Markus Weber

Eckelmanns größter Wunsch

"Unglaublich", bemerkte Doktor Jorgo. "So ein Fall ist mir in meiner ganzen Praxis noch nicht vorgekommen!"
Er schüttelte seinen länglichen kahlen Schädel und ging langsam um den Patienten herum. Zu seiner Rechten hatte sich dessen Frau angstvoll auf einem Sessel niedergelassen.
Ihre schulterlangen dunklen Haare waren zu dieser frühen Stunde noch durcheinander. Das Kleid war schlicht und einfach und nur in aller Eile übergezogen worden. Die schmale, goldfarbende Brille auf ihrer Nase verlieh ihr auch in dieser ungewöhnlichen Situation noch eine gewisse Autorität.
"Seit wann ist er in diesem Zustand, sagen Sie?"
"Seit gestern Abend. So wie er jetzt da sitzt ist er eingeschlafen. Genau an dieser Stelle, und auf diesem Sessel. Er war sehr müde, und nachdem ich ihn nicht mehr wach bekommen habe, ging ich alleine ins Bett. Ich dachte er würde irgendwann schon aufwachen, um sich dann ebenfalls ins Bett zu legen."
Wie es aussieht, tat er es wohl nicht, dachte der Arzt.
"Können Sie ihm irgendwie helfen?" fragte Lisa Eckelmann ihn zögerlich.
"Nun, er scheint in einen sehr tiefen Schlaf gefallen zu sein. Ansonsten hat meine Untersuchung leider, oder besser zum Glück, nichts besonderes ergeben. Er atmet für einen Schlafenden normal. Seine Reflexe sind in Ordnung, Puls und Pupillen geben ebenfalls keinen Anlass zur Besorgnis."
"Und wie lange wird es dauern, bis er wieder aufwacht?"
Doktor Jorgo zuckte die Achseln.
Vor ihm saß Alois Eckelmann. Er war in sich zusammengesunken. Gekleidet in seinen grauen Anzug sah er so aus, als wäre er nur kurz eingenickt. Eigentlich sollte er gleich aufzustehen, um entweder in die Firma, oder vielleicht doch zum Sonntagsgottesdienst zu gehen.
Sein Kopf lag auf der Brust, und ein zögerliches Schnarchen
schlich rhythmisch aus seiner Nase. Ein Arm hing auf der Seite schlaff herab.
Was konnte diesen Mann nur dazu gebracht haben, in einen solchen Zustand zu fallen, überlegte Doktor Jorgo.
Sie hatten alles versucht, ihn gerüttelt, geschüttelt, die absurdesten Gerüche unter seine Nase gehalten, doch er hatte sich nur unbeeindruckt zur Seite gedreht und tief durchgeatmet.

"Gibt es irgend etwas, das Sie mir noch nicht gesagt haben?"
Lisa Eckelmann sah den Arzt verdutzt an.
"Nun, hat ihr Mann Tabletten oder andere Medikamente zu sich genommen, von denen ich als sein Hausarzt nichts weiß. Oder machte er irgend welche Andeutungen, die dem Ereignis voraus gingen?"
Lisa schüttelte den Kopf.
"Worüber sprachen sie zuletzt?"
"Er klagte über seine Arbeit. Schon seit Wochen hatte er sehr viel in unserer kleinen Druckerei zu tun. Früh morgens verließ er das Haus, und kehrte meist erst am späten Abend, oft sogar erst nach neun Uhr zurück. Es kam nicht selten vor, dass er mehr als vierzehn oder sechzehn Stunden unterwegs war."
"Und wie war es mit seinem Schlaf?"
"Trotz der Müdigkeit, die ihn abends befiel, und das war wohl auch kein Wunder, hatte er einen schlechten Schlaf. Tausend Aufträge und Rechnungen durchkreuzten seine Träume. Er war einfach nicht mehr in der Lage abends abzuschalten."
"Er war also überarbeitet, und konnte dennoch nicht schlafen?"
Lisa nickte.
"Er hat Ärger mit einigen Kunden, darunter ist auch einer, der uns viel Geld schuldet. Mein Mann versuchte die Firma zu retten."
Ob er wegen völliger Überarbeitung in einen Tiefschlaf gefallen sein könnte, überlegte der Arzt. In Japan kam es wohl öfter vor, dass überarbeitete Menschen ins Koma fielen, doch hierzulande hatte er von einem solchen Fall noch nie etwas gehört. Aber lehrte das Leben nicht ständig, dass einfach alles möglich sein konnte?
"Wir werden ihn zu weiteren Untersuchungen in meine Praxis
bringen", sagte er schließlich. "Vielleicht können wir ihm dort weiter helfen."
"Und wenn er nie wieder aufwacht?"
"Das glaube ich kaum. Vielmehr scheint es nur ein vorübergehender, sehr fester Schlaf zu sein. Machen Sie sich keine zu großen Sorgen."

