Mein elfter Geburtstag
Als ich ein kleiner Junge war, hatte ich einen Traum. Ich wollte wissen, wie
all die Dinge um mich herum sein werden, wenn ich einmal erwachsen bin. Werde
ich vielleicht einmal ein Lehrer sein? „Herr Rassmus? Warum ist eins
plus eins zwei?“. Wo werde ich sein, wo wohnen? Werde ich Steffi
heiraten? Ina? Katinka? Werde ich Babys haben? Drei, vier …acht
vielleicht? Wie werden meine Eltern aussehen? Wie die DDR? Was werden meine
Geschwister Kai und Sven machen? Einmal träumte ich, ich wäre ein
Kosmonaut und flöge zum Mond. Mir ging das Benzin aus …keine
Rückreise. Ich habe geweint …ganz, ganz doll geweint. Meine Mama
war da. „Finni. Du hast nur schlecht geträumt.“, hatte sie
gesagt und mir ganz sanft die Tränen von der Wange gewischt. Ich habe
einfach weiter geweint, weil ein siebenjähriger Knopf nicht weiß,
dass ein Traum nur ein Traum ist.
Auf dem
Mond ist es dunkel und kalt. Kein Blau oder Gelb …kein Regenbogen. Es
gibt keine schwarzen und keine weißen Wolken. Ich kann nicht im Regen
tanzen, keine grüne Wiese, keine Butterblumen, an denen ich riechen kann.
Es gibt keinen Regenwurm, den ich vorsichtig ins Feld lege, weil ich nicht
möchte, dass ihn jemand zertritt. Keine Oma, die mich tröstet, wenn
ich weine. Es gibt keine Rehe, die ich füttern darf und keinen
Schneeball, den ich Mischa ins Gesicht werfen kann. Ich werde keinem
Mädchen an den Zöpfen ziehen und werde keines küssen. Es gibt
keine Cousine, die mir sagt, dass ich ihr Lieblingscousin bin und auch keine
freundliche Lehrerin, die mich in den Arm nimmt, weil ich wegen einer
„Zwei“ in Mathe weine. „Finn.“, würde sie leise
sagen. „Indianer …Indianer weinen nicht.“. Und dabei wird
sie mir vorsichtig durch meine Haare streichen.
Ich möchte kein Indianer sein. Auf dem Mond gibt es auch keine
Indianer.
And now? Once
upon a long long ago …
…ein
kleiner Junge. Sein Name? Finn. Und weil man diesen Namen so wundervoll
verniedlichen konnte, nannten ihn alle nur Finni. „Finni, würdest
du bitte die Tafel putzen?“. „Finni, magst du mit mir gehen?
“. „Finni, wollen wir Fußball spielen?“. Ja selbst:
„Finni. Ich würde dich gern anfassen …streicheln
…küssen.“. Halt. Stopp. Das wird etwas später sein.
Nicht in dieser Zeit.
Montag, 21. Dezember
1981. Vorletzter Schultag vor den Ferien.
Ich
spüre einen sanften Kuss an meiner Wange und versuche ihn wegzuwischen.
Ich erwache. Hatte ich geträumt? Schlecht geträumt? Nein. Ich war
kein Kosmonaut und auf dem Mond war ich auch nicht gelandet. Nicht einmal die
Frage „Was wird einmal sein?“. Kein Traum. Ich reibe meine Augen.
Mama?
„Mama? Was ist …warum
…?“.
Meine Mama sitzt neben mir
auf dem Bett. Verschlafen? Habe ich vielleicht verschlafen? Wecker? Wo ist der
Wecker? Er hat nicht gebimmelt.
„Alles
Liebe zu deinem Geburtstag mein Schatz. Ich hab dich ganz doll lieb.“,
meine Mama drückt mich fest …fester. Sie flüstert mir ins
Ohr: „Jetzt bist du schon groß.“. Einen Kuss auf den Mund.
Nein, nicht das …bitte nicht. Ich schaue auf den Wecker.
„Schule?“, frage ich hastig. „Ist heute Schule?“
„Natürlich Schatz.“
„Und
Weihnachten?“
Meine Mama lacht. „Noch drei Tage.
Heute ist erst einmal dein Geburtstag. Elf …jetzt bist du schon elf
…“, meine Mama schluchzt ein wenig. Eine winzige Träne.
„Mama, du musst nicht weinen.“
„Schon
gut, mein Großer. Steh bitte auf. Frühstück wartet.“
Ich stehe auf. Meine Schlafhose hängt an
mir, als würde sie jeden Moment herabfallen. Ich bin zu dünn,
vielleicht ist die Hose auch zu groß. „Schwierig etwas passendes
für dich zu finden.“, sagt meine Mama immer. Also doch zu
dünn. Aber ich esse doch. Egal. Das Badezimmer erwartet mich bereits.
