Manfred Gries

Der grosse Chor

In einem Bau tief unter der Erde lebte vor langer, langer Zeit ein Mäuserich, ein Mausbiber-Maulwurf-Igel-Mäuserich. Seine Art war selten geworden in den Wäldern und Onkel Kurt kannte die Ursache, obwohl er nie einem dieser Geschöpfe wirklich begegnet war. Von seinem Hochsitz aus konnte er nicht unter die Erde sehen. Sie waren scheu und doch sonderbar klar. Eigentlich ein wenig wie Onkel Kurt selbst.

Eines der wichtigsten Feste bei den Mausbiber-Maulwurf-Igel-Mäusen war das Weihnachtsfest. Jedes Jahr zur gleichen Zeit versammelten sich alle in einem kleinen Bau, der das ganze Jahr über wenig genutzt wurde. Sie nannten ihn den “Bau der schönen Dinge im Leben“. Jeder brachte eine Erinnerung mit und sang sie den anderen vor. Da saßen Freund und Feind nebeneinander, lauschten den Melodien und schauten in die Herzen der Sänger. Erstaunlich daran war, dass eigentlich niemand wirklich gut singen konnte. Trotzdem klang jedes Lied ganz besonders. Und das lag an dem Bau. Ein Zauber, ehemals ausgesprochen um den Mäusen eine Gelegenheit zur Versammlung zu bieten, erfüllte die Stimmen derer, die an diesem Tag ihre Verse sangen. Und die Ohren - ihr kennt diese kleinen, spitzen Hörmuscheln - der Zuhörer waren bei jedem Lied lauschend beteiligt. Am Ende, meist früh am Morgen, wurde jedes Jahr das gleiche Lied gesungen. Alle zusammen klangen für Momente wie ein gut abgestimmter Chor. Danach ging jeder seines Wegs.

Innerhalb eines Jahres gab es nur einen Anlass, zu dem sich dann auch nur zwei Mäuse in diesem Bau trafen. “Der Zauber des Duetts“, wie sie ihn nannten, war ein Teil des großen Zaubers zum Weihnachtsfest. Und der war den Mäusen gegeben, um eine besondere Melodie mit in den eigenen Bau zu nehmen. Mäuse-Philosophen vertraten die Ansicht, dass Weihnachten nur möglich wird, weil es diese Duette gibt. Aber das ist natürlich Unfug. Zu Weihnachen wird im Duett oder Solo gesungen, auch bei den Mäusen. Alles über die Zauber war in einem großen Buch beschrieben, das jeder schon einmal gelesen hatte. Dort konnte man die Geschichte nachvollziehen, einzelne Mäuse kennen lernen und sich seine Gedanken machen.

Dieses Buch gelangte auch in die Hände von Onkel Kurt und immer zum Weihnachtsfest schaute er auf die kleinen Löcher der Mausbiber-Maulwurf-Igel-Mäuse, in der Hoffnung, etwas von dem Lied zu hören, das in den frühen Morgenstunden die Welt verzauberte. Auch hätte er gern die Stimmen der Einzelnen und ihre Geschichten gehört. Aber, wie schon gesagt, diese Lebensform ist scheu. Und Menschen bekamen sie nie zu Gesicht.

Wieder einmal war es Weihnachten und Onkel Kurt saß auf seinem Hochsitz in aller Frühe. Oma Ella hatte ihm noch den Proviant gereicht und der Dreibeiner neben ihm Platz genommen. Jetzt war es still um ihn herum. Die Gedanken waren abgelegt, die Erinnerungen für einen Moment ausgeblendet und die eigenen Sehnsüchte auf den nächsten Tag verschoben. Die Augen geschlossen, lauschte er dem Wind, der durch die Bäume strich. “Sing mit“, erklang es deutlich von unten herauf. Überrascht öffnete er die Augen und schaute hinab. Nein, zu sehen war dort nichts. Nur diese Aufforderung drang an sein Ohr. “Sing mit“. Und seine Stimme begann zu berichten von den vergangenen Dingen und Wünschen, die ihn ihm schlummerten. Das Gefühl, dass ihm zugehört wurde, bemerkte er erst am Ende des Liedes. Er war der letzte vor dem großen Chor, der diesen Weihnachtsmorgen abschloss.

Seitdem kennt er den Zauber der Mausbiber-Maulwurf-Igel-Mäuse. Und die Geschichten der Sänger begleiten ihn, wenn er mit seinem Dreibeiner durch die Wälder zieht. Seitdem weiß er aber auch, dass er nie den Bau sehen wird, der den Mäusen gegeben wurde, jedenfalls nicht mit seinen Augen. Sehen können nur die, die eine Einladung annehmen, ein Geschenk bewahren können. Und Onkel Kurt konnte das.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Manfred Gries).
Der Beitrag wurde von Manfred Gries auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.11.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Manfred Gries als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Zelenka von Kurt Mühle



„Zelenka“ beschreibt innerhalb unterschiedlichster Kriminalfälle den beruflichen Aufstieg einer taffen, ehrgeizigen Kommissarin, aber auch die schmerzlichen Rückschläge in ihrem Privatleben.
Sie jongliert oft am Rande der Legalität, setzt sich durch in der sie umgebenden Männerwelt und setzt Akzente in der Polizeiarbeit, - wobei ihren Vorgesetzten oft die Haare zu Berge stehen ...
Ort der Handlung: Düsseldorf / Duisburg

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Sonstige" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Manfred Gries

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Der Uhrheilemacher von Manfred Gries (Wahre Geschichten)
Omas Pflaumenkuchen von Heideli . (Sonstige)
Meine Familie und ich von Margit Kvarda (Humor)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen