Edith Kratz

......ich darf leben!

Das geschenkte Leben

Ort des Geschehens:

Wien, Lustkandelgasse, ein Übergangsheim wo diese unerwünschten Kinder, die eine Gesellschaft immer hervorbringen wird, für einige Zeit „zwischengelagert“ werden, bis sich irgendwo ein Plätzchen für sie findet, entweder Privatleute, die aus irgend einem Grund so ein Kind aufnehmen wollen, oder ein anderes Kinderheim, wo die Kinder dann untergebracht werden, entweder bis sie selbständig sein sollen oder sich sonst ihre Situation ändert, wir haben das Jahr 1932.

Lange Flure, hell, sauber gekachelt, das Kind klein, zu großer Kopf, rachitische Beinchen, aufgetriebener Bauch und einem hilflos anmutenden Silberblick, schiebt ein kleines Stühlchen vor sich her, (wie fast alle der ca. acht anwesenden anderer Kinder) ein erbärmlich quietschendes Geräusch erzeugend und es brabbelt vor sich hin. Mindestens 3 Jahre ist dieses Kind, aber man merkt große Unsicherheit beim gehen, ohne diesen kleinen Stuhl, wäre es bestimmt hingefallen. Was einen merkwürdig anrührt, diese Kinder spielen oder schreien oder lachen nicht zusammen, jedes scheint nur sich selbst wahrzunehmen.

„Hallo, Ditta, komm doch mal her zu mir“! Die Stimme gehört einer der Wesen, von dem das Kind, die Ditta, wusste, die bringt Nahrung und ist deshalb nicht mit Angst sondern mit angenehmen Gefühlen belegt. Das Kind tippelte also so schnell wie möglich zu ihr hin, und schaute erwartungsvoll. „ Komm mal mit,“ das Kind nahm vertrauensvoll die Hand und folgte brav der „Schwester“ wie man zu ihnen sagen muss.

Hier war das Kind noch nie, ein großer heller Raum, ein dunkler wuchtiger, furchteinflößender Tisch. Dahinter eine ältere Dame, die irgend was schreibt, und vor diesem Riesentisch sitzt eine einfache jüngere Frau und schaut dem Kind, das mit der Schwester an der Hand reinkommt freundlich in die Augen. Sie streckt lächelnd die Arme aus :“ Du bist also die Ditta?“ Das Kind schweigt ängstlich,
„komm doch mal her zu mir, du bist aber ein liebes Mäderl !“ Die Schwester schiebt das Kind, das sofort angstvoll zurückweicht der Frau entgegen, es fängt an zu schreien, nicht weinen, nein schreien, Angst, Entsetzen spürte man in der Stimme, wie nur ein so kleines Wesen schreien kann, dass bereits begriffen hat sich vor allen fremden Menschen erst einmal zu fürchten, weil da meistens Schläge und Tritte, sehr oft grundlos herkommen. Die Erwachsenen besprechen über den Kopf des total verängstigten Kindes hinweg irgend was, dann war alles Wehren vergeblich, man hatte ihm einen Mantel angezogen, die fremde Frau sprach freundlich, streichelte es über den Kopf, „Komm Ditta, sei ein braves Mäderl, ich nehme Dich jetzt mit in ein schönes Haus mit einem großen Garten und ein Schwesterchen wartet dort auch auf Dich!“

Das Kind hatte sich einigermaßen beruhigt, weinte nur noch leise, war aber immer noch äußerst misstrauisch, verwirrte Gedanken, „was ist ein großer Garten?....... vielleicht doch was Schönes? Die Frau schaut ja freundlich, aber alle waren erst freundlich, ehe die Schläge kamen, wenn ich die Hose nass mache, haut die mich bestimmt auch, das tut so weh und ich kann nichts dafür“

So ähnlich, vielleicht nicht so präzise wirbeln Gedanken, das Gesicht mit den großen braunen Augen mit diesem mitleiderregenden Silberblick schaut nicht glücklich. Es ist nicht gelogen, solche Gedanken kann eine Dreijährige haben, wenn sie überall zuviel ist und schon in der kurzen Zeit seines Lebens alle paar Wochen wo anders hingebracht wird. „Ja die fremde Frau hat gesagt, ich hätte es gut bei ihr und ihre Tochter die Helly mag nicht gerne essen und mich wollten sie aufpäppeln und die Helly soll sich dann ein Beispiel an mir nehmen und auch viel essen.“ Der Gedanke gefiel dem Kind auf einmal und ein zaghaftes Händchen schob sich in die Hand der Frau.

Dann wie Peitschenhiebe plötzlich sagte die Dame hinter dem großen Tisch, „Auf etwas muss ich sie allerdings noch hinweisen, das Kind ist krank, es hat Rachitis im schweren Stadium und könnte eine Gefahr für ihr gesundes Kind bedeuten ! Wenn sie möchten wir haben auch noch Andere?“ Das Kind, dass sich schon einigermaßen mit der Situation vertraut gemacht hatte und mit der freundlichen Frau gehen wollte (Essen war ein schönes Wort) erstarrte, es klammerte sich jetzt an die Frau und zog an ihr, zur Tür hin, bitte nimm mich sollte es wohl heißen, als wenn es geahnt hätte, hier liegt meine letzte Chance um überhaupt leben zu können, die Frau lächelte strich dem Kind noch mal über seine wunderbaren dunklen rotbraunen dichten Haare, „Komm Ditta, Dich nehme ich mit, gesund kannst Du bei uns werden!“ Der Weg ins Leben war geöffnet!

