Rolf Föll

Machopan - Die Schnellkasse

Heute morgen war ich auf der Hauptversammlung einer Firma an der ich als Aktionär beteiligt bin. Der wertmäßige Verlust meines dazu eingesetzten Kapitals bewegte sich nahe der 100%-Marke und ich wollte einfach nur einmal sehen, was den Verantwortlichen als Erklärung für diese Tatsache so alles einfällt. Nach zwei Stunden hatte ich dann das Handtuch geworfen und die Stätte der Selbstbeiweihräucherung von Vorstand und Aufsichtrat verlassen. Der Beschlussfassung zur erneuten Auflage eines Aktien-Options-Plans für leitende Angestellte, Vorstand und Aufsichtsrat hatte ich mich durch die Abgabe aller mir zur Verfügung stehender Neinstimmen verweigert und die Hauptversammlung frühzeitig verlassen.

Jetzt brauchte ich dringend etwas zu essen.
Eigentlich wollte ich ja auf der Hauptversammlung essen, deshalb ist man ja schließlich auch Aktionär, doch dazu kam es aus oben genannten Gründen dann nicht mehr.
Ich war auf dem Weg nach Hause und wusste, dass der Kühlschrank nur ein geringes essbares Angebot enthielt. Deshalb entschloss ich mich noch schnell beim Supermarkt zu tanken und gleich was zum Essen zu kaufen.
Schon bei der Anfahrt zum Parkplatz latschte mir zweimal fast ein Rentner ins Auto. Entweder ganz in Gedanken verloren oder schon von fortgeschrittener Alzheimer befallen. Besonders niedlich finde ich immer diesen komischen Blick, wenn Sie aus ihrem Tran zwanzig Zentimeter vor der Stoßstange wieder zu sich kommen.
Letztes Jahr hatte ich mal eine ältere Dame vor dem Kühler, die war so überrascht als sie mich endlich sah, obwohl ich da schon fast eine Minute mit laufendem Motor dicht hinter ihr stand, dass sie aus dem Stand einen Satz gerissen hat, mit dem sie leicht die Goldmedaille im Dreisprung bei den Olympischen Spielen hätte gewinnen können. Und das in ihrem Alter!
Ich parkte meinen Wagen neben dem Eingang in einer besonders großen Parkbucht, wo bestimmt niemand mit seinem Einkaufswagen zu dicht am Auto vorbei kommt. Die meisten Menschen können mit so einem Ding ja schlichtweg nicht umgehen. Meistens total überladen und von diesen kleinen Frauen mit einem vor den Bauch gebundenen Baby kaum zu bewegen und schon gar nicht zu steuern. Oft haben sie dann auch noch eine Kiste Bier und zwei Flaschen Whisky für den Göttergatten aufgeladen.
Dann gibt es die anderen, die den Einkaufswagen wie eine Ramme benutzen oder einfach in seiner Länge unterschätzen. Das kennen Sie wahrscheinlich auch. Besonders beim Warten an der Kasse gibt es diese Zeitgenossen, die einem fortwährend von hinten in die Waden fahren und dann so tun, als wären sie es nicht gewesen oder ihrem Kleinkind neckisch mit dem Finger drohen, "das darfst du aber nicht machen, da wird der Onkel böse". Dabei wäre der rotznasige Kleine noch nicht einmal stark genug, um alleine seinen heruntergefallenen Lolli aufzuheben.
Ich nahm keinen Einkaufswagen, wollte ja nicht groß einkaufen, nur was zum Essen, was schnell geht, ungesund ist, aber trotzdem gut schmeckt.
Dazu überholte ich alle Einkäufer, gleich welchen Alters und welchen Geschlechts, die teilweise in den seltsamsten Körperhaltungen ihren Einkaufswagen bewegten. Manche taten das mit dem ganzen Körper und lehnten sich dabei auch noch so weit vor, dass sie mit dem Kopf fast im Wagen hingen. Nur noch ein kleiner, natürlich gut gemeinter Schubs meinerseits und sie würden kopfüber in den Wagen fallen, wie ein Sack Kartoffeln. Andere hielten den Einkaufswagen an der Stange so weit von sich, als hätten sie einen Haufen stinkender Fäkalien vor sich im Wagen. Und die ganz Guten steuerten ihren Wagen lässig, aber heftig schlingernd mit zwei Fingern oder zerrten das Ding mit einer Hand wie einen toten Hund hinter sich her.
