Christian Müller

One fine day...06: Dirty Pop

Auf den meisten Fotos sehe ich scheiße aus. Wenn ich in den Spiegel sehe, bin ich erleichtert, aber, wenn ich länger darüber nachdenke, muss ich letztendlich eingestehen, dass der Fotoapparat ein Gegenstand ist, der- im Gegensatz zu mir- keinerlei Wunschdenken hegt. Die Bauteile sagen es schon: Der Fotoapparat sieht mich durch ein Objektiv.
Dazu kommt noch, dass Fotos Momentaufnahmen sind, oft wird man in einer ganz normalen Situation geknippst- und gerade dann sieht man besonders scheiße aus. Das heißt also praktisch, dass ich immer scheiße aussehe. Pech gehabt, Arschkarte.
Aber zum Glück gehöre ich nicht zu einer Minderheit, denn eigentlich sehen die meisten Menschen scheiße aus.
Ausnahmen sind auf den ersten Blick nur die Leute aus dem Fernsehen. Aber wenn man sich die Jungs und Mädels mal genauer ansieht, merkt man, dass sie auch nicht viel besser aussehen als der Orthonormalverbraucher. Wäre ich geschminkt und würde ich im richtigen Licht stehen, würde ich sicherlich auch eine gute Figur machen.
Also habe ich beschlossen, mich ab jetzt zu schminken und einen Scheinwerfer am Stock bei mir zu führen, wenn ich auf die Straße gehe.
Das ganze Gerede erinnert mich an das Konzert von “Echt“ (Wir erinnern uns: Eine Zeitlang war es eine total angesagte Band, welche die Herzen aller Mädchen brach. Heute sehen sie eher aus wie Psychologie- Studenten am Abgrund des Seins.), auf dem ich im zarten Alter von zwölf Jahren war. Ich weiß nicht genau was mich damals geritten hat. Es war einfach eine angesagte Band, die ausnahmsweise mal in Braunschweig spielte, und obendrein kosteten die Tickets nur 25 Mark.
Sie traten im “Meier´s“ auf und sind ein konkretes Beispiel dafür, wie Hässlichkeit im Biz vertuscht wird. Gerade mal eine handvoll Weiber kam den Jungs nah genug, um theoretisch ihre Pickel ausdrücken zu können; die Pickel, die der Rest der Zuschauer nicht sehen konnte, da es nicht einmal Leinwände gab. Ich stand relativ weit hinten, wo ein älteres Mädchen mich malträtierte, indem sie mir dauernd gegen den Kopf schlug, während sie zur Musik rockte. Irgendwann knallte jedoch mein Kopf gegen den eines anderen Mädchens. Die Kleine (war immerhin größer als ich damals...) drehte sich um, sah mich an, sah das Weib an, dass schockiert glotzte, und hackte ihr die Fingernägel in die Fresse.
Tja, da hat die Alte nichts mehr gesagt.
Ihre hysterischen Freundinnen zogen sie weg, während meine Retterin mich anlächelte und weiter das Konzert genoss, für welches sie sich eines Tages, genau wie ich, schämen würde.
Ich glaube, sie hat nicht einmal mein “DANKE!“ verstanden.
Das war also mein aller erstes Konzert, und das erste von insgesamt zwei Mainstreamkonzerten.
Das auf “Echt“ folgende Konzert zählte allerdings nicht zum Mainstream. Diesmal, wir schrieben das Jahr 2002, verschlug es mich nach Hannover in die Preussag- Arena, wo die böhsen Onkelz sich die Ehre gaben. Damals erinnerte ich mich an mein erstes Konzert zurück, als ich drei Stunden Schlange stand, und es nach kurzer Zeit schon so eng in der Schlange wurde, dass man nicht mal mehr hinfallen konnte, geschweige denn seine Arme hochnehmen (“WIE SPÄT?“-“Ha-Ha-Ha.“).
Und das waren kleine Mädchen. Zu den Onkelz, dahin gingen nur die Harten und Gefährlichen, und so zog ich mir mitten im Hochsommer Boots an, um nicht Barfuss nachhause gehen zu müssen.
Aber nein. Hysterische Gören und betrunkene Rocker stehen etwa im Verhältnis zueinander wie Terpentin und Parfüm. Zu viert spazierten wir lässig in die Preussag-Arena, und ich setzte mich meiner Platzkarte folgend, auf einen, der mir nicht gehörte. Was aber nicht weiter schlimm war.
Nachdem Sub7even als Vorgruppe versagt hatte, begaben sich die Onkelz auf die Bühne. Endlich mal eine Band, die sich Leinwände leisten konnte, damit ich, der in der letzten Reihe stand, auch was sehen kann. Und diese Band hat verdammt noch mal hart für diese Leinwände gekämpft!
Das Quartette besaß Leinwände, weil sie sowieso nichts zu verlieren hatten. Ist der Ruf erst ruiniert... jeder weiß, dass sie keine Schönheiten sind. So konnte sich der Frontmann auch Gestampfe leisten, welches, wie ich im Publikum erlauschen konnte,
„Tanzen“
darstellen sollte.
Doch erst nachdem das letzte Lied, ironischerweise heißt es “Erinnerung“, gespielt wurde, geschah das, was diesen Tag in mein Gehirn brannte...
Nachdem man noch ein bisschen am Auto stand, versuchte der Exfreund meiner besten Freundin das Auto zu starten. Ich weiß was ihr erwartet: “Es gab ein Geräusch wie eine ertrinkende Sau von sich.“ - Doch nein. Es gab ein Geräusch von sich, wie ein Stummer im Tiefschlaf, was das ganze noch unheimlicher machte.
Bob(Name geändert) fuhr mit Scheinwerfern über die sonnengebräunte Autobahn, und vergaß sie auszumachen.
Weder schieben, noch ein Überbrückungskabel konnten uns helfen und langsam aber sicher, verschwanden auch die anderen Autos, zusammen mit denen, die versuchten uns zu helfen, bis wir irgendwann um halb eins mitten auf dem riesigen Expo- Parkgelände S unter einer großen Laterne standen und resignierten.
Tja, wir mussten wohl den ADAC anrufen.
“Ich hab seit drei Monaten keinen Mitgliedsbeitrag mehr bezahlt.“
Toll, Bob!
Doch auch aus dem Schlamassel bin ich lebend wieder rausgekommen.