Lisa packte das nötigste für ihren Mann in eine kleine Tasche, während Doktor Jorgo zwei Helfer herbestellte.
Niemand von ihnen hatte geahnt, wie schwierig es sein konnte, einen schlafenden Mann von ungefähr achtzig Kilogramm durch einen schmalen Korridor zu schaffen. Doch am schwierigsten war es, ihn durch das Treppenhaus zwei Stockwerke nach unten zu bringen.
Einmal stolperte einer der Helfer und sie wären beinahe allesamt die Treppe hinunter gefallen.
Alois Eckelmann hatte mit dem Schnarchen aufgehört. Statt dessen schnaubte er merkwürdig, und ein oder zweimal verschluckte er sich sogar.
Sie stiegen in einen geräumigen Volvo ein, und platzierten den Schlafenden auf der Rückbank zwischen seiner Frau und seinem Hausarzt.
"Wenn wir in der Praxis sind, werde ich einen Kollegen hinzurufen. Er hat gute Erfahrung mit Komapatienten."
Komapatienten, ein albtraumhaftes Wort für Lisa.
Die ganze Zeit hatte sie sich beherrscht, doch jetzt brach es aus ihr heraus, und sie fing an zu weinen, hemmungslos und bitter.
"Beruhigen Sie sich", versuchte Doktor Jorgo sie zu trösten. "Wir werden alles für ihn tun."
Doch Lisas Gefühlsausbruch war nicht zu stoppen, und neben ihr schlief ihr ahnungsloser Mann.

In der Praxis wurde von einer herbeigerufenen Sprechstundenhilfe ein Zimmer für den Patienten zurecht gemacht. Doktor Jorgo war der Meinung, es würde besser sein, ihn wenigstens für ein paar Stunden hin zu legen.
Ganz allmählich begann Eckelmann wieder mit seinem rhythmischen Schnarchen. Es war für alle ein beruhigendes Schnarchen. Noch nie hatte sich seine Frau dieses doch sonst so störende Geräusch so herbeigesehnt wie in diesem Moment.
Ihre Augen waren rot unterlaufen und nur mit Schwierigkeiten war es ihr möglich sich zu beherrschen.
Auf Anraten des Arztes versuchte sie sich im Nachbarzimmer ein wenig auszuruhen. Als sie auf dem Bett lag, wurde sie nur noch durch eine schmucklose Wand von ihrem schlafenden Mann getrennt.
Nach einer Weile überkam sie eine unheimliche Leere, so tief, und so bedrückend schwer wie ein schwarzes Loch.