Ich wich Ihnen aus, drehte und wendete mich, zog den Bauch ein und schlüpfte durch, täuschte rechts an um dann doch links vorbei zu huschen. Sagte artig ,Bitte' um vorbeigelassen zu werden und schob die Wagen zur Seite, die von ihrem derzeitigen Besitzer mitten im Weg geparkt worden waren, während sie sich selbst kopfüber bis zum Hintern in der Tiefkühltruhe vergraben hatten, nur um wirklich die Packung Fischstäbchen mit dem längsten Haltbarkeitsdatum ergattern zu können.
Ich schaffte es in Rekordzeit bis zum Kühlregal für die schnelle Küche.
Mit einem kurzen Blick erfasste ich das Angebot an italienischen und amerikanischen Nahrungsmitteln, die garantiert jeder Depp zubereiten kann.
Da! Genau das richtige für mich.
Italienische Pasta, fixe foxe, musste nur in heisse Wassere schmeisse, duo minuto, finito.
Wieder sagte ich ,bitte' und schob zwei weibliche Teenager zur Seite, die ausgerechnet hier ihre Handys nach neuen SMS-Meldungen abfragen mussten. Auf meine Bemerkung "das ist hier ein Einkaufsmarkt und keine Telefonzelle", reagierten die Beiden gar nicht.
Aus dem Bund ihrer knappen Hüfthosen quoll das überflüssige Fleisch, welches ihnen an der Oberweite noch fehlte. Was an dieser Art Kleidung schön sein sollte? Und dann noch die Hose so weit unten, dass sie sich beim Hinhocken eine Darmspiegelung machen lassen könnten, ohne die Hose auszuziehen. Und das über dem Anus liegende Schnürchen vom Tangastring wäre für den Operateur sicherlich auch kein großes Hindernis.
Ich griff mir die Pasta aus dem Regal, eine von weiter hinten, weil vorne ja immer die Sachen stehen die unbedingt weg müssen. Dabei war es mir gleichgültig, dass ich diese italienische Delikatesse gleich in der nächsten halben Stunde zu meiner Ernährung einsetzen würde.
An der Kasse steuerte ich zielsicher die Schlange an, über der das Schild ,Schnellkasse' von der Decke baumelt. ,Maximal 8 Artikel' stand darunter. Ich blickte zuerst vorwurfsvoll in den vollbeladenen Einkaufswagen des Herrn vor mir und dann so, dass er es auch merkte, hoch zum Schild. Dabei sah ich auch noch auf die Uhr, damit er außerdem noch merkt dass ich es eilig hatte. Aber er schien das Fach ,Körpersprache' während seiner Schulausbildung geschwänzt zu haben. Auch mit seinen Ohren stand es nicht zum besten, denn er war dem kleinen Hund der Dame die vor ihm wartete und den ganzen Einkaufswagen mit Hundefutter beladen hatte, mit seinen großen Schuhen auf die kleinen Pfoten gestiegen. Da musste er schon längere Zeit gestanden habe, denn der kleine Hund fipste aus dem letzten Loch, als hätte er kaum noch Luft in der Lunge.
Die Besitzerin des Hundes, die sich gerade ausgiebig in einen Disput zwischen der Kassiererin und einer deutschstämmigen Frau mittleren Alters eingemischt hatte, erhörte endlich ihren kleinen Liebling, bevor ihm die Luft ausging.
Sie gab dem Mann vor mir, der sich zwischenzeitlich mit dem Betrachten von nackten Brüsten und Hintern auf den angebotenen Erzeugnissen der Regenbogenpresse die Zeit vertrieb, einen heftigen Stoss, der ihn gegen mich geschleudert hätte, wäre ich nicht reaktionsschnell elegant und sportlich zu Seite gesteppt.
"Passen sie doch auf wo sie hintreten!", gellte es durch den Supermarkt und dann etwas leiser, aber immer noch so, dass es jeder ohne Hörrohr im Umkreis von mindest 50 Meter hören konnte "mein armer Liebling!". Dabei riss sie ihre Handvoll Hund vom Boden hoch und quetschte ihn zwischen ihren üppigen Busen, wo das Fiepen ihres Lieblings in ein ersticktes Schniefen überging.