Bei meinem dritten Konzert hatte ich da jedoch so meine Zweifel.
Ich weiß nicht mehr ob es Schicksal war, oder einfach nur ein morbider Zufall, aus irgendeinem Grund fand ich mich Anfang Juli vor der VW Halle mit einem Ticket für Deutschland sucht den Superstar wieder.
Oh yeah, ich war dabei, als die Mädels in der Mittagshitze wie die Dominosteine aus den Latschen kippten, als ein Mädchen Alexanders Haare gesehen hat,
als Achtjährige plötzlich “10 cm größer!!“ waren als Siebzehnjährige, als die Welt einigen mal wieder zeigte, wie unfair sie doch sein kann, als H2O seinen Status als Lebenselixier noch mal dick unterstrichen hat- als ich selbst für kurze Augenblicke zum kreischenden Teeny wurde.
Um die Sterberate in Deutschland etwas zu pushen, veranstalteten die Superstars ihr Konzert natürlich mitten im Hochsommer, als die Steinplatten vor der VW-Halle zu Herdplatten wurden, auf die Sarah und ich uns im Schneidersitz setzten. Während ein penetranter Schwarzmarkthändler mit italienischem Akzent versuchte uns selbstgebastelte DSDS- Feuerzeuge für 2€ anzudrehen, schaute ich mich um. Das Publikum hat mich keineswegs überrascht, es war genau die Art von Menschen, die ich erwartet habe: Durchschnittliche.
Mittlerweile hat mich der Händler unverschämterweise als “Die drei Mädels von der Tankstelle“ beschimpft(wenn ich ihn richtig verstanden habe...), weil ich ihm klar machte, dass er sich in “sein schäbiges Knie ficken“ soll und, dass “ich gleich mal die Securitys frage was sie von der Qualität seiner illegalen Feuerzeuge halten“, falls er nicht gleich “die biege“ macht. Man sieht es mir nicht an, aber wenn aufdringliche Asis mir zu frech werden, kann ich schon mal ausfallend werden.
Als wir fünf Stunden vor Einlass am Ort des Geschehens eintrafen (Ich kam mit der Absicht in die erste Reihe zu kommen, damit ich mich am Geländer abstützen kann.), war die Stimmung recht gelassen, doch mit der Zeit wurde es langsam enger.
Vier Stunden und einige Ohnmächtige, denen sensiblerweise “Nur die harten komm´ in´ Garten!“ auf dem Weg zum Sanitäterzelt hinterher gerufen wurde, später ließen uns die Wärter endlich ins Verließ, wo ich bei tropischen, allein durch Körperwärme erzeugten 30° weiter warten durfte.
Strike, dritte Reihe- Dementsprechend wurde es auch kuschelig wie im Flüchtlingslager. Und so musste man auch sparsam mit dem Wasser umgehen, das die Sicherheitsleute in Plastikbechern durch die Reihen gehen ließen. Aus Bechermangel durfte jeder nur einen Schluck nehmen, und dann weiter nach hinten geben. Pech für Leute, die Angst vor Herpes oder Ähnlichem haben. Ein Mädchen hinter mir war so Étepetéte, dass es sie nach fünfzehn Minuten des Konzerts ins Sanitäterzelt verschlug.
Womit wir auch schon soweit wären: Der Vorhang fiel, und die Flut riss mich mit in ihren Wirbel...