Eilig? Eilig habe ich es nicht. Ich freue mich…freue mich auf den Tag.
Geburtstag. Einmal im Jahr Geburtstag. Ich lache heimlich und springe drei
Stufen gleichzeitig hinab …
Auf dem
Weg nach unten niemand, der mir entgegenkommt, keiner der mich erwartet.
Ungewöhnlich. Sonst steht immer schon meine Oma an der Treppe und
drückt mich. Egal.
Die Badtür
sperre ich ab. Das macht man so, wenn man groß ist. Hose runter
…komisch. Der ist ja immer noch so klein. Sagte nicht meine Mama, dass
ich ab jetzt gr0ß bin? Vielleicht meinte sie nicht alles an mir. Das
Wasser ist ausnahmsweise mal warm. Wahrscheinlich weiß das Wasser, dass
ich heute Geburtstag habe. Zähne putzen. Zahnbürste? Wo ist meine
Zahnbürste? Es klopft an der Türe.
„Finni. Ich hab dir eine neue Zahnbürste hingelegt. Die
blaue.“
„Danke Mama.“
Die blaue also. Zähnchen geputzt. Kein neuer Zahn gewachsen und
keiner wackelt. „Tut mir leid, Zahnfee“, sage ich und schaue in
den Spiegel. Kein Pickel. Frank aus der Siebenten sagte, dass man mit elf
Pickel bekommt. Pfff …ich sehe nichts. Noch kurz gekämmt.
Unnütz.
In der Küche warten bereits
alle. Erst mein Papa. Der drückt mich, dass mir die Luft wegbleibt.
„Alles Gute zum Geburtstag mein
Großer.“, sagt er.
„Papa. Ich glaube, ich bin
noch nicht groß.“
„Aber natürlich bist du
das.“
„Aber als ich vorhin im Bad …“
„…komm her mein Finni.“, unterbricht mich meine
Oma.
„Du bist so ein lieber Junge.“, und drückt
mir fünfzig Mark in die Hand.
„So viel Geld?“,
frage ich.
„Mama.“, sagt meine Mama zu ihrer Mama,
meiner Oma. „Zwanzig Mark hätten auch gereicht.“
„Lass mich doch. Ich hab doch genug.“
„Kriegen
wir auch was?“, fragt Sven.
„Ihr habt erst im August
wieder Geburtstag.“, sagt meine Mama und die Zwillinge bocken gemeinsam.
Zwillinge eben.
„Hier ihr beiden.“, meine Oma gibt
den Jungs zehn Mark.
„Deine Geschenke gibt es heute
Nachmittag.“, sagt meine Mama.
„Ja Mama.“
„Wer kommt zu deinem Geburtstag?“, fragt meine Oma.
„Mischa und Volker und Jens.“
„Kein
Mädchen?“, fragt meine Oma und ich verziehe das Gesicht, als
hätte ich eine Zitrone gegessen.
„Nein Omi, keine
Mädchen.“
„Wie schade.“, sagt sie noch und
schlürft ihren Kaffee.
Auf dem Tisch
eine Torte mit elf Kerzen. Ich hole tief Luft und …alle auf einen
Streich. Meine Mama drückt mich noch einmal und schneidet ein Stück
Kuchen für mich ab. Obstkuchen. Mandarinen sind es nicht und Bananen auch
nicht. Eine einheimische Frucht eben. Die Zwillinge sitzen am Tisch und
stecken sich gegenseitig die Finger in die Nase. Das tun sie immer.
„Hört auf damit.“, sagt meine Mama und mein Papa
verabschiedet sich und geht auf Arbeit.
Der
Kuchen ist nun in meinem Bauch. Jetzt noch die Schulsachen eingepackt.
„Hast du heute Schule?“, fragt Kai und
ich nicke.
„Aber du hast doch Geburtstag?“, ich
lächle kurz, streichle dem Kleinen über den Kopf und gehe in mein
Zimmer.
Was habe ich heute eigentlich? Eine
Stunde Biologie, eine Erdkunde, zwei Stunden Mathe und zwei Stunden Sport.
Brrr …Sport mag ich überhaupt nicht. Bestimmt wieder Handball.
Letzte Woche hab ich einen Ball auf die Nase bekommen. Nasenbluten. Das war
nicht lustig. Aber geflennt hab ich nicht, nicht vor den Mädchen.
Später dann und auf dem Klo für Jungs.
An der Türe bimmelts. Bestimmt Mischa. Der holt mich immer ab. Nein,
doch nicht. Meine zweite Oma.