Ich nützte die Situation geschickt aus, rückte schnell um einen Platz vor und lächelte die Dame mit Hund im Mieder freundlich an. Der gestoßene Herr hinter mir protestierte nur schwach über seinen vollen Einkaufswagen hinweg, als ich ihm grinsend meine Pasta zeigte.
"Das ist die Schnellkasse", hörte ich weiter hinten in der Schlange eine Frau sagen. "Und was ist daran schnell?", wollte ihr Begleiter wissen. "Da bildet sich besonders schnell eine Schlange", meinte ein pickelgesichtiger, kaugummikauender Halbwüchsiger, der beim Kauen das Maul immer so weit aufriss, dass man sein Rachenzäpfchen und die schlechten Zähne sehen konnte.
"Entschuldigen Sie", hörte ich die Dame mit dem Hund sagen, der sich zwischen den Brüsten etwas beruhigt zu haben schien und sich dort offensichtlich wohl fühlte, was ich ihm nicht verdenken konnte. "Entschuldigen Sie", sagte die Dame noch mal und hielt mir ihren kleinen Liebling hin, "wären Sie bitte so nett und würden meinen kleinen Liebling mal kurz halten".
Ich zuckte zurück wie von der Tarantel gestochen und presste meine Pasta mit beiden Händen schützend vor die Brust, "Warum? Kaufen Sie eigentlich Ihr Essen immer lebend?"
Sie hatte anscheinend einige Semester ,Körpersprache' besucht und erkannte, dass ich ihre Handvoll Hund um gar keinen Preis halten wollte. An ihrem Blick konnte ich auch erkennen dass sie mich deshalb in die Sparte ,Kinderschänder und Tierquäler' eingeordnet hatte.
So stellte sie stattdessen ihren vierbeinigen Lebensgenossen auf dem Förderband zwischen den dort liegenden Waren ab, wo er sich sofort für das Paket aus der Fleischabteilung zu interessieren begann, während sich sein Frauchen wieder in die immer noch laufende Diskussion zwischen der Kassiererin und der deutschstämmigen Kundin einmischte, die gerade mit rollendem ,rrrrr' darauf beharrrrrrte, dass "dieserrrrr schene Bluse nicht kostet mehrrr als Eurrro drrrei vierrrzig zusammen mit Kleiderrrrbiegl".
Die Kassiererin bestand darauf, dass der Preis an der Ware nicht inklusive Kleiderbügel war und wollte den Kleiderbügel aus der Bluse ziehen. Die deutschstämmige Dame, deren Geburtsort sicher irgendwo hinter dem Ural in einem Dorf mit unaussprechlichem Namen lag, riss entsetzt den Bügel samt Bluse an sich, die nach meinem Geschmack aussah als hätte man sie aus einem Stück Vorhangstoff mit Blumen gleich nach Ende des zweiten Weltkrieges aus den Restbeständen von Heinrich Himmlers ,Lebensborn e.V.' hergestellt.
Während die Kassiererin zum Mikrofon griff und wie beim Hausfrauensex unter einer 0190-Telefonnummer hauchte "Heerr Meieeer, biiiitteee Kassse Einsss", begann der Sechshundertgrammhund auf dem Förderband sein Körpergewicht durch den teilweisen Verzehr des Fleischpaketes samt Papier zu erhöhen.
Wir warteten immer noch darauf, dass Herr Meier den Notruf von Kasse Eins vernommen hat und zur Schlichtung des Blusenproblems heraneilt, als mir jemand von hinten auf die Schulter tippte und sagte "Darf ich?" Ohne mich umzudrehen, denn ich wollte nicht verpassen, wie die Sache mit der Bluse ausging, schnauzte ich über die Schulter ein unfreundliches "Wasss?" zurück.
"Darf ich bitte vorbeigehen?", sagte die Stimme hinter mir und ich drehte mich langsam um.
Hinter mir stand eine junge Dame - ich nenn sie jetzt einfach mal so-, ohne ihr zu nahe treten zu wollen. Mittzwanzigerin, Typ emsige Geschäftsfrau in dunkelblauem Hosenanzug mit dezenten Nadelstreifen, betriebsame Hektik im Gesicht und sorgfältig aufgemaltem Wangenrot. Für meinen Geschmack zuviel Modeschmuck an Hals und Händen
"Warum?", wollte ich wissen und sah wie sie stutzte, "wenn Sie was gekauft haben, müssen Sie sich hinten anstellen. Vordrängeln gilt nicht. Schnellkasse heißt nicht, dass man sich hier mal schnell irgendwo reinmogeln kann."
