Ralf Deutschmann

Feuer über der Tunguska

Feuer über der Tunguska

oder

Ist der Wodka tatsächlich alle?


Wir schreiben das Jahr 1908. Genauer gesagt den 30. Juni 1908. Ort der Handlung ist ein ausgedehntes, von Bergen umgebenes Hochplateau Ostsibiriens nördlich der Ewenken-Siedlung Wanawara zwischen der steinigen und der unteren Tunguska.
Wassili und Dimitri sitzen an ihrem kleinen Feuer, an dem sie noch am Vorabend die letzte Keule der Elchkuh gebraten haben, die sie Tage zuvor gemeinsam erlegten. Wassili hat gerade den Wassertopf auf das Feuer gesetzt und freut sich auf einen heißen Tee.
"Mach' ihn schön stark", meint Wassili mißmutig. Seit seine Frau mit seinen letzten fünf Rentieren durchgebrannt ist, ist er meistens ziemlich mies drauf.
"Liegt Dir das Elchfleisch noch im Magen?" Dimitris Aufheiterungsversuch schlägt kläglich fehl. "Nicht nur das", brummt Wassili. "Der Wodka ist alle."
Dimitri lacht trocken. "Du hast Dich ja auch ganz schön zu gekippt, gestern. Sei froh, daß es hier keine Geschwindigkeitskontrollen gibt. Sonst hättest Du Dein Pferd gleich abstellen können."
"Was is?" Wassili ist nicht zum Scherzen aufgelegt und hält sich seinen Schädel.
"Ach vergiß es." Dimitri gibt auf und versucht sich mit einem Blick in den noch dunkelgrauen Himmel abzulenken. Sein Blick fällt auf einen Stern über Wassili's Schulter, der sich zu bewegen scheint.

Ortswechsel. Die Alpha-Centaurier Twixx und Bounty sind mit Twixx' neuem Hyperloader Injection Sport-Spaceship auf einer Spritztour durch die Galaxis. Genußvoll schiebt Twixx immer wieder den Gashebel noch vorne und läßt den Warp-Antrieb aufheulen, ohne jedoch das letzte aus ihm herauszuholen.
"Darf ich jetzt auch mal fliegen?" Bounty stellt diese Frage nicht zum ersten Mal.
"Klar", antwortet Twixx und grinst dabei. "Sobald wir die Erde umkurvt haben."
"Das hast Du beim Uranus auch schon gesagt." Bounty fühlt sich nicht ernst genommen. Er hat seinen Pilotenschein zwar erst wenige Jahre, fühlt sich aber diesem Kraftpaket von einem Raumschiff durchaus gewachsen.
"Jetzt mach' hier keinen Aufstand." Twixx bemüht sich ruhig zu bleiben, obwohl er bereits bereut Bounty überhaupt mitgenommen zu haben. Er nervt schon die ganze Zeit. "Ich muß Dich hoffentlich nicht daran erinnern, daß Du erst vor kurzem wieder geblitzt wurdest, als Du die Milchstraße mit überhöhter Geschwindigkeit entlang gebrettert bist. Und das hier ist kein Spielzeug!" Geradezu zärtlich fährt er mit der freien Hand über die Navigationskonsole.
"Was soll denn schon passieren? In diesem Sonnensystem gibt es doch null Verkehr. Diese Erdbewohner haben noch nicht mal einen Flugkörper entwickelt. Geschweige denn ein Raumschiff." Bounty schmollt jetzt. "Ich hätte mir ja sowieso das Cabrio gekauft."
"Was soll denn das jetzt heißen?" Twixx ist jetzt sauer. "Hast Du Dir mal überlegt, daß so ein Cabrio schlappe 6000 Centauri-Dollar mehr kostet? Ganz zu schweigen von den Spezial-Raumanzügen, damit einem nicht gleich der kleinste Staubkrümel den Helm durchschlägt. Nein danke!"
Einige Minute herrscht Stille im Schiff. Kurz vor der Erde macht Twixx ein Friedensangebot.
"Also gut. Aber nur um die Erde herum."
"Echt?" Bounty strahlt.
"Ja. Aber bitte sachte. Ich habe keine Lust vom ersten Ausflug mit einer Beule zurückzukommen. Und anschnallen." Twixx schaltet in den Leerlauf und die beiden tauschen die Plätze.
"Klasse!" Nachdem sich beide angeschnallt haben, drück Bounty den Gashebel durch. Der Warp-Antrieb heult auf und sie werden beide in die Recaro-Sitze gedrückt.
"Laaangsaaam!" Twixx Augen weiten sich, als die Erde im Fenster immer größer wird.
"Keine Panik", ruft Bounty aufgekratzt. "Jetzt zeige ich Dir mal, wieviel Spaß es macht wenn man die Gravitationsschleuder richtig ausnutzt."

"Ich glaube, da fällt gleich ein Stern herunter", konstatiert Dimitri fast geistesabwesend.
"Hä?" Wassili's Schädel dröhnt furchtbar, als er aufschaut. "Hast Du noch eine Flasche Wodka in Reserve?"
"Im Ernst. Dreh Dich einfach mal um." Dimitri deutet jetzt gen südlichen Sternenhimmel.
"Ich seh' nix." Wassili glaubt sich für Dumm verkauft. "Ist der Wodka wirklich alle?"
"Man, Du nervst vielleicht." Dimitri konzentriert sich weiter auf den fallenden Stern. Er scheint langsam größer zu werden. Dabei bewegt er sich mal ein wenig nach links, mal ein wenig nach rechts.
"Vielleicht ist das so was wie der Stern von Bethlehem", murmelt Dimitri vor sich hin.
Wassili strengt sich an, obwohl ihm das mit seinem Brummschädel schwer fällt. "Jetzt sehe ich es auch. Oder das sind noch die Nachwirkungen von gestern. Ist wirklich kein Wodka ..." Er verstummt als ihm Dimitri seine Blechtasse an den Kopf wirft.

Bounty steuert mit einem Affenzahn auf die Erde zu. "Yuppiieh"
Twixx ist außer sich. Halb vor Zorn, halb vor Angst. Er schreit jetzt fast. "Du wahnsinniger. Geh vom Gas runter. Und zieh die Maschine wieder hoch. Sonst machen wir noch eine Bruchlandung."
Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung gelingt es ihm trotz des Anpreßdruckes seine Hand Richtung Steuerknüppel auszustrecken. Den Gashebel erreicht er nicht. Ein kurzer Ruck und das Schiff macht eine langgezogene Rechtskurve.
"Weg da", ruft Bounty. "Jetzt fliege ich." Er schlägt Twixx' Hand beiseite. "Wenn wir eine Bruchlandung machen, dann nur wegen Dir. Ha ha, das macht Spaß"
"Wenn das Schiff auch nur einen Kratzer bekommt, bringe ich Dich um." Twixx ist jetzt völlig außer sich. Fieberhaft überlegt er, was zu tun ist. Plötzlich spürt er ein bedrohliches Vibrieren, das durch das Schiff läuft. Der Warp-Antrieb scheint mit der Drehzahl am Ende zu sein.
"Verdammt. Geh endlich runter mit der Geschwindigkeit. Du ruinierst sonst noch den Motor."
"Papperlapap." Bounty ist in seinem Element. "Das muß dieser HI (Hyperloader Injection; Anmerkung der Redaktion) einfach abkönnen."

"So langsam kommt mir das aber kirgisisch vor." Dimitri und Wassili sehen mit Erstaunen, wir der 'Stern' plötzlich nach links schwenkt und sich nun offenbar recht schnell in westlicher Richtung bewegt.
"Also, wenn mein brummender Schädel mir nicht ständig sagen würde, daß ich schon fast wieder nüchtern bin, würde ich sagen, es ist der Wodka ..." Wassili schaut kurz zu Dimitri und zieht den Kopf ein. Aber es kommt keine Tasse mehr geflogen. Dimitri ist ganz auf den Stern konzentriert.
"Ich hab' ja schon von Kometen gehört. Aber die haben doch einen langen Schweif." Dimitri schüttelt langsam verständnislos den Kopf.
"Und ich glaube, die fliegen auch keine Kurven", setzt Wassili hinzu.
Eine Weile beobachten sie den Stern in gleichmäßigem Flug nach Westen. Plötzlich vollzieht dieser einen weiteren Richtungswechsel. Er schwenkt wieder nach Rechts und fliegt nun fast in exakt östlicher Richtung geradewegs auf Dimitri und Wassili zu.
"Ist Dir auch so unheimlich zumute?" Wassili hat jetzt seinen Brummschädel fast völlig vergessen.
"Irgendwie schon", meint Dimitri. "Vielleicht sollten wir unseren Tee woanders kochen. Ich habe das Gefühl, das geht nicht gut aus."
"Ja", meint Wassili zustimmend. "Und der Wodka ist auch alle ..."

