Dieter Christian Ochs

Luca und die Wunderbeeren

Es wurde langsam dämmrig...
Das Dorf im hohen Nordwesten des Landes lag schon weit hinter ihm ...
Nur noch der alte, backsteinfarbene Kirchturm, der in der Mitte des Dörfleins seit Ewigkeiten die buckligen Bauernkaten mit seinem riesigen Schatten überspannte, schaute aus der Ferne schemenhaft hervor.
Der Horizont hatte die Sonne schon längst verschluckt.
Es ging auf die Nacht.
Ächzende, finstere Tannen schoben sich immer dichter zusammen, als Luca mit sehr kleinen und sehr zaghaften Schritten den tiefen Wald betrat.
Luca musste höllisch aufpassen, dass er bei dieser Düsternis den vom Mondlicht beschienenen Pfad nicht verließ , welcher sich wie eine nicht enden wollende Schlange im Unterholz verlor.
"Schuhuuuh!" heulte die Eule ihr Lied zur Nacht. Und noch einmal "schuhuuh!"
Der Wind raunte, während er stolpernd und sehr ängstlich Schritt auf Schritt setzte: " Huuiii...puuuuh, huuiii...puuuuh!"
Ein Fuchs bellte heiser sein Nachtlied an den Mond.
" Uuiiiaa, uuiiiaa, uuiiiaa! »
Ein paar neugierige Feldhasen hockten mit hoch aufgestellen Lauschern neben einem umgestürzten Baum und blickten mit ihren dunklen Kulleraugen Luca nach, der tapfer immer weiter in den finsteren Wald hinein stapfte.
"Rattatat!" klopfte der Waldspecht in die Nacht. "Rattatat!"
Und es hörte sich geradeso an, als wolle er sagen:" Halt ein, halt ein, du kleiner Mensch!"
Luca blieb einen Moment stehen und lauschte angespannt den Stimmen des Waldes und dachte so bei sich:" Ich werde schon wieder zurück finden. Zurück ins Dorf, zurück zur Mutter. Der liebe Gott wird mir beistehen. Und die Sterne am Himmel und der runde Mond und die vielen lieben Tiere hier im Wald meinen es doch wohl gut mit mir.
Alle schauen mich so freundlich an. Mir geschieht schon kein Leid!"
Und er ging weiter...
Ewigkeiten vergingen, ein schwacher Wind kam auf und auch seine kleinen Füßchen taten ihm schon recht weh.
Längst hatte sich der Pfad zwischen dornigem Unterholz und hohem Farnkraut verloren.
Manchmal hörte er es ganz sachte zu beiden Seiten glucksen. Er wusste, das war das Moor, welches er auf gar keinen Fall betreten durfte.
Zu viele Menschen hatten da schon ihr Leben lassen müssen.
"Au...auaah!" stiess er plötzlich laut aus und stürzte mit ausgestreckten Händen vornüber auf den feuchten Waldboden.
Da lag er nun eine Weile leise vor sich hinweinend.
Die Tränen kullerten ihm nur so in salzigen, leisen Bächen über die Wangen.
Er schaute langsam an sich herunter...
Seine abgewetzte und schon mehrmals geflickte Hose hatte am Knie einen langen Riss bekommen und seine aufgeschlagene Kniescheibe lugte leicht verfärbt aus den Stofffetzen hervor. "Oh weh!" jammerte er halblaut vor sich hin.
"Was wird die Mutter dazu sagen, wenn sie es entdeckt?"
Denn... sie waren Zuhause sehr arm und konnten sich gerade nur das Notwendigste zum Leben leisten.
Er stand wieder auf und wischte sich mit einer kräftigen Handbewegung den Schmutz von der Hose und die Tränen aus seinen Augenwinkeln.
Schon wollten sich seine kleinen Füße wieder in Bewegung setzen, als ihm ein sehr angenehmer, wundervoller Duft in die Nase kam. Es roch so nach Weiß-nicht-was und Saug-es-ein oder...?