"Ich habe nichts gekauft", rechtfertigte sie sich und machte Anstalten sich einfach an mir vorbeizuschieben. Aber Hallo, nicht mit mir. Breitbeiniger konnte John Wayne auch nicht stehen. Ich hielt meine Packung Pasta wie einen schussbereiten 45-Colt genau zwischen die Augen der dynamischen jungen Dame.
"Warum sind Sie dann überhaupt reingekommen, wenn sie gar nichts kaufen wollen? Glauben Sie wir stehen hier alle nur zum Spaß und haben nicht Besseres zu tun, als immer nur Leute vorbeizulassen, die gar nichts gekauft haben! Vielleicht haben Sie doch was gekauft und wollen jetzt einfach nur nicht bezahlen, weil Sie glauben, Sie könnten jetzt hier die Situation ausnutzen und einfach so durchwitschen ohne dass die Kassiererin es merkt."
"Was erlauben Sie sich?", empörte sich die Dame, "sie sind ja nicht ganz dicht!"
"Doch, doch ich schon", gab ich zurück, "die Lache hier auf dem Boden, in der Sie gerade mit Ihren italienischen Designerschuhen stehen, ist von dem Hund der da auf dem Förderband die Rinderpansen nach Art des Hauses frisst. Und nur weil der Herr hinter Ihnen das arme Tier fast zertreten hat; da hätten Sie sich sicher auch vor Angst in die Hose gepinkelt."
Die Dame wurde unter ihren handgemalten Apfelbäckchen kreidebleich und fuchtelte wie wild mit ihrem Autoschlüssel vor meinem Gesicht rum "Sie... Sie...", stieß sie dabei nach Worten ringend hervor.
"Ach Sie fahren nur einen Opel", grinste ich sie nach einem kurzen Blick auf den Autoschlüssel an, "hier warten Sie mal." Dabei klemmte ich mir meine Pasta unter den Arm und zog nach kurzem Suchen ebenfalls meinen Autoschlüssel aus der Tasche, "hier, sehen Sie mal! BMW, Siebener, Achtzylinder, vier Liter Hubraum, 270 PS, Lederausstattung und Klima, Verbrauch auf einhundert Kilometer garantiert nicht unter 17 Liter. Steht draußen gleich neben dem Eingang auf dem Parkplatz. Echt! Kein Witz! Wenn Sie warten, bis ich bezahlt habe, dann zeige ich ihn Ihnen gerne".
Die Dame - ich hatte mir ja gleich gedacht, dass sie gar keine ist - zischte etwas was sich wie "Arschloch" anhörte, drehte sich um, dass mir die Hundepisse, in der sie immer noch stand, gegen die Hosenbeine spritzte und eilte davon. Entweder ging sie jetzt etwas kaufen, wie ich es ihr geraten hatte oder sie musste wegen einer plötzlich aufgetretenen Blasenschwäche die Slipeinlage wechseln.
"Schade", sagte ich zu dem Herrn hinter mir, "ich hätte ihr wirklich gerne mein Auto gezeigt."

Um ein Haar hätte ich verpasst, wie der zwischenzeitlich herbeigeeilte Filialleiter Meier den Konflikt um den Damenblusenkleiderbügel schlichtete. Die deutschstämmige Dame hielt die Bluse samt Bügel gegen ihren stämmigen Körper - daher der Ausdruck deutschstämmig -, gedrückt. Der nette Herr Meier redete auf sie ein, wie auf ein krankes Pferd, aber sie schien plötzlich kein Wort Deutsch mehr zu verstehen. Erst als der nette Herr Meier sagte: "Na ja, ausnahmsweise dürfen Sie den Bügel dann halt als Geschenk mitnehmen", verzog sich ihr Gesicht zu einem verstehenden Lächeln und sie legte einen Fünfeuroschein aus der Tasche, ließ sich das Wechselgeld geben und verschwand triumphierend durch den Ausgang.