Nebenan war inzwischen Doktor Welter, der alarmiere Kollege, eingetroffen.
Die erneute Untersuchung ergab jedoch keine weiteren Hinweise auf die Ursache dieses ungewöhnlichen Schlafes. Später nahm Doktor Jorgo neben seinem Patienten Platz. Nachdenklich runzelte er die Stirn und beobachtete den schlafenden Mann genau.
"Ich weiß mir keinen Rat mehr", sagte er beinahe kraftlos. "Wo kann nur die Ursache dafür liegen?"
"Vielleicht ist es eine Krankheit, vielleicht sogar ein Virus, das diesen Schlaf eingeleitet hat?"
Doktor Jorgo sah zu seinem Kollegen auf.
"Glauben Sie das?"
"Es könnte zumindest doch möglich sein."
Ein Virus, das einen nicht enden wollenden Schlaf auslöst? Doktor Jorgo kam dieser Gedanke absurd vor.
Einige Zeit, nachdem sein Kollege wieder gegangen war, stand er auf, ging zu seinem Schreibtisch hinüber, griff nach einigen Büchern aus dem Regal, und begann darin nach verwandten Hinweisen zu suchen.
Er ertappte sich dabei, immer wieder an die Idee seines Kollegen zu denken.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen.
Die Sprechstundenhilfe erschien mit leichenblassem Gesicht.
"Mein Gott, was ist los Rita?"
Die junge Frau blickte zuerst den Arzt an, und dann den schlafenden Patienten.
"So sagen sie schon!"
"Eben kam ein Anruf von Doktor Welter", begann sie zögerlich.
"Und, was sagte er? Hat er etwas herausgefunden?"
Rita schüttelte den Kopf.
"Er sagte es gibt einen zweiten Fall." Bei diesen Worten blickte sie wieder zu Eckelmann hinüber. "Sie sollen so schnell wie möglich zu dieser Adresse fahren."
Sie hielt ihm einen Zettel entgegen, betrat aus Furcht jedoch nicht das Zimmer.
Einen Moment verstand Doktor Jorgo ihre Worte nicht. Wirr folgen sie durch seinen Kopf, und erst nach einigen Augenblicken wurde ihm klar, was sie bedeuteten:
Ein weiterer Fall dieser unerklärlichen Schlafkrankheit!
Er sah nach der Zeit. Es war bereits kurz nach neunzehn Uhr.
Gleichzeitig sprang er auf, und riss der jungen Frau die Adresse aus der Hand.
"Lassen Sie niemanden zu ihm hinein. Wir haben es vielleicht mit einer Epidemie zu tun!"
Er zog die Tür hinter sich zu und eilte nach draußen.

Unterwegs übertrat er beinahe jede Geschwindigkeitsbeschränkung. Einmal glaubte er sogar noch eine rote Ampel überfahren zu haben. Doch die entsetzliche Möglichkeit einer sich ausbreitenden Schlafkrankheit rechtfertigte sein Verhalten.
Als er an der angegebenen Adresse ankam, sah er gerade noch seinen Kollegen den Wagen verlassen.
Doktor Welter drehte sich um und wartete auf der Treppe.
"Was ist los?" rief Doktor Jorgo ihm entgegen.
"Ich weiß es selber noch nicht. Doch ich habe einen Anruf von einer meiner Patientinnen bekommen, die behauptete, ihr Mann sei
nach dem Mittagessen eingeschlafen, und nun nicht mehr wach zu bekommen."
"Das hört sich nicht gut an."
"Gleich werden wir Näheres wissen", sagte Doktor Welter, und sie eilten die Stufen hinauf.
Kaum waren sie oben, öffnete sich auch schon die Tür.
Eine sehr alte Frau erschien. Mit ihrem Rheuma konnte sie sich kaum bewegen. Ihr dürrer, gebeugter Körper litt schon seit vielen Jahren an schweren Schmerzen.
"Gut, dass Sie da sind", begrüßte sie die beiden Ärzte. "Edgar will einfach nicht mehr aufwachen!"
"Wir werden ihn untersuchen. Haben Sie keine Angst. Wo ist er jetzt?" fragte Doktor Welter.
"Geradeaus, im Wohnzimmer."
Sie durchquerten den Flur. Die Wände waren voll mit Bildern, die offensichtlich aus Zeitschriften herausgeschnitten worden waren.
Landschaften, Tiere, Heilige.
Das Wohnzimmer war recht groß und geräumig. Gegenüber der Tür stand das Sofa, und darauf lag ein uralter grauhaariger Mann.
Seine Arme waren über der Brust verschränkt, und sein Kopf ruhte auf einem dicken Stapel himmelblauer Kissen.
Als die beiden Ärzte näher traten, überkam Doktor Jorgo ein ganz anderer Verdacht.
Sie fühlten nach dem Puls, öffneten ein Auge und betrachteten sich seine Pupille. Aber hier bestand kein Zweifel.
Merkwürdig erleichtert sahen sich die beiden Ärzte an. Der Mann war an Altersschwäche gestorben, und seine Frau, die Gute, hatte es nicht erkannt. Vielleicht hatte sie auch nicht damit gerechnet, denn ihr Mann war trotz seines hohen Alters noch recht gesund gewesen. Durch ihre schwere Krankheit war sie immer davon überzeugt gewesen, einmal vor ihm zu sterben.

