Sigrid Güssefeld

Der lebende Tod - oder erwachte Hoffnung?

Wer in Berlin regelmäßig U-Bahn fährt, kennt ihn - und die erste Konfrontation schockiert: eine skelettartige Erscheinung, ausgemergelt, zerbrechlich, schwach - sich auf Krücken fortbewegend, in lumpige Kleider gehüllt.
Seine Gestalt, sein Aussehen erinnert an ausgehungerte KZ-Häftlinge, wie die meisten sie nur von Fotos her kennen. Und man denkt: Das darf doch nicht wahr sein - wie kann es sein, dass in unserem Land ein Mensch so leben muss - so dahin vegetiert? Ein Schauder läuft dir über den Rücken, als er krächzend spricht: "Kriegen Sie keinen Schreck - ich bitte nur um eine kleine Spende, für meinen Lebensmut." Die Stimme verleitet einen irrtümlich zu der Annahme, es muss eine Frau sein. Das Alter allerdings ist unbestimmbar.
Aber der Mensch ist ein Gewohnheitstier - und wenn auch die nächsten Begegnungen noch tiefe Erschütterung auslösen, man gewöhnt sich allmählich an seinen erbärmlichen Anblick, verdrängt das aufkommende Mitleid, betrachtet ihn immer mehr nur noch als dazugehöriges U-Bahn-Inventar, wie andere Bettler und Motzverkäufer auch. Wie leicht stumpft der Mensch ab.
Schon seit Jahren spukt dieser "Schatten von Mensch", dieses Leichtgewicht durch die U-Bahn-Tunnel - und wenn man ihn nach längerer Zeit wiedersieht, fragt man sich lediglich: "Was denn, der lebt noch?" Und das schlechte Gewissen, ihm bisher nichts gegeben und ihn im Alltag vergessen zu haben, meldet sich.
Am 2. Advent hat sich etwas verändert. Der Mann sammelt nicht nur Geld und Lebensmittel, diesmal bietet er etwas an: einen selbstgeschriebenen Text. Obwohl es dich brennend interessiert, was ein Geschöpf wie er wohl schreiben könnte, was er zu sagen hat, hast du Hemmungen, es zuzugeben. Was sollen denn die anderen Fahrgäste denken! Deine Neugier aber bleibt. Beim nächsten Mal dann überwindest du dich, schaust ihm in die Augen, nimmst das Blatt entgegen und zahlst den lächerlichen Preis von ein paar Cent. Du liest seinen Text, der mit den Worten endet:
"In meiner Kleingeldtasche ist kein Platz für große Träume. Trotzdem habe ich vielleicht welche, wer weiß. (...) Bis zum nächsten Mal bleiben Sie mir nicht zu leicht gewogen sonst haben Sie es schwer!"
Du bist gerührt, spürst eine innere Wandlung: Ausgerechnet diese Person kann dir etwas geben, seine Gedanken bereichern dein Leben. Und plötzlich freust du dich darauf, ihn wiederzusehen, hoffentlich noch vor Weihnachten, kannst es kaum erwarten, die Fortsetzung zu lesen... und für dich ist er nicht mehr der lebende Tod - denn du weißt: er trägt ein unendliches Maß an Hoffnung, Humor und Lebenswillen in sich, mehr, als du dir jemals erträumen kannst.

Gewidmet habe ich diese Geschichte "Stephan aus der U-Bahn", der mittlerweile schon acht Seiten geschrieben hat und diese zum Verkauf anbietet. Kleiner Tipp: Als ich ihn das letzte Mal traf, verriet er mir, dass Nr. 7 + Nr. 8 nicht so gut sein sollen - darum arbeitet er jetzt an einer " guten Nr. 9". Mal sehen, ob er das noch vor Weihnachten 2003 schafft...
Wer mehr über seine Person erfahren möchte, kann sich bei der taz-online informieren, dort wurde mal ein sehr guter Artikel geschrieben!
Sigrid Güssefeld, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.11.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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