Das Café in der Mühlenstraße war beliebt bei den
Anwohnern, nicht nur wegen des so selten gewordenen Filterkaffees, sondern vor
allem aufgrund seines vorzüglichen Blechkuchens. Zudem war der
kleine Außenbereich des Cafés ebenso liebevoll gestaltet, wie der
Innenbereich. Hier wurde sich mit wahrer Freude um die zahlreichen
Blumenkübel gekümmert und auch die wirklich sehr kleinen
Staubfänger, die zu Haufe auf jeder möglichen Ablagestelle standen,
wurden ihrem Namen, zumindest im vorderen Teil der Gaststube, nicht gerecht.
Diese wirklich vorzügliche Pflege, in Verbindung mit der ungeschlagenen
Gastfreundlichkeit, veranlassten Herr Jochen jeden Samstag, sowie Sonntag,
pünktlich zum Nachmittagskaffee, seinen Platz am Fenster einzunehmen. Ja
es ging bereits so weit, dass die nette, etwas korpulente Bedienung das Du dem
Sie vorzog. Im Normalfalll hätte Herr Jochen dies als Anmaßend und
äußerst unpassend empfunden, doch einerseits gefiel ihm, die doch
deutlich jüngere Kellnerin und andererseits fand Herr Jochen, dass
Jemand, der ihn stets mit „Kirschkuchen und Kaffee schwarz?
“, begrüßte auch ruhig Du zu ihm sagen dürfe.
Auch die Bedienung mochte Herrn Jochen. Das lag weder an
überschwänglicher Freundlichkeit, oder einem durchaus angebrachten
Trinkgeld, viel eher an der Kontinuierlichkeit mit der Herr Jochen das
Café besuchte. Sie genoss die Routine und die fehlenden
Extrawünsche und so platzierte sie, auch heute, einen schwarzen Kaffee
und ein mittel großes Stück Kirschkuchen, auf dem etwas wackeligen,
durch eine Streichholzschachtel gestützten, Tisch. Sie lächelte und
ging.
Herr Jochen mochte das, er wusste sie waren einander zwar
bekannt und doch hatte keiner der Beiden das Bedürfnis mehr als das
Nötigste miteinander zu besprechen. Er war mehr der Beobachter. In seinem
Job als Parkplatzwächter ein wirklich praktisches Talent. Doch da der
Parkplatz an Samstagen sowie an Sonntagen nicht zu befahren war und seine
Wohnung nur Fenster besaß, die den Blick auf die angrenzende, graue
Hausseite, des Nachbarhauses freigaben, musste er wohl oder übel seinem
durchaus geschätzten Hobby in der Außenwelt nachgehen.
Das kleine Café hatte sich angeboten. Es lag direkt gegenüber des
Häuserblocks, indem sich auch die Wohnung des Herrn Jochen befand.
Doch hob es sich deutlich von der grauen Trübheit ab, der es ins Gesicht
blickte. Die Fassade war hellblau gestrichen, die Fensterrahmen fliederfarben,
Tische und Stühle waren in allen erdenklichen Farben aufzufinden und um
die Farbvielfalt abzurunden, baumelten bunte Fähnchen an der Dachrinne
herab.
Herr Jochen passte somit nicht ganz in das Bild. Denn er
war eher schlicht gekleidet. Dies lag sicher am eingeschränkten
Angebot seines Kleiderschrankes, der außer ein paar beigen Hemden,
Stoffhosen der gleich Farbe und einer ausgeblichenen Jeans nicht viel zu
bieten hatte. Wenn es aber nun Jemanden gäbe, der tatsächlich das
Interesse hätte, in diesem schlichten Kleiderschrank zu wühlen, so
würde er versteckt hinter Socken und Unterhosen ein Sommerkleid finden.
Durchaus ein buntes, sogar geblümt. Wenn dieser Jemand dann aber denken
würde Herr Jochen ginge des Abends interessanten Tätigkeiten in
einem geblümten Sommerkleid nach, dann hätte dieser Jemand weit
gefehlt. Das Kleid hatte sich nämlich die Ex- Frau Herr Jochens im
letzten gemeinsamen Urlaub gekauft. Kurz danach hatte sie die Scheidung
einreichen lassen. Außerdem war ihr das Kleid, und die gemeinsame
Wohnung sowieso von Anfang an zu klein gewesen und Herr Jochen, den sie einst
liebevoll „Günni“ nannte, zu langweilig.
Er
bewahrte das Kleid eher unbewusst auf, vielleicht bis jemand Neues kam, um
ehrlich zu sein, hatte er das Kleid und die damit verbundene, bessere Zeit,
schon längst vergessen.
Deshalb war es umso seltsamer,
dass nicht Frau Jochen, geborene Politschek, sondern Herr Jochen stets einen
Platz im Café einnahm.