Das mach ich jetzt auch, dachte ich mir. Ich versteh jetzt auch nichts mehr. Ich versteh eigentlich gar nichts mehr. Vor allem versteh ich nicht, warum ich wegen einer Packung maschinell hergestellter italienischer Pasta zweifelhafter Herkunft für einen Euro und neunundachtzig Cents seit fast zwanzig Minuten neben einer Lache Hundepisse herumstehe und warte, bis eine deutschstämmige Dame aus Kasachstan mit einem kostenlos erworbenen Plastikkleiderbügel endlich das Weite sucht.
"Ich wollte eigentlich meine Pasta noch essen, bevor das Verfalldatum erreicht ist", rief ich dem Filialleiter und seiner Kassiererin zu, die gemeinsam versuchten den kostenlos erworbenen Kleiderbügel nebst kostenpflichtiger Bluse buchungs- und formgerecht nach den Vorschriften des deutschen Steuer- und Handelsrecht in die elektronische Ladenkasse japanischen Ursprungs einzugeben.
"Sie müssen eben warten, bis sie drankommen," rief mir der Filialleiter zu, ohne den Kopf von seinem Buchhaltungs- und Datenerfassungsproblem zu erheben.
Ich warf die Pasta, die eigentlich gar nichts dafür konnte und sich in meinem Armen auch schon sichtlich wohlfühlte und auf Körpertemperatur erwärmt hatte, auf die Ladentheke. Der kleine Hund, der sich doch tatsächlich schon durch das halbe Fleischpaket inklusive Verpackung gefressen hatte, erschrak sich dabei fast zu Tode und flüchtete mit einem geblafften "wuff" und einklemmten Schwanz zwischen die dicken Oberarme seiner Besitzerin.
Das Problem der japanischen Ladenkasse mit dem deutschen Kleiderbügel schien sich mittels Stornoschlüssel des Filialleiters beheben zu lassen, den er gerade an einer Kette umständlich aus einer seiner Hosentaschen kramte. Er musste sich dazu ziemlich tief in den Schritt fassen und das linke Bein etwas anheben um den Schlüssel freizubekommen, was die Dame mit Hund vor mir mit großen Interesse verfolgte.
Die Kassiererin hatte sich auf dem Stuhl in ihrem Mautkäfig endlich wieder in Arbeitsposition gebracht. Wie eine Henne auf dem Gelege begrub sie die Sitzfläche unter sich und ließ dabei das voluminöse Hinterteil wie die Taschen an einem Pferdesattel rechts und links herunterhängen.
Doch statt jetzt die zwischenzeitlich beachtliche Schlange entladungsgieriger Einkaufswagen zügig abzuarbeiten, entpuppte sie sich als Weltmeisterin der Zeitlupe. Bei jedem Döschen Hundefutter, das sie vom Band in unendlich langsamer Bewegung über den Scanner schleichen ließ, erfolgte nach dem ,Beep' nochmals ein prüfender Blick auf das Display der Ladenkasse.
Mir war nicht klar was das sollte. Vielleicht wollte sie die Preise auswendig lernen oder sie misstraute der japanischen Kasse, die eventuell aus einem kleinen Döschen deutschem Hundefutter preislich plötzlich einen japanischen Videorekorder machen könnte. Damit nicht genug, kontrollierte sie dann den Kassenbon noch einmal ganz langsam, damit ja nur kein Fehler passieren konnte.
Und als es dann endlich ans Bezahlen ging, wurde mir klar wo das Problem war.
Die Frau hatte einfach kein Gefühl und kein Verständnis für Zahlen. Vermutlich hatte sie auch den Zugang zur faszinierenden Welt der vier Grundrechenarten noch nie gefunden. Der angezeigte Rechnungsbetrag von vierundzwanzig Euro sechsundvierzig und die dreißig Euro fünfzig mit der die Hundebesitzerin bezahlen wollte, stellte sie vor ein größeres intellektuelles Problem. In der einen Hand den ausgedruckten Kassenbon und in der anderen Hand das Geld der Kundin starrte sie hilflos auf das Display der japanischen Ladenkasse. Man konnte ihr förmlich ansehen, wie die Mechanik ihres Gehirns arbeitete. "Stimmt etwas nicht?", wollte die Hundedame wissen und wartete auf ihr Wechselgeld, doch das Gehirn der Kassiererin hatte keine Kapazität zur Formulierung und Ausgabe einer sprachlichen Nachricht mehr übrig.