Er bückte sich und schaute sich suchend um.
"Potz Blitz!" entfuhr es ihm erfreut.
"Da bin ich doch geradewegs über einen sehr merkwürdigen, violettfarbenen Strauch gestolpert, wegen dem ich ja heute Nacht in den Wald gegangen bin!"
"Welch himmlische Fügung !"
Ein unwahrscheinlich wohltuender, leicht süßlicher Duft, so angenehm wie frisch gepflückte Veilchen und Flieder zugleich entströmte diesem einen Busch, dessen zerbrechlich wirkenden Zweige ganz sacht im Nachtwind schaukelten.
In diesem Moment erinnerte er sich an seinen schon längst verstorbenen Großvater , der ihm vor langer Zeit, als er noch ein ganz kleiner Junge war, so etwa drei oder vier , mit flüsternder, brüchiger Stimme von einem Busch erzählte, der da ganz tief drinnen, mitten im Moorwald und viele Wegestunden vom Dorfe entfernt wachsen würde. An seinen Zweigen hingen viele glänzende, schwarzfunkelnde Beeren, die eine Heilkraft hätten, die ohnegleichen wär.
Nur...die wenigsten Menschen würden diesen Strauch auch wirklich finden und nur derjenige, der sich bei tiefer Nacht und in unerschütterlichem Glauben in den Wald trauen würde, habe Erfolg.
Und weiter hatte ihm der Großvater erzählt, es würde ein wunderbarer Geruch von dem Strauch ausgehen, so als wäre Weihnachten, Geburtstag und Ostern zusammengekommen mit all den geheimnisvollen Düften, die man immer an diesen besonderen Tagen riechen konnte.
Er dankte dem Lieben Gott für seine Hilfe, schaute einen Moment lang in den Nachthimmel und bemerkte einen glitzernden und weiß funkelnden Stern, der geradewegs aus dem Himmelszelt über dem Wald herunterfiel, nicht weit von ihm entfernt.
Er seufzte:" Mutter, meine liebe, liebe Mutter! Nun wirst du bald wieder ganz gesund werden!"
Luca dachte an Zuhause...
Er sah seine leidende Mutter in der kleinen Stube im weißbezogenen Bett liegen und leise vor sich hinstöhnen.
Vor einiger Zeit, es war noch nicht lange her, hatte sie eine böse Krankheit befallen.
Sie konnte den kleinen Haushalt nicht mehr versorgen und war deshalb recht verzweifelt. Lucas große Schwester Kathi, ein sehr tüchtiges und sehr folgsames Mädchen, führte, so gut sie nur konnte, die Haus-und Küchenarbeiten weiter aus, damit sie leben konnten.
Jeder Doktor hatte der Mutter gesagt, sie müsse nun auf Lebenszeit im Bett liegen bleiben und keine Medizin der Welt könne sie von ihrem schweren Leiden befreien.
Die Leute im Dorf munkelten schon hinter vorgehaltener Hand, der Teufel würde im Leib dieser Frau stecken und mieden das kleine Häuschen am Rande des Dorfes.
So lag sie nun Tag für Tag, zitternd und fiebernd und oft genug nach Luft ringend in ihrem großen, weißbezogenen Bett und konnte nichts anderes tun, als ihren kleinen Luca und ihre große Kathi fest an ihr Herz drücken und ihnen mit kraftloser Hand zärtlich und besorgt über die Wangen streichen.
Luca und Kathi hatten es wirklich nicht leicht zu Hause, aber...sie waren nicht verwöhnt und liebten ihre kranke Mutter über alles, deren rötliches Haar schon etwas schütter wurde.
Die Kinder kochten manchmal ein Süppchen, wenngleich auch die nötigen Zutaten oft nicht gut zu beschaffen waren, wuschen das Geschirr ab, kümmerten sich um das Knüppelholz für den alten, Kanonenofen, lasen der Mutter manchmal ein schönes Märchen aus einem uralten, vergilbten Buch vor und legten ihr alle Tage warme Tücher um den Leib, damit sie es schön warm hatte in ihrem großen, alten Holzbett.