In der Praxis war es inzwischen zu einem Tumult gekommen. Als Doktor Jorgo die Tür öffnete, hörte er das hysterische Schreien von Lisa Eckelmann.
"Was ist hier los!"
"Mein Mann ist tot!", schrie sie verzweifelt. "Und niemand hat es mir gesagt."
Entsetzen packte den Arzt. Konnte Eckelmann während seiner Abwesenheit einfach gestorben sein? Wie leichtsinnig war es von ihm doch gewesen, einfach davon zu fahren, ohne ihn weiter beobachten zu lassen.
"Was soll das bedeuten?" wandte er sich sichtlich geschockt an seine Sprechstundenhilfe.
Doch diese hob abwehrend die Hände.
"Er ist nicht tot. Seine Frau will es mir nur nicht glauben. Weil ich doch niemanden zu ihm hineinlassen sollte", fügte sie noch hinzu, ängstlich, die Anweisungen des Arztes vielleicht doch missverstanden zu haben.
Doktor Jorgo ließ sich den Schlüssel geben und öffnete die Tür.
"Überzeugen Sie sich", sagte er nun wieder selbstsicher zu Lisa gewandt.
Doch dann blieb er völlig überrascht in der offenen Tür stehen.
Damit hatte er jetzt überhaupt nicht gerechnet:
Auf dem Bettrand saß Alois Eckelmann und streckte sich gerade ausgiebig. Als er aufsah, erblickte die drei zu Salzsäulen erstarrten Personen.
"Was ist los, und was war das für ein Lärm da draußen. Wo bin ich hier eigentlich?" fragt er und erhob sich langsam.
Nun brach die Freude aus Lisa heraus.
Sie stürzte in den Raum hinein. Als sie ihren Mann erreichte, zögerte sie einen sehr kurzen Moment. Und wenn es doch nur ein Traum ist, dachte sie. Doch sogleich spürte sie seine Hand und sie sah seine Augen, und dann wusste sie, dass es kein Traum war.

Alois Eckelmann war zuerst sprachlos, als ihm von seinem fast vierundzwanzig Stunden andauernden Schlaf berichtet wurde.
"Haben Sie denn überhaupt nichts von all dem mitbekommen? Von den Untersuchungen, dem Transport die Treppe hinunter, oder der Fahrt mit dem Wagen?", fragte Doktor Jorgo interessiert. Doch
Eckelmann schüttelte nur den Kopf. Er war nachdenklich geworden.
"Können Sie mir vielleicht verraten, wie Sie zu diesem ungewöhnlichen Sonntagsschlaf gekommen sind?"
Eckelmann zuckte mit den Achseln. Er hatte eine Ahnung.
"Als ich gestern Abend müde wurde", begann er zögerlich, "da sagte ich mir, ich wolle erst wieder aufwachen, wenn ich endlich einmal ausgeschlafen habe. Das habe ich mir die ganzen letzten Tage immer wieder gewünscht. Sie können sich nicht vorstellen, wie schlapp und müde ich war. Doch gestern Abend wünschte ich es mir wirklich innig. Mein letzter Gedanke war nur noch, ich würde die kommende Woche sonst nicht überstehen können."
Doktor Jorgo schien zu verstehen: Eckelmanns Geist und Körper hatten eng zusammengearbeitet. Auf der Suche nach Ruhe und Erholung war diese ganz ungewöhnliche Maßnahme der Selbsterhaltung herausgekommen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.11.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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