Klaus-D. Heid

Trau, schau, wem...

Der alte Mann näherte sich vorsichtig dem Mädchen. Er wusste, dass er trotz seines roten Mantels, seines weißen langen Bartes und seiner riesigen Kartoffelnase, eher für einen ausgestopften Studenten, denn für den echten Weihnachtsmann gehalten wurde. Nichts desto trotz fixierte er das Mädchen mit seinen blutunterlaufenen Augen, während er ihr Schritt für Schritt näher kam. Der schwere Sack auf seinem Rücken verursachte ihm echte Probleme beim Gehen. Außerdem war er mit soviel Nippes und Schund gefüllt, dass es ständig klapperte und schepperte, wenn er sich etwas zu schnell bewegte. Die mächtigen roten Stiefel knarrten ebenfalls bei jedem Schritt im Schnee.

Glücklicherweise wurden die meisten Geräusche von den vorbeifahrenden Autos verschluckt, deren Fahrer keinerlei Notiz von dem dicken Mann mit der knallroten Pudelmütze nahmen. Noch zwei Schritte – dann hatte er die Kleine!

Irgendetwas musste sie aufgeschreckt haben. Jedenfalls dreht sie sich ganz plötzlich zu ihm um und sah ihm direkt in die Augen.

„Bist Du der Weihnachtsmann?“ fragte sie mit einem bezaubernden Stimmchen. „Hast Du mir etwas mitgebracht, lieber, lieber Weihnachtsmann?“

Mist! Verdammt. Warum musste sie sich auch ausgerechnet in diesem Moment umdrehen? Jetzt blieb ihm gar nichts anderes übrig, als zum x-ten Mal die Show abzuziehen, die ihn wirklich total ankotzte. Er hasste es, wenn er nicht gleich zum Ziel kam.

„Jawohl, liebes Kind. Ich bin der Weihnachtsmann. Ob ich Dir etwas mitgebracht habe? Ja, warst Du denn auch immer brav und artig, hm?“

Diese bescheuerten Gören fuhren ja voll darauf ab, wenn er nicht gleich seinen Sack öffnete, um irgendwelchen Hongkong-Krempel herauszukramen. Was interessierte es ihn, ob sie brav und artig war? Überhaupt nicht! Es war ihm so egal, wie ein Sack Reis, der in China umfiel.

„Meistens schon, lieber Weihnachtsmann. Nicht immer. Manchmal habe ich vielleicht nicht gleich gehört, wenn Mama mich gerufen hat. Ist das schlimm? Bekomme ich nun nichts von Dir? Darf ich mir nichts aus Deinem Sack aussuchen...?“

Wie kann man nur so blöd sein! Besonders die Eltern. Kaum laufen die Kinder einem dicken Kerl im roten Mantel über den Weg – und schon erzählen sie ihm ihre Lebensgeschichte. Aber war soll’s!

Bevor noch Leute auf ihn aufmerksam wurden, musste er wohl oder übel sein Spiel zuende spielen.

„Wünscht Du Dir denn etwas Besonderes? Was gibt es, dass Du unbedingt haben möchtest?“

Das kleine Mädchen sah ihn etwas verlegen an. Sie schien sich nicht ganz sicher zu sein, ob sie ihren Wunsch auch wirklich vortragen durfte.

„Na sag schon, Kleine. Mir kann man alles erzählen. Ich bin doch der Weihnachtsmann...!“

Grauenhaft, immer den lieben alten Mann spielen zu müssen. Wenn die Kleine nur noch einen winzigen Moment in die andere Richtung gesehen hätte, dann wäre ihm eine Menge Arbeit erspart geblieben. Wahrscheinlich fing sie jetzt an, ihm ihre gesamte Wunschliste vorzubeten.

„...darf ich mir vielleicht ein neues Kleid wünschen, lieber Weihnachtsmann? Es muss bestimmt kein teures Kleid sein, weißt Du? Einfach nur ein Kleid. Ist auch völlig egal, wie es aussieht. Ich könnte dann ab und zu mal ein anderes Kleid anziehen, als immer nur dies hier...!“

Ach? Hatte er diesmal ein bescheidenes Kind erwischt? Keine Sonderwünsche? Kein Gameboy? Keine teure Uhr? Keine Markenjeans? Nur ein Kleidchen?

„Kein Problem, Kleine. Du darfst Dir das schönste Kleidchen aussuchen, dass ich habe. Und weil Du so bescheiden bist, werde ich Dir gleich ein ganzes Dutzend Kleider schenken. Na? Ist das nicht toll? Freust Du Dich?“

Schleim. Sülz. Immer dieses Geschwafel, bevor man zur Sache kam. Ein Grund mehr, weshalb er Kinder auf den Tod nicht ausstehen konnte. Immer wollten sie, dass man sich mit ihnen unterhielt. Sie wollten Aufmerksamkeit. Merkten diese kleinen Bestien nicht, wie sehr sie ihm auf den Geist gingen?

„...und jetzt möchtest Du bestimmt wissen, wo die vielen Kleidchen versteckt sind, nicht wahr? Möchtest Du mal einen Blick in meinen großen Sack werfen, den ich auf meinem Rücken habe? Ja? Bist du schon ein wenig neugierig...?“

Endlich konnte er den Sack von seinen Schultern wuchten. Unauffällig sah er sich nach allen Seiten um. Ein idealer Moment. Niemand schien sie zu beachten. Keine würde etwas merken, wenn er nun endlich seine Arbeit beenden konnte.

Schnell öffnete er den Sack und bat das Mädchen, etwas näher zu kommen.

„Komm schon, Kleine. Sieh nur ganz tief hinein. Die Kleidchen sind ganz, ganz tief unten im Sack...!“

Mit einem geübten Handgriff packte er das Mädchen am Genick und ließ sie im Sack verschwinden. Anfangs zappelte und strampelte sie wild – aber nach ein paar Minuten herrschte endlich Ruhe.

„Sieben. Das reicht wohl für heute...!“ dachte sich der Weihnachtsmann, bevor er sich auf den Heimweg machte. „Wenn’s morgen genauso gut läuft, wird mein Chef zufrieden sein.“

In letzter Zeit hatten sich die Wunschlisten der Erwachsenen verändert. Wünschten sie sich früher eine Stereoanlage oder ein neues Auto, so waren es jetzt Kinder. Natürlich musste sich die Weihnachtsmann KG den neuen Wünschen ihrer Kunden anpassen, um nicht völlig vom Versandhandel verdrängt zu werden.

Der Kunde ist König – und das Geschäft ist knallhart geworden! Zufrieden machte der Weihnachtsmann einen Haken auf seiner Liste, auf der ein kleines bescheidenes Mädchen gesucht wurde.

„Wenn das keine Extraprämie gibt...!“ dachte er und stimmt ein fröhliches Weihnachtslied an.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.12.2001. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Langsam gehe ich auf das sechzigste Lebensjahr zu. Da hinter mir nahezu jede emotionale Erinnerung »verschwindet«, besitze ich keinerlei sichtbare Erinnerung! Vieles von dem, was ich Ihnen aus meinem Leben berichte, beruht auf alten Notizen, Erinnerungen meiner Frau und meiner Mutter oder vielleicht auch auf sogenannten »falschen Erinnerungen«. Ich selbst erinnere mich nicht an meine Kindheit, Jugend, nicht an meine Heirat und auch nicht an andere hochemotionale Ereignisse, die mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin.

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