Vielleicht lag es daran, dass er
und nicht sie sich stets Situationen auszumalen pflegte um die Einsamkeit in
der Außenwelt zu kompensieren ohne Kontakt aufnehmen zu müssen.
Schließlich war er völlig unbeteiligt, er beobachtete nur, frei von
Verantwortung und am Ende ging er allein in seine kleine beige Wohnung
zurück.
Natürlich war es der Torheit wegen für
Herr Jochen undenkbar, alleine in seiner Wohnung über das bereits
Vergangene und Gesehene nachzudenken. Schließlich musste er sich aktiv
erholen um erneut am Montag bezahlten Beobachtungen nachgehen zu können.
Trotzdem strengte Herr Jochen seine Gehirnwindungen gerne an, vor allem im
genannten Café in der Mühlenstraße.
Er hatte
schon oft über die Besucher des Cafés nachgedacht um sich in deren
Leben zu verlieren. Da Herr Jochen seine Gedanken grundsätzlich für
äußerst ausgefeilt hielt, war dies wie die Fortsetzung eines
guten Buches, den selben Menschen, immer und immer wieder, bei den gleichen
Tätigkeiten, wie Kuchen essen und Kaffee trinken, zu zu sehen. Doch dabei
blieb es nicht, er fantasierte und schätzte, dachte sich eine neue
Wirklichkeiten aus manchmal aber auch nur die nächste Verabredung. Schon
oft hatte er dem streitenden Paar hinter der Glasscheibe zugesehen. Das hatte
ihn an seine Ehe erinnert, mit dem Unterschied, dass diese nicht mehr
existierte, aber die beiden da draußen immer noch zu Zweit stritten.
Herr Jochen vermutete stark, dass sie sich alle Streitigkeiten der Woche bis
zum Kaffee trinken am Samstag aufbewahrten um sich dann in aller
Öffentlichkeit, deeskalativ die Meinung zu geigen. Dieser Stressfaktor
musste der Frau so auf die Nieren geschlagen haben, dass sie fast jede Woche
eine neue Frisur hatte. Herr Jochen fiel das auf. Ihrem Mann nicht. Er schien
sowieso lieber Zeitung lesen zu wollen und sicherlich wäre es ihm lieber
gewesen dabei dem Zwitschern der Vögel zu lauschen und nicht den
keifenden Worten seiner Frau, deren, davor noch so einwandfrei liegende Haare,
nach jedem Streit strubbelig zu Berge standen. Manchmal fragte sich Herr
Jochen, wieso sie nie aufstand und sich einen neuen Gesprächspartner
suchte, jemanden der ihr auch einmal antwortete, bis ihm einfiel, dass er das
schließlich auch nicht tat. Und so stritt sie weiter und er beobachtete.
Einmal hatten sich ihre Blicke getroffen. Für Herr Jochen war das ok
gewesen, als geübter Beobachter lernt man mit diesen Situationen
professionell umzugehen und zur Seite zu schauen, zutun als hätte
man einfach nur Löcher in die Luft gestarrt. Für sie allerdings
hatte es sich schon länger angefühlt als würden Blick!
e auf ih
rem Rücken ruhen, dies hatte die Streitsituation unangenehm werden
lassen, deshalb hatte sie sich eigentlich dafür entschieden fortan nur
noch Zuhause zu streiten, da ihr Mann aber außer Samstags und Sonntags
nicht Zuhause war und der einzige Ort, den er gemeinsam mit ihr besuchen
wolle, dieses Café sei, hatte sich die Überlegung schnell wieder
erledigt. Also lebte sie mit den Blicken des fahl wirkenden Mannes und
interpretierte sie als Interesse an ihrer Person. Das schmeichelte ihr, somit
war es fast schon flirten, wenn sie ihren Mann anschrie und dieser nur nickte
oder den Kopf schüttelte. Allerdings verstand weder ihr Mann noch Herr
Jochen den Wink mit dem Zaunfahl und so blieben alle Verhältnisse
distanziert.