„Komm her
mein Junge. Alles Gute …“
„Danke Oma.“
„Hier, das ist für dich.“, ein Kuvert.
„Danke Oma.“, einmal fest gedrückt, Kuss auf die
Wange.
„Magst du nicht wissen, was drin ist?“
„Geld Oma, oder?“
„Schau nach?“,
ich schaue. Auch fünfzig Mark.
„Mama. Das ist viel zu
viel. So viel braucht der Finn noch nicht.“
„Was hab
ich im Gesicht?“, meine Oma hat ein Hörgerät.
„Mama. Dein Hörgerät muss erneuert werden.“, sagt meine
Mama zu meiner Oma.
„Mamaaaaa.“, schreit Sven.
„Ich will noch Kuchen.“
An der Türe bimmelts
noch einmal.
Meine Mama ist genervt. „Das halt ich nicht
aus.“
Mischa ist da. Der reicht mir die
Hand und „Alles Gute …blablabla“. Ich sage
„Danke“ zu Mischa. Anorak und Pudelmütze drüber. Warum
hab ich mich eigentlich gekämmt? Stiefel. Wo sind meine Winterstiefel? Da
sind sie ja. Anziehen. Auweia, ich hab ein Loch im rechten Socken. Wenn das
meine Oma sieht. Jetzt aber schnell weg. Ich sag noch
„Tschüss“ zu Mama und Oma und weg bin ich. Nach dreißig
Metern drehe ich mich noch einmal um. Die Zwillinge winken mir hinterher und
Kai flennt fast, weil ich an meinem Geburtstag in die Schule muss.
Mischa fragt: „Was hast du bekommen?“
„Geld“, sage ich.
„Und wieviel?“
„Weiß nicht. Viel glaube ich.“
„So viel?“
„Hundert Mark? Vielleicht ein
bisschen mehr.“
Auf dem Schulhof das
gewohnte Bild. Wir gehen schnell rein. Draußen ist es kalt wie in
Sibirien. So also muss sich Katinka jeden Morgen fühlen. Na danke auch.
Im Klassenzimmer angekommen, werde ich von
Glückwünschen überhäuft. Zuerst Jens, das Stinktier.
„Alles Gute zum Geburtstag.“
„Danke.“, sag ich.
Jetzt Uta. „Alles Gute,
lieber Finni.“
„Danke.“, sag ich.
Steffi und Konstanze, Peter, Frank, Simone und Evi. Einfach alle kommen, um
mir zu gratulieren. Dabei ist es nur ein elfter Geburtstag. Ich freue mich
trotzdem und hab 'ne feuerrote Birne. Zum Schluss Moni.
„Alles Gute. Finni. Ich hab dir was gebastelt.“
„Danke Moni.“, sage ich zu ihr. Küssen mag ich sie nicht,
weil ich zum Küssen noch nicht tauge. Es werden noch einmal anderthalb
Jahre vergehen, ehe ich das erste Mal …
Zwei Stunden Mathe bei Herrn Hemsing. Der will Mathe durchziehen, weil
Mathe eben wichtig ist.
Peter meldet sich.
„Ja Peter? Was gibt's?“.
„Der Finni hat
heute Geburtstag.“.
„Ist das so, Finn Rassmus?
“, ich nicke verlegen.
„Dann komm mal nach
vorne.“.
Glückwunsch hier, alles
Gute da. Herr Hemsing umarmt mich nicht und einen Kuss bekomme ich auch nicht
von ihm. Puhh, das war knapp. Mathe machen wir trotzdem.
Fläche einer Kugel berechnen. „Das hatten wir
schon.“, sagt der Lehrer. Jens meldet sich und sagt, dass er nicht
mitkommt. „Ich kann mir das mit dem π (Pi) nicht merken.“. Das
war mir klar. Jens kennt nur den Bauchumfang seiner Stallhasen. Der Lehrer-
Hemsing kritzelt die Zahl π (Pi) an die Tafel und Volker zeigt dem Jens die
π -Taste an seinem Taschenrechner. Frank schreibt in aller Ruhe einen
Zettel und schiebt ihn zu Evi weiter. π(Pi) steht da sicher nicht drauf.
Der Lösungsweg der Mathe-Aufgabe ist mir jetzt mal richtig egal. Ich
beobachte lieber den Weg, den der Zettel geht. Evi steckt den Zettel zu
Karsten und Karsten weiter zu Simone. Simone schaut kurz zum Lehrer und
drückt den Fetzen der Uta in die Hand. Uta also. Aha. Irgendwie passen
die nicht zusammen. Uta ist einen halben Pionierschädel größer
als Frank. Außerdem ist Uta eine Sportskanone und Frank springt beim
Weitsprung kürzer als meine Zwillingsgeschwister Kai und Sven. Und die
sind Sechs.