Konzerte haben etwas Mitreißendes.
Egal wie scheiße man die Band findet- Wer bei einem Konzert still halten kann muss eine besondere Gabe besitzen.
Konzerte haben etwas von Gemeinschaft und Befreiung. Egal wie schlecht man singt- man kann so laut mitsingen wie man will, denn niemand hört es. Egal, wie schlecht man tanzt und rumhüpft- auf Konzerten sieht der Eine eh bescheuerter aus als der Andere. Davon abgesehen achten alle nur auf die Leute, die auf der Bühne stehen.
Obwohl ich eine eher ruhige Person bin, kann ich mich bei Konzerten nicht zurück halten, und ich kenne wenige die das können.
Ist das, was bei Konzerten ausbricht, das, was die Glamourwelt in abgeschwächter Form durch den Fernseher sendet?
Wird der Zauber stärker, je näher man dieser Wunderwelt kommt?
Ich mag Popkultur und Kommerz. Man könnte sagen ich liebe sie, wohlwissend, dass alles doch nur Schein und Trug ist.
Diese skurrile Welt aus Farben und Lichtern, verborgen in Nebel aus Hasch und Crack übt eine Wahnsinnige Faszination auf mich aus. Beschreibt sie nicht das Mensch-Sein in seiner absonderlichsten und doch ehrlichsten Form? Das Showbiz im Allgemeinen ist die umgekehrte Reflektion der realen Welt. Aus Hässlich wird schön, aus grau wird bunt, aus Dunkelheit wird Licht, aus Alltag wird ein Erlebnis, und aus Tragik ein Spektakel. Und doch ist sie ein Spiegel, in dem wir unsere eigene Maske realisieren, die Maske, die jeder von uns ebenso trägt wie das Showgeschäft.
Ist das diese Traumwelt vielleicht die Parallelwelt, die Dimension X, die alle suchen? Im Grunde ist doch jeder Star ein kleines Atlantis, das auf dem Höhepunkt seiner Kultur für immer in der Versenkung verschwindet, und selten, wie der Phönix aus seiner eigenen Asche wieder aufsteigt und heller leuchtet als zuvor.
Verblüffend, diese Parallelen zwischen Showgeschäft und Märchenland, und doch nachvollziehbar.
Und wo ist der Fehler, den man macht, wenn man sich auf das Spiel einlässt? Bin ich weniger Mitläufer, wenn ich Mainstreamgruppen verabscheue? Was tun die Leute, die nur Underground- Musik hören, wenn diese Musiker einen Plattenvertrag bei BMG bekommen?
Man kann es drehen und wenden- die Menschheit ist von der Popkultur abhängig, ebenso wie diese abhängig ist von der Menschheit.
Ich sehe kein Manko darin, wenn man sich in diesen Wirbel aus schillernden Farben und falschem Gelächter fallen lässt.
Solange man weiß, was man tut.
Ich kann das alles mit meinem Gewissen vereinbaren.
Ob die Pop-Welt nun Schmutzig ist, oder nur von den Medien beschmutzt wird ist mir egal- Letztendlich dient sie mir nur zur Unterhaltung.

Mein Humor muss nicht jedem Gefallen.
Sicherlich strebe ich eine Zielgruppe an, zu der ich auch gehöre, über die Intellektuelle und angeblich große Literaturkenner die Nase rümpfen und den Stempel "Oberflächlich" aufdrücken.
Doch jeder sollte wissen, dass sich Oberflächlichkeit in der Be- bzw. Verurteilung anderer Menschen manifestiert.
Ich möchte keinesfalls eine "Rotzgöre der Literatur" mimen; doch ebensowenig will ich mich als stiller, frustrierter Literat geben.
Jeder hat eine Gabe. Und wenn es denn nicht das Schreiben sein soll, so ist es die vermeintliche Arroganz, die einige aus meinen Geschichten rauslesen.
Und diese Gabe kann mir keiner nehmen.

Ach ja: Ich freu mich über jegliche Art von Feedback ;)
Christian Müller, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.10.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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