. Dann fragte er plötzlich seinen Vater: „Warum bist du eigentlich gekommen? Die Mama liebt dich doch nicht mehr.“ Sein Vater hatte ihm irgend wann einmal gesagt, wenn seine Mutti ihn wieder liebe, würde er wieder oft kommen. R. erklärte ihm, er sei gekommen, weil L. nicht gesund sei, und wollte wissen, ob er gewünscht habe, dass er käme. L. sagte ohne zu zögern ja. Seinen Vater freute das sehr. Wie hatte ihm seine Ex doch noch vor einigen Monaten gesagt? „Es wäre schön, wenn du kommen würdest und L. zu Bett bringen und aufpassen könntest, wenn ich krank bin. Du bist ja der Papa. Wenn er krank ist, brauchst du nicht zu kommen, dann bin ich ja da.“ Was hatte er sich da aufgeregt wegen dieser Einstellung, die für ihn absolut falsch war - und nicht nur für ihn, wie er aus Gesprächen mit anderen erfahren hatte. Ab und zu kam seine Ex herein, räumte auf, brachte etwas - und er sah sie sich recht genau an. War das noch die Frau, die er geliebt hatte? Dieser leicht füllige Mensch mit den etwas dicken Oberschenkeln, diesem recht verwahrlosten Gesicht, diesem herrischen Ton, auch gegenüber dem Kind? Plötzlich merkte er es. Es war wie das Reißen eines Knotens, das endgültige Fallen, das schlagartige Klarwerden über eine Sache. Es war aus zwischen ihnen, es gab keine Gemeinsamkeit mehr zwischen ihnen außer dem Kind, keinerlei Gefühle mehr von ihm ihr gegenüber, weder Sehnsucht, Hoffnung, Trauer, Hass oder Ähnliches: einfach gar nichts mehr. Es traf ihn wie ein Schock, dann wie eine Befreiung. Endlich war er frei, ganz frei! Sein kleiner Sohn war ja auch schon „groß“ mit seinen beinahe 6 Jahren. Es gab nicht mehr diese hilflosen traurigen Blicke, diese Sehnsucht nach seinem Papa, dieses Nichtverstehen, das seinen Vater so oft zum Weinen gebracht hatte in seinem Zimmer - auch der Kleine hatte sich irgendwie arrangiert, vielleicht sogar noch besser als sein Vater, der so viel Zeit damit verschwendet hatte, über die Vergangenheit zu grübeln. Auch die Geschichte mit der ehemaligen gemeinsamen Wohnung war ihm nicht mehr wichtig; klar, er hatte damals mit seinem Freund den Teppichboden verlegt, aber was sollte es? Am späten Nachmittag ging er wieder. Er fühlte sich frei, aber dann auch wieder sehr einsam. In Gedanken hatte er sich ja insgeheim immer noch vorgestellt, wieder mit den beiden eine richtige Familie zu haben, und das hatte ihn bei allem Alleinsein vor der Einsamkeit geschützt. Diese Illusion war jetzt geplatzt. Er würde in nächster Zeit mehr mit anderen Leuten machen müssen!

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.09.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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