Wilhelm Pfeistlinger

TRÄUMER



Er war kein besonderer Mensch. Er hatte eine besondere Gabe. Diese besondere Gabe musste er suchen, finden und nehmen. Es gab diese Gabe. Sie war ihm gegeben worden. Sie war seine Gabe. Das wusste er.

Er stand im kahlen Raum. Er blickte um sich. Viele Menschen standen um ihn herum. Etliche Frauen lagen an seiner Seite. Kinder liefen kreuz und quer durch den Raum, kamen manchmal ganz nah an ihn heran und schrieen dann und weinten. Die Grenzen des kahlen Raumes deckten sich mit dem weißen Horizont.

Er ging los. Einige der Gestalten bewegten sich mit ihm, andere blieben an ihren Plätzen zurück, viele bewegten sich in die entgegengesetzte Richtung, von ihm weg. Er bewegte sich, sie bewegten sich und mit der Bewegung der Gestalten begann der kahle Raum sich zu verwandeln. Die Überlappungen, Kreuzungen, Vermischungen der an ihm vorbeizuckenden Figuren verschwammen zu Feldern, Steinen, Gräsern, Wäldern und Seen, zu Wegen, Straßen, Flüssen und Strömen, das Weiß des kahlen Raumes nahm aus den Luftzügen der Bewegungen Farben an und das Geschrei und Weinen der Kinder schwollen an zu Donner, Orkan und Steinschlag, ebbten dann wieder ab zum Säuseln des Windes, zum Rascheln des Laubs und zum Murmeln des Bachs. Diese zu Formen, Farben und Tönen verdichteten Menschenbewegungen schoben sich zwischen seinen Blick und den Horizont. Er ging durch eine ständig sich ändernde Landschaft aus Mensch, als er losging, die Gabe zu suchen.

Er ging weiter. Manche der Frauen, die an seiner Seite gelegen waren, hatten versucht, sich an ihn zu klammern, und langten beharrlich nach ihm. Einigen Frauen gelang es, sich an sein Hosenbein zu hängen, zwei fassten ihn am Gürtel und eine brachte es zustande, sich um seine Schulter zu schlingen. Als er sie nach ihrem Namen fragte, antwortete sie, sich über seine Schulter bis an den Nacken streckend, sodass ihre Lippen sein Ohr berührten : “Die Eine“. Er musste die Eine wie auch die anderen je nach Lage und Grad ihrer Anhänglichkeit mitschleifen.

Er schleifte sie gerne mit. Nach und nach fielen sie jedoch ab. Die letzte Frau, die von ihm abfiel, war die Eine. Als er merkte, dass auch sie sich schließlich von ihm zu lösen begann, blickte er zu ihr hinab, sah sie an und wusste, er würde sie nicht vergessen: ihr wohlgeformtes, dunkles Antlitz, in das sich das harte, ermattete Leben eingeschrieben hatte, mit den warm funkelnden samtbraunen Augen, aus denen es verjüngt und strahlend ihren Körper wieder verließ. Welche Kraft der Seele, die solche Verwandlung vollbringt! Oder erduldet?, dachte er und ging bestärkt weiter. Er ging und ging auf der Suche nach der Gabe. Als die Eine schließlich zur Gänze von ihm abgeglitten war, verspürte er dies nicht mehr bewusst, denn alles, was er verspürte, war, dass er ging und ging und weiterging, auf der Suche nach der Gabe.

Ganz befreit und ganz einsam ging er nun. Für die Gabe hatte er alles gegeben. Er hatte freien Blick, freie Hände, freie Schultern, freie Lenden, freie Beine und freie Fersen, all die Wege und Seitengassen, auf die er stieß, zu erkunden, er hatte freien Geist, seine Aufmerksamkeit den Versammlungen auf den Plätzen und Feldern, die er überquerte, zu widmen, und hin und wieder in einen der Gasthöfe der zahllosen Länder, die er durchstreifte, einzukehren. Nie und nirgendwo aber sprach man ihn auf die Gabe an, fragte man nach der Gabe, wies ihn auf sie hin.

Dennoch ging er und ging unbeirrbar immer weiter. Neben ihm flitzten die kühnsten Gefährte vorbei, feiste und ausgezehrte, grinsende und dumpf vor sich hin starrende Fratzen blitzten abwechselnd aus den Fenstern. Er aber benutzte kein Fahrzeug. Er gebrauchte nur seine Beine, seine Augen und sein Herz, um den Weg, der ihn zu seiner Gabe führen sollte, zu bestimmen und zu gehen.

Er ging und ging und ging weiter. Die Landschaften seiner Reise schienen sich zu wiederholen. Er aber fand immer noch ein neues, unbegangenes Wegchen, das ihn auf andere Art wieder zu einem ihm bekannten Ort führte, den er wieder verließ, um bald von neuem auf ein weiteres kleines, unbekanntes Wegchen zu treffen, das in einen weiteren ihm vertrauten Ort mündete. So ging er immer denselben Weg ein bisschen anders. Der Kreis seiner Reise öffnete sich zu einer endlosen Spirale, an deren Ende, so wusste er, die Gabe warten würde, am Eingang zu einem Land ohne Weg und Ziel, zu einem Land, in dem alles leuchtet, ohne zu blenden, zu einem Land hinter der Nacht und jenseits der Sonne, wo Himmel und Erde einander gehören und nicht mehr zu trennen sind, zu einem Land, das immerzu tagt.

Träumer riss die Augen auf. Der erste Lichtstrahl. Dämmerung. Vergessen. Ein Vogelruf: Drohung. Erinnern. Die ersten Lichtstrahlen, goldene Schlüssel, öffneten den Tresor der Nacht und holten den Traum herüber, die ersten Vogelrufe schlugen Alarm, der Schatz lag frei und ungeschützt. Die ersten Lichtstrahlen, auf sie bettete sich der noch wache Traum, die ersten Vogelschläge, ihrer Warnung vertraute der ermüdende Traum sich an.

“Sie wollen rasch aufgefangen werden, sie dürfen nicht ungebremst auf die dunkle, harte Erde prallen, einige würden durch den Aufprall verderben, andere sofort zerspringen, wieder andere zerrinnen oder verfaulen. Jedenfalls könnte dadurch großes Unheil angerichtet werden, das Gegenteil von dem was, sie bezwecken sollten. Die Mittler zwischen Tag und Nacht bedürfen der Pflege..“ Das war der letzte Gedanke, der Träumer erfasste, bevor es endgültig Tag wurde.

“Aufgabe: Die Schätze fangen lernen. Achte auf die ersten Lichtstrahlen, den ersten Vogelschlag. Sie tragen die Träume herüber.“, kritzelte er auf den erstbesten Zettel, der sich finden ließ, während er sich den Schimmer aus den Augen zu reiben versuchte. Die Erinnerung an das Gefühl, das diesen Vorgang begleitete, verließ Träumer nie mehr. Den Zettel führte er stets mit sich

Das schrille Geräusch des Weckers läutete die Morgenroutine eines Zeitgenossen ein. Nicht mehr und nicht weniger.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.09.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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