Twixx hat sich mittlerweile abgeschnallt und versucht Bounty vom Steuer zu verdrängen. Dabei wird der Steuerknüppel unkontrolliert bewegt und das Schiff macht eine scharfe Kurve nach links. Bounty versucht sich am Gashebel festzuhalten.
"Laß mich", ruft Bounty. "Du hast gesagt, ICH darf jetzt fliegen."
"Fliegen", schreit Twixx zurück. "Aber nicht rasen. Und schon gar nicht direkt auf die Erde zu. Laß mich jetzt ans Steuer. Du hast doch schon längst die Kontrolle verloren. Gleich bricht das Schiff auseinander."
Sie rasen mit unverminderter Geschwindigkeit Richtung Osten auf das Hochplateau zwischen der steinigen und der unteren Tunguska zu. Der Warp-Antrieb gibt jetzt zunehmend unangenehmere Geräusche von sich. Das Schiff vibriert gefährlich.
"Von wegen." Es scheint, daß Bounty jetzt selbst außer Kontrolle gerät. "Ich brauche nur den Gashebel etwas zurückzunehmen ... ooops ..."
"Ooops? Was heißt ooops?" Twixx schreit jetzt in Panik.
"Ich glaub, der Gashebel klemmt", meint Bounty etwas kleinlaut.
"Wiiieee?" Twixx ist kurz vor dem Nervenzusammenbruch.
"Vielleicht sollte ich die Schubumkehr reinhauen." Bounty nestelt an der Steuerkonsole.
"Bist Du von allen guten Geistern verlassen? Hast Du noch nie was von Lauda-Air gehört?" Twixx muß sich anstrengen das Dröhnen des Schiffs zu überschreien.
"Hä?" Bounty zögert nur kurz. Dann legt er die Schalthebel für die Schubumkehr um.
Als hätten sie einen Anker ausgeworfen, erfährt das Raumschiff eine unglaubliche negative Beschleunigung. Bounty und Twixx werden über die Konsole gegen das Sichtfenster geschleudert.
Der Warp-Kern leuchtet grell auf. Das Schiff ächzt. Sämtliche roten Lampen auf der Konsole gehen an. Roter Alarm dröhnt nervenzerreißend durch das Cockpit.
"Ich glaub' mir wird schlecht." Twixx' letztes Stöhnen hört niemand mehr.

Mit schrecklichem Getöse schießt eine Feuerkugel durch den Himmel. Die Feuerkugel fliegt auf einer etwa 800 Kilometer langen Bahn durch die unteren Schichten der Erdatmosphäre. Ihr Neigungswinkel beträgt zwischen 7 und 10 Grad. Die Geschwindigkeit mit der sie in die Erdatmosphäre eindringt, beträgt Berechnungen zufolge 30-40 km/s. Es folgt ein greller Blitz, ohrenbetäubender Lärm, eine gewaltige Explosion. Auf 2150 Quadratkilometern wird der Wald zerfetzt. Die Druckwelle umläuft zweimal die Erde. Die gewaltige Explosion erfolgt nicht erst beim Aufprall des Körpers auf die Erdoberfläche, sondern in einer Höhe zwischen 5000 und 10000 Metern. Der Katastrophe in den Morgenstunden folgt in der Nacht ein grandioses Schauspiel: Weite Gebiete Mittelasiens, Zentralsibiriens, Ost- , Mittel- und Westeuropas erleben eine ,,leuchtende Nacht", die sich durch eine ungewöhnliche Himmelshelligkeit auszeichnet. Bis Ende des Jahres 1908 , werden weitere anomale Leuchterscheinungen beobachtet.


Nachwort:

Seitdem beschäftigt dieser Vorfall die Wissenschaft. Fast 90 Jahre kommen die Gelehrten zu keiner einheitlichen Meinung. Nach von F. J. Sigel zusammengetragenen Augenzeugenberichten, änderte die Erscheinung über dem Ort Keshma ihre Flugbahn ostwärts, bog über dem Ort Preobrashenka (etwa 350 km östlich von Wanawara) ein zweites Mal ab und wurde dann wieder 60 Kilometer nördlich von Wanawara gesichtet. Man kann daraus schlußfolgern, daß der Himmelskörper mindestens zweimal seine Flugrichtung änderte. Bisher besteht keine Klarheit über die Einzelheiten dieses ,,Manövers" sowie auch keine ernsthafte Theorie hierüber. Bekanntlich vollziehen ja aus dem All stammende und den Gesetzen der Gravitation unterworfene Körper während ihres Falls keine Änderung der Flugrichtung. Gesichert ist weiterhin, daß die bei der Explosion des Körpers frei werdende Energie ca. 1025 erg betrug . Das entspricht der Sprengkraft einer größeren Wasserstoffbombe. Berechnungen haben ergeben, daß an der Kopfwelle eine Temperatur von bis zu 100.000°C herschten. Es konnte weder ein Einschlagskrater gefunden werden, noch meteoritische Substanz; abgesehen von winzigen Glaskügelchen, von denen auf jenem Hochplateau eine ganze Menge gesammelt wurden. Kleine farblose, graue, grünliche oder schwarze Kügelchen; in einigen von ihnen sind Gaseinschlüsse festzustellen. Ihre mikrochemische Analyse ist ganz interessant, sie ergab eine für klassische Meteoriten ganz ungewöhnliche Zusammensetzung: sehr viel Natrium, Silizium, Silber und seltene Erden. ,Glas' dieser Art gibt es weder auf der Erdoberfläche noch im Erdinnern oder in den uns bekannten Gesteinsproben von der Mondoberfläche. Die Gesammtmenge dieser Kügelchen ist gering. Die Meteoriten-Theorie ist heute nur eine von mehr als hundert Hypothesen, die zur Erklärung des Vorgangs vom 30. Juni 1908 aufgestellt wurden.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.12.2001. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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