"Kann ich Ihnen helfen?", erkundigte ich mich vorsichtig bei der Kassiererin, doch sie hörte mir überhaupt nicht zu. Statt dessen bewegte sie sich mit der unendlichen Schleichtigkeit einer übergewichtigen Mittvierzigerin und tippte mit kräftigem Tastendruck dreißig Euro fünfzig in die Tastatur. So richtig zufrieden schien sie anschließend aber immer noch nicht zu sein, denn sie saß da und starrte noch immer auf das Geld, den Kassenbon und das Display, auf dem jetzt allerdings stand, dass sie genau sechs Euro und 4 Cents an die Kundin zurückgeben darf.
"Sind Sie sicher, dass ich Ihnen nicht helfen soll?", fragte ich nochmals voll Anteilnahme, aber sie ignorierte mich wieder.
Statt dessen stieß sie plötzlich "Peebäck?" hervor.
"Bitte?", fragte verständnislos die Hundedame, die anscheinend mit ihren Gedanken schon zu Hause gewesen war.
"Peebäck Karte?", sagte die Kassiererin nochmals.
"Nein", antwortete die Hundedame, die es jetzt verstanden hatte und schüttelte zur Bestätigung heftig den Kopf, "ich habe keine Payback Karte."
Jetzt schien sich der Ablauf des Geschehens rasant zu beschleunigen. Die Kassiererin zählte akkurat das Geld der Kundin in die Kasse. Zuerst den Zwanziger, dann den Zehner und dann noch die beiden Zwanzigcentstücke. Man sah ihr an, welche Anstrengung sie das kostete.
Ich war gespannt wie es jetzt weitergehen würde. Doch ich schien die Kassiererin unterschätzt zu haben, denn sie griff beherzt in die Kassenschublade und entnahm ihr einen Fünfeuroschein. "Bravo, weiter so. Du schaffst es", dachte ich bei mir. Sie überlegte kurz und wählte dann das Fach mit den Eineuromünzen. "Nicht aufgeben, so nah vor dem Ziel", drückte ich ihr gedanklich die Daumen. Doch da, was war das? Sie zögerte, konnte sich anscheinend nicht zwischen Zweicentmünzen und Eincentmünzen entscheiden. Dann fällte sie ein unglaubliches, geradezu salomonisches Urteil, das ich ihr in dieser bereits weit fortgeschrittenen Phase des Geschehens nicht mehr zugetraut hätte. Sie wählte ein Zweicentstück und zwei Eincentstücke aus! Gerechter hätte man die Entscheidung nun wirklich nicht treffen können!
Der Herr hinter mir las in der Regenbogenpresse zwischenzeitlich unverhohlen einen Artikel über die Sexpraktiken unersättlicher Hausfrauen in den neuen Bundesländern und die Kassiererin hatte es endlich geschafft die sechs Euro und vier Cent zurückzugeben. Dame und Hund rollten nebst Einkaufswagen und Hundefutter davon.
Ein unheimliches Glücksgefühl stieg in mir auf. Jetzt war ich dran!
Mein Paket Pasta lag schon längere Zeit auf dem Förderband. Ich trat noch einen Schritt weiter vor, damit die Kassiererin auch mich besser sehen konnte. In der Hosentasche zerknüllte meine Hand aufgeregt einen Fünfeuroschein.
"Guten Tag", sagte die Kassiererin freundlich und lächelte mich an, als würde sie mich zum ersten Mal sehen. Dabei war ich doch vor Ihrer Kasse schon um Jahre gealtert. Ich zeigte mit der Hand und dem Fünfeuroschein auf die Packung Pasta, "nur das da", sagte ich fast entschuldigend.
Sie nahm meine Pasta mit spitzen Fingern und zog sie über den Scanner. Nichts geschah. Die Kassiererin sah zuerst das Paket Pasta und dann mich verdutzt an. Sie versuchte es nochmals. Wieder blieb das ,Beep' aus. Ihr Blick verriet, dass sie mich für das Problem verantwortlich machte. Da ist das Regal voller Pastapackungen und dieser Depp von Kunde musste sich ausgerechnet die Packung greifen, auf der der Strichcode nicht lesbar ist. Oder hatte der Kunde diese Packung etwa absichtlich manipuliert? Sie beobachtete mich genau, als sie die Packung Pasta ein drittes mal über den Scanner zog. Wieder nichts. Wieder kein ,Beep'. "Es kostet einsneunundachtzig", versuchte ich ihr zu helfen, aber sie hörte mich nicht, sondern bog und knetete an dem Paket Pasta herum, bevor sie es mit aller Kraft auf den Scanner quetschte, der nun endlich ein ,Beep' von sich gab. Ich blickte auf das Display der Ladenkasse. Zweineunundzwanzig stand da und ich bekam ein schlechtes Gewissen, während ich der Kassiererin meinen verschwitzten und zerknüllten Fünfeuroschein hinhielt, der in der Zwischenzeit wie Drogengeld aussah, mit dem ein Junkie seinen letzten Schuss erworben hatte.