Hinter der Scheibe war es sowieso viel
gemütlicher, vor allem seit der Herbst Einzug hielt. Herr Jochen war noch
nie ein Freund der dunkleren Jahreszeiten gewesen. Nicht nur, weil man
schlechter durch sie hindurch sehen konnte, sondern vor allem weil er einfach
viel zu wenig warme Pullover besaß und stets fror. Ihm war bewusst, dass
er seine Heizung betätigen könnte, nur würde dies die Kosten
seiner Wohnung in die Höhe treiben. Und da Herr Jochen sparsamer Natur
war blieb die Heizung aus. Worauf er sparte war ihm nicht ganz klar,
aber das Sparen an sich hielt er doch für eine positive
Eigenschaft. Es sammelte sich jedoch, trotz Sparens, kein
erwähnenswertes Vermögen an. Auch wenn Herr Jochen seit seiner
Scheidung nicht mehr in den Urlaub gefahren war. Wäre er gefahren
hätte er vielleicht eine Frau gefunden, die ebenso einsam gewesen
wäre wie er. Sie hätten sich an der Bar getroffen und nach viel zu
vielen zu bunten Cocktails wären sie vielleicht zusammen auf ein Zimmer
gegangen. Vielleicht hätte Herr Jochen sogar wieder zu Rauchen
angefangen, danach auf dem Balkon. Ein laues Lüftchen hätte seine
Beine umspült und er hätte gelächelt. Da er aber nicht gefahren
war, hatte er auch keine Erfahrung dieser Art gesammelt.
Frau Jochen, die inzwischen wieder Politschek hieß, war in solche
Urlaube gefahren, insgeheim hatte sie auch gehofft ihren Mann dort zu treffen
und sich neu in ihn zu verlieben. Da dies nicht geschehen war hatte sie einen
Geschäftsmann kennengelernt. Er war ziemlich sportlich gewesen und
verheiratet. Daraufhin hatte sich die Romanze einzig auf die vierzehn Tage
Urlaub beschränkt, die Frau Jochen von ihrem Arbeitgeber genehmigt
bekommen hatte. Danach hatte sie sich auf etlichen Datingportalen herum
getrieben, mit minder großem Erfolg.
Herr Jochen
hatte es im Gegensatz zu seiner Ex-Frau gar nicht erst probiert. Ob ihm das
Interesse fehlte oder er sich einfach nicht mit den neu modernen Medien
auskannte, war nicht ganz klar. Offensichtlich war aber, dass er sich gerne an
alt Bekanntem festhielt. Einiges davon favorisierte er, wohingegen er bei
Anderem eher eine gewisse Art der Abneigung entwickelt hatte. So etwas
über das man auch in zehn Jahren sicher noch schlecht reden konnte. Ein
Ventil für die negativen Gefühle, von denen sich Herr Jochen, in
seinen expliziten Studien im Café, frei zu machen versuchte.
Nur wenn die Gedanken immer unausgesprochen bleiben, dann fällt
es auch einem guten Beobachter schwer ausgeglichene Verhältnisse zu
schaffen. Er wusste selbst nicht genau wieso er es tat. Der Magen hatte ihm
schon seit längerem Probleme bereitet, aber Herr Jochen aß seinen
Kirschkuchen nicht, auch den Kaffee rührte er nicht an. Stattdessen
winkte er die drollige Bedienung zu sich und bestellte sich einen Kamillen Tee
und ein Mineralwasser. Was nun als großer Unterschied betrachtet werden
kann löste bei der Kellnerin nur den Anschein eines Stirnrunzelns aus.
Sie drehte sich um, nickte im gehen und brachte das Gewünschte in
gewohnter Langsamkeit.
Es ist nicht so, dass Herr Jochen noch nie
Mineralwasser oder gar Kamillentee getrunken hatte, doch heute erschien es ihm
anders. So als hätte er eine völlig neue Art des Lebens entdeckt,
die ihm vorher vorenthalten gewesen war. Von nun an nahm er sich vor des
Öfteren in seiner Bestellung zu variieren.
Nun
saß er da als neuer Mann, eine Stachelbeeren Sahne Torte vor sich und
dazu ein grüner Tee. Die Frau vor der Scheibe strich sich gerade die
frisch gefärbten lila Strähnen aus dem Gesicht, während sie
ihren Mann mit sinnlosen Frasen malträtierte.
Der Mann
schaute auf.
Hätte er es nicht gemacht wäre alles
so verlaufen wie immer. Er hätte genickt, sie hätte geschrien, er
hätte bezahlt, beide wären gegangen. Aber er schaute auf. Und sie
hörte auf zu schreien. Er legte ihr die Hand aufs Knie worauf hin sie zu
weinen begann.
Herr Jochen traute seinen Augen nicht. So
war das doch noch nie gewesen. Er hatte das dynamische System durcheinander
gebracht. Die Haare der Frau hingen in traurigen Strähnen ihren Kopf
herab und unterstützten die auf dem Gesicht abgebildete Emotion. Sie
schien zu nicken als ihr Mann aufstand und alleine in eine völlig neue
Richtung ging. Die Zeitung hatte er liegen gelassen.
Als
wäre er nicht er selbst tippte Herr Jochen sich an den Hut als sich die
Blicke der Beobachteten mit den Seinen trafen. Ein kleines Schmunzeln breitete
sich auf dem Gesicht der Frau aus.
Sie hatte es ja gewusst.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.12.2020.
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