Bimmel, Bimmel …kurze
Pause. Uta rennt mit Konstanze auf Klo. Die werden jetzt den Frank unter sich
aufteilen. Frank ist ein beliebtes Objekt, ein Mädchenschwarm, weil der
auf Befehl rülpsen kann, an Mopeds schraubt und schon ein Pickel im
Gesicht hat. Der ist ein Jahr älter. Sitzengeblieben. Simone erklärt
dem Jens das mit π (Pi) und Jens erzählt von seiner trächtigen
Katze. Der is blöd, wie ein Stück hartes Brot. Volker und Evi wollen
von mir wissen, was ich zum Geburtstag bekommen habe und Moni wartet, bis ich
ihr Geschenk auspacke. Und als ich es tun will …Bimmel, Bimmel
…du lieber Himmel.
Nochmal Mathe. Der
Hemsing-Lehrer gibt nicht auf. Bis zum letzten Tag des Jahres. Immer noch die
Kugel. Mir is das zu langweilig. Aus dem Fenster glotzen kann ich nicht, weil
es draußen noch düster ist. Außerdem sind keine Vögel
da. Alle abgehauen. Republikflucht nach Süden. Vielleicht in die CSSR
oder Sibirien. Liegt ja irgendwie im Süden. Ich höre noch ein
„Warum musst du eigentlich immer so oft auf Toilette, Peter?“ und
die halbe Klasse kichern. Zehn Minuten vor Ende der Stunde macht der Lehrer
Schluss mit Kugel und Kegel, wünscht uns allen eine frohe Weihnachtszeit
und eine guten Rutsch. „Danke, ihnen auch.“.
Bimmel, Bimmel …große Pause. Keiner will raus auf
den Hof aber alle müssen. Ich muss auch …auf Klo. Auf dem Weg
dorthin kommt mir Petra entgegen. Petra ist meine Nachbarin und geht in die
achte Klasse.
„He Finni. Hast du nicht
heute Geburtstag?“
„Woher weißt du das?“
„Hast du oder hast du nicht?“
„Ja.“, sage ich und gehe weiter.
„He,
hiergeblieben.“, Petra zieht mich am Arm. „Wie alt bist du
geworden?“
„Elf.“
„Elf also.
Du siehst nicht aus wie …
…das Jahr 2020
Ich sitze am Bett meiner Tochter und flüstere: „Aufstehen
Schatz.“
„Was ist …Papa, was machst du hier?
Habe ich verschlafen?“
„Nein, meine Große. Du
hast Geburtstag …heute ist dein Geburtstag. Alles Gute wünsche ich
dir.“, ich drücke meine Tochter, ein Kuss auf ihre Wange.
Zoè wischt ihn weg.
„Elf Jahre bist du nun
schon.“
„Geburtstag? Elf?“
„Du schläfst ja noch.“, sage ich und lache. Ich bemühe
die Blechdose „Alexa“ die in ihrem Zimmer steht.
„Alexa. Welcher Tag ist heute?“, sage ich. Kurze Stille.
„Heute ist Donnerstag, der dreiundzwanzigste April
Zweitausendzwanzig. Möchtest du noch etwas wissen?“
„Was sagst du?“, frage ich.
„Geburtstag, mein
elfter Geburtstag.“, sagt Zoè und lächelt. „Habe ich
Schule heute?“
„Nein Schatz. Ihr habt Ferien. Magst
du frühstücken?“
„Ich komme Papa.“
Bis zu diesem Zeitpunkt glaubte ich, alles auf
dieser Welt sei einmalig, doch es gibt Dinge, die sich zu wiederholen
scheinen. Dinge, die sich so unglaublich ähneln, dass es schon fast wie
ein Wunder anmutet.
Mein Traum von damals?
Die Fragen wurden bereits beantwortet. Ein Lehrer ist nie aus mir geworden.
Ich habe weder Steffi noch Ina noch Katinka geheiratet. Zwei Kinder, das muss
reichen, weil ich für acht nicht geschaffen bin. Meine Eltern sehen noch
immer so liebevoll aus, wie früher und die schöne DDR gibt es nicht
mehr. Ich musste niemals auf den Mond landen und werde ihn wohl in diesem
Leben nicht mehr betreten. Was ist geblieben, von dem kleinen Finni von einst?
Schaue ich in die Augen meiner Tochter
Zoè, dann weiß ich es.
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Finn Rassmus).
Der Beitrag wurde von Finn Rassmus auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.09.2021.
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