Die Kassiererin dachte nach, bevor sie sich entschloss das Geld zu nehmen und ich wusste was gleich kommen würde. "Kein Payback", sagte ich, noch bevor sie diese Frage stellen konnte.
Noch immer schien die Kassiererin über etwas nachzudenken oder gar zu meditieren, denn sie starrte andächtig auf den Fünfeuroschein in ihren Händen.
"Ich hab's leider nicht kleiner", sagte ich um die Situation zu überbrücken, aber das schien nicht ihr Problem zu sein. Sie wusste jetzt wieder nicht was sie tun sollte. Dabei wäre es so einfach gewesen, wie von der Ladenkasse angezeigt, einfach Zweieuroeinundsiebzig aus der Kasse zu nehmen und mir noch einen ,Guten Tag' hinterher zu rufen.
Doch die Kassiererin schien meine Anwesenheit noch etwas genießen zu wollen und ich blickte solange scheinbar gelangweilt in der Gegend herum, um nicht den Eindruck zu erwecken, die Kassierein zeitlich unter Druck setzen zu wollen. Solche Kunden, die es immer eilig haben, können ja eine Kassiererin richtig nerven. Ich schlug die Augen hoch und sah zur Decke, denn vielleicht hatte ja der liebe Gott ein Einsehen und schickt eine Art göttliche Erleuchtung zum Großhirn der Kassiererin, sofern ER wusste in welcher Ecke ihres Schädel es sich für ein kleines Nickerchen zurückgezogen hatte. Aber Gott hatte kein Einsehen, er sprach weder mit ihr noch mit mir. Vielleicht hatte ER auch diesen Supermarkt längst von seiner Betreuungsliste gestrichen.
Mein Blick fiel wieder auf das Schild an der Decke, das mich vor einer halben Stunde so magisch angelockt hatte, wie eine Motte das Licht.
"SCHNELLKASSE - für maximal 8 Artikel und Behinderte -", stand da.

Jetzt wurde mir alles klar.
Das hatte ich vorhin nicht gesehen.
Es war alles alleine meine Schuld.
Ich nickte der Kassiererin, die hier trotz ihrer offensichtlichen Behinderung, täglich an ihrer Integration in die Arbeitswelt der Nichtbehinderten arbeitete, freundlich und Abbitte tuend zu. Dann steckte ich kleinlaut mein Wechselgeld ein, ohne kleinlich nachzuzählen. Wird vermutlich schon stimmen und wenn nicht, dann konnte ich ja schlecht eine Spendenquittung verlangen.
Ich wünschte ihr noch "Gute Besserung und viel Glück", weil mir gerade nichts anderes einfiel und verließ den Supermarkt, in dem ich für den Erwerb einer einfachen Packung Pasta gute dreißig Minuten meines Lebens hatte verbringen dürfen.
Beim Ausparken aus meinem Parkplatz erwischte ich fast noch eine Mutter mit zwei Kleinkindern an der Hand, die just in dem Moment, wo die 270 PS den Wagen rückwärts in Bewegung setzten, noch versucht hatten hinter meinem Kofferraum vorbeizukommen. "Rechts vor links, gute Frau", rief ich ihr freundlich durch das geöffnete Seitenfenster zu, während sie versuchte die schreienden Kinder zu beruhigen, denen noch die Todesangst im Gesicht stand.
Bevor ich wegfuhr fiel mein Blick noch auf die Schrift die beim Ausparken unter meinem Fahrzeug zum Vorschein kam. "Parken nur für Behinderte", stand da.
Na, dann passte es ja wieder!

Sind wir doch alle irgendwie, oder?
Ein bisschen behindert, meine ich.


© Rolf R. Föll
Frankfurt, im Oktober 2003

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.10.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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