Der Weg in das neue zu Hause, war für das Kind noch mal ein einziger Horrortrip, das muss man sich mal vorstellen, wie hilflos körperlich und geistig verwahrlost dieses Geschöpf war, ein dreijährige Kind, war nicht fähig einen Bordstein alleine hochzusteigen, auf der Strasse eine Straßenbahnschiene mit einem Schritt zu überqueren, denn es tippelte nur auf den Zehenspitzen, mit ganz kleinen Schrittchen, mit den total krummen Beinchen ging es nicht besser, und erst die Straßenbahn, es war nur ein angsteinflößendes riesiges klapperndes Ungeheuer, (ich vermute mal, dass dieses Kind sowieso erst das erste Mal in seinem Leben bewusst auf einer richtigen Straße war) Für die Pflegemutter, die junge Frau war es ja ab sofort, muss es auch ein solcher gewesen sein, eine gute Stunde lang, mit diesem laut plärrenden Kind, quer durch Wien, bis nach Lainz raus, einen Teil des 13. Wiener Bezirks Hitzing mit kleinen Siedlungs-Einfamilienhäuschen, unterwegs zu sein. Die Leute haben geschaut, diese Frau ist bestimmt im Verdacht gekommen, das Kind misshandelt zu haben, und dabei konnte ja keiner ahnen, wie angstgeschüttelt ein kleiner Mensch sein kann, vor lauter unüberwindlichen Bordsteinen, Straßenbahnschienen, und der Straßenbahnen, die damals schon teilweise unter der Erde, oder hoch über den Häusern fuhr, (man nannte es damals Stadtbahn)..
Weil auch die längste Stunde vorbei geht und das Kind gespürt hat, an der Hand der neuen Pflegemutter allen Gefahren der Straße entkommen zu sein, tippelte es die letzten Meter ruhig neben der Pflegemutter her. Das Einfamilienhaus wirkte einladend, die Tür ging auf, die Eltern der „Pflegemutter“ und ein kleines Mäderl (5Jahre) standen in der kleinen Diele zum Empfang und da wäre es dann wirklich fast zur Katastrophe gekommen.
Man müsste es selbst erlebt haben, um zu verstehen, wie schnell ein solches herum gestoßenes Wesen erkennt, wem es vertrauen kann, es hatte sich mit aller Kraft in den Arm der Pflegemutter verkrallt, die musste zur Toilette, wollte sich befreien, redete beruhigend auf das Kind ein, vergeblich, das Geschrei, das wie das eines waidwunden Tieres klang, war fürchterlich, das andere Kind schrie wahrscheinlich aus Angst über die Situation mit, die alte Frau schrie;“ bringt das Kind wieder weg, das will ich nicht in meinem Haus, weg damit, nur weg! raus, raus!“ Die unmittelbare Nachbarschaft lief zusammen, um zu schauen was passiert ist. Alles schrie nun wild gestikulierend durcheinander, aber niemand wusste, da kämpfte einfach ein kleiner Mensch um seine Existenzberechtigung (und das wird es noch oft und noch in viel lebensbedrohenden Situationen tun müssen, aber damals war das alles noch im Dunkeln)

Die Pflegemutter kam nach endlosen Minuten zurück, das Kind krallte sich wie ein kleiner Affe wieder fest, hörte sofort auf zu schreien, die Leute drum herum beruhigten sich auch wieder, mit einiger Überredungskunst wurde auch die Großmutter überzeugt, das arme Hascherl zu behalten, so wurde diese Familie 6 Jahre lang ein relativ schönes zu Hause für das Kind, dass es nach dieser ruhigen Zeit noch schlimmer kommen würde, als bis zu dem Tag, da es mit 3 Jahren in diese Familie kam, ahnte das Kind noch nicht, und das war wohl gut so.



Nachtrag:

Das Kind entwickelte sich dank Bewegung in frischer Luft, normalem Essen, dem Umgang mit der Pflegeschwester, viel Eigeninitiative, Anpassung an die Gegebenheiten geistig und körperlich hervorragend und war nach ca. einem Jahr ein ganz normal entwickeltes Mädchen
Nach dem heutigen Kenntnisstand der Medizin, war auch ein schwerer Fall von Hospitalismus auszukurieren. Bei den regelmäßigen Vorstellungen zur ärztlichen Untersuchung, der damals alle Pflegekinder in Österreich unterlagen (man merke, 1932, Österreich im Schul- und Gesundheitswesen, ein vorbildliches Land) sprachen die Ärzte auch immer wieder von einem fast unvorstellbaren Lebenswillen, der diesem Kinde zu Eigen war.

copyright by Edith Kratz

Die beiden Geschichten "Episode" und "der Pfingstausflug" sind Nachfolgegeschichten, die das Kind erlebte, als man es auch aus dieser Familie wieder hinaus in Ungewisse gestossen hatte.Edith Kratz, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.11.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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