Heike Kijewsky

Ein Tag wie immer?



Heute war wieder einer dieser Tage, wo eigentlich alles so war, wie immer. Sie kannte den Weg bereits auswendig. Aus ihrem Zimmer, den langen Flur entlang, ging sie an vielen anderen Zimmern vorbei.
In einer dieser Räume wohnte sie selber.
Als ihr Mann vor 5 Jahren starb, meinte die Familie, sie wäre dort besser
„aufgehoben“. Mittlerweile hatte sie sich an alles gewöhnt.
Das Alleinsein war zu Anfang sehr schwierig. Er fehlte ihr sehr. Mit ihm konnte sie reden. Er war immer da, wenn sie jemanden brauchte.
Hier in diesem „Seniorenwohnheim“, wie es alle ganz vorsichtig nannten, gab es nur sehr wenige, denen sie sich anvertrauen konnte. Eigentlich war sie auch eher zum Einzelgänger geworden.
Diese vielen Menschen waren doch nichts für sie.
Sie wollte nicht immer nur fernsehen oder Canasta spielen. Viele saßen einfach nur da. Sie bekamen viel Besuch von ihren Angehörigen. Das war der einzige Punkt, worum sie sie beneidete.
Na ja, dafür ging sie viel spazieren. Jeden Tag ging sie in den Park.
So auch heute.
Es war Frühling und die Sonne blinzelte durch die Äste, um die ersten Frühlingsblumen zum Blühen zu bringen.
Es war ein schöner Park. Er hatte viele breite Gehwege, einen herrlich gelegenen See und viele alte Bäume, die eine eigene Geschichte erzählten.
Dieser Park war ihr sehr vertraut. Wie oft hatte sie hier gesessen und nachgedacht. Sie hatte eine Lieblingsbank. Sie stand vor einer dicken, knorrigen Eiche. Der Stamm hatte im unteren Bereich ein großes Loch und direkt davor stand „ihre“ Bank.
Es mag seltsam klingen, doch ihr schien, als würd’ ihr dieser Baum, durch dieses Loch seine „Energie“ weitergeben. Es war ein unsichtbarer Strahl, der sich warm und weich durch ihren Körper schlängelte und sie von innen aufhellte.
Es war ein herrliches Gefühl und sie schloss ihre Augen, um sich ganz mit diesem Gefühl zu verbinden.
Nach einer Weile bemerkte sie, dass ihr kälter wurden und sie öffnete ihre Augen. Vor ihr stand ein junger Mann, der ihr das Licht der Sonne nahm.
„Hallo!“ sagte er und vergrub verlegen seine Hände in den Taschen.
„Ich heiße Jürgen und beobachte Sie schon eine ganze Weile.“
„Guten Tag!“ antwortete die alte Dame, „ich heiße Maria und darf ich fragen, warum Sie das tun?!“
„Hätten Sie was dagegen, wenn ich mich ein wenig zu Ihnen setze?“ fragte er vorsichtig.
„Bitte!“ sagte Maria und wies mit der Hand auf dem Platz neben sich.
Der junge Mann setze sich zu ihr und Maria fühlte sofort wieder die wärmenden Sonnenstrahlen.
So saßen sie eine kurze Zeit, ohne dass Jemand sprach. Jeder genoss die Anwesenheit des Anderen.
„Besuchen Sie hier jemanden?“ fragte sie ihn und blickte ihn von der Seite an.
„Nein!“ entgegnete er, „ich gehe hier öfter spazieren und Sie sind mir schon eine ganze Weile aufgefallen. Ich hatte nur nie den Mut, Sie anzusprechen!“
„So, so!“ antwortete Maria und richtete ihren Blick wieder auf den Gehweg. Es waren ja doch noch einige Leute unterwegs.
„Sie haben mich also schon etwas länger beobachtet und warum hatten Sie ausgerechnet heute den Mut mich anzusprechen?“
Der junge Mann fingerte verlegen an dem Reißverschluss seiner Jacke, bevor er sie ansah und sagte: „ Sie erinnern mich an meine Großmutter. Sie wäre heute
83 Jahre alt geworden!“
„Das tut mir leid!“ sagte die Dame. Ihre Stimme klang nun etwas weicher.
„Wie lange ist sie denn schon tot?“
„Sie ist vor einem ½ Jahr gestorben, sagte der junge Mann mit leiser Stimme „und sie wohnte auch hier!
Meine Oma war eine ganz tolle Frau. Trotz ihrer Behinderung, sie hatte Kinderlähmung, meisterte sie alles und sie ließ sich niemals unterkriegen!“
Der junge Mann erzählte weiterhin begeistert von seiner Großmutter und die alte Dame richtete nun die Aufmerksamkeit ganz auf seine Person.
Er war bestimmt ein großartiger Enkelsohn und seine Großmutter hatte sich glücklich geschätzt, dass sie ihn hatte, dachte Maria für sich und lauschte weiterhin seinen Worten.
„Wir sind oft spazieren gegangen. Ich habe sie mit dem Rollstuhl gefahren und sie hat mir alte Geschichten von früher erzählt. Es war nicht immer leicht für sie. Die Kriegszeit, Sie wissen schon.
Manchmal hat sie auch Geschichten erfunden, um mich einfach nur zum Lachen zu bringen.“
Der junge Mann bekam leuchtende Augen, als er von seiner Großmutter erzählte und Maria brauchte nur ab und zu mit dem Kopf zu nicken. Für ihn ein Zeichen, dass sie ihm noch zuhörte.
Nach einiger Zeit, war auch die Sonne weg und es dämmerte leicht, als die alte Dame ihn vorsichtig unterbrach und sagte: „Es ist schön, dich kennen gelernt zu haben, doch man wartet mit dem Abendessen.“
„Kann ich Sie morgen wieder sehen?“ fragte er zögernd und nahm die Hand der alten Dame in seine beiden Hände.
„Es hat mir sehr gut getan, mit Ihnen zu reden und gerade an dem heutigen Tag!“ setzte der junge Mann hinzu und half der alten Dame von „ihrer“ Bank.
„Ich bin jeden Tag hier“ antwortete sie berührt, „und ich würde mich freuen, wenn du mir noch mehr von deiner Großmutter erzählen würdest!“
So standen sie nun Beide vor der Bank auf dem Gehweg und der junge Mann sagte: „Das ist kein Problem, wenn nur alle so gut zuhören könnten, wie Sie.
Also dann, bis morgen und schlafen Sie gut!“
Die alte Dame lächelte, nahm seine Hand, drückte sie leicht und sagte: „Du bist ein guter Junge und bitte nenn’ mich Maria!“
„Danke! Also dann, Maria, bis morgen!“ sagte er und ging.
„Bis morgen!“ sagte sie und schaute ihm noch eine Weile nach.
Was für ein Tag, dachte die alte Dame und lächelte.
Sie setzte sich wieder in Bewegung, um auch pünktlich zum Abendessen zu erscheinen.
Obwohl sie doch immer den gleichen Weg zurück ging, erschien er ihr heute anders.
Auch der lange Flur war nicht mehr so lang wie vorher.
Dieser Tag war doch nicht so wie immer...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.11.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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