Fast täglich, so wie es die anstrengende Hausarbeit zuließ, pflückten sie ihr einen bunten Feldblumenstrauß hinter dem Haus und erfreuten damit ihr Herz.
Trotzdem waren beide, Luca, sowie auch Kathi recht vergnügte Kinder, die oft genug, wann immer es ihnen in den Sinn kam einen Schabernack machten.
Einmal hatte Luca seiner großen Schwester einen lebendigen Frosch in die Schuhe gesteckt.
Kathi revanchierte sich am nächsten Tag dann bei ihm mit einem dicken roten Apfel, den sie an einer Stelle mit etwas Salz bestreut hatte und Luca mit besonders freundlicher Mine überreichte.
So ging es tagein, tagaus.
Nun aber stand er vor dem seltsam duftenden Wunderstrauch, der so viele schwarze Beeren an seinen Zweigen trug, dass ihm fast schwindelig vom Hinsehen wurde.
Sie sahen fast aus wie dunkelblaue Edelsteine...
Hastig zog er ein leinernes Säckchen aus seiner linken Hosentasche und machte sich daran, die dicksten und saftigsten Beeren von dem Strauch abzulesen.
Da er mittlerweile selbst auch großen Hunger verspürte und sein Magen ihm schon lange durch lautes Grollen mitteilte, dass die nächste Mahlzeit sehr willkommen wäre, ließ er hin und wieder eine Beere in seinem Mund verschwinden. Plups... die erste und ...plups... die zweite Beere und plups ....
Es dauerte nicht lange und sein Säckchen hatte sich bis obenhin prall gefüllt.
"Hmmmh!" schmeckten diese Beeren gut.
So weich im Mund und soo süß !
Dann nahm er seine kleine, blaue Mütze vom Kopf und pflückte eifrig ein paar Beeren auch da hinein.
Den Heimweg wollte er nicht hungrig gehen...
Das leinerne Säckchen in der einen Hand, das volle Mützchen in der anderen schickte er sich an, wieder zurück, nach Hause zu gehen.
Aber.....wo war denn der richtige Weg, der Weg zum Dorf, zur Mutter, zur Schwester ?
Der Mond hatte seine gelbe Laterne ausgemacht und auch die zuvor hellen Sterne wiesen ihm nun nicht mehr den Weg.
Sehr, sehr dunkel war es geworden und die letzten vorwitzigen Wolken drängten sich schnell vor die Himmelslichter.
Keine Richtung schien Luca die richtige zu sein.
Er drehte sich unsicher im Kreise und wusste nicht mehr recht, wohin er laufen sollte.
Alles, sogar sein ihm vertrauter Atem schien ihm auf einmal so fremd und, und die Bäume und Sträucher sahen plötzlich so anders aus als auf dem Herweg.
Sogar die Stimmen des Waldes schwiegen und Luca fühlte sich plötzlich mehr als allein.
Je weiter er stapfte, um so mehr verließ ihn sein Mut.
Er lief und lief und lief und weinte zwischendurch mehrmals ganz bitterlich.
"Lieber Gott!" rief er ganz kläglich in die Nacht. "Lieber Gott, hilf mir, hilf mir bitte ganz schnell aus dem tiefen Wald heraus...sonst muss meine arme Mutter vielleicht noch sterben, wenn ich nicht rechtzeitig bei ihr bin!"
Es kullerten ihm zwei ganz dicke und ganz besonders heiße Tränen aus seinen Augenwinkeln und er schaute verzweifelt in den Himmel.
Da... was war das ?
Zutiefst erschrocken drehte er sich auf dem Absatz herum.
Ganz dicht neben ihm hatte es im Unterholz geknackt.
Luca zitterte am ganzen Körper.
"He, he !" wisperte es plötzlich laut und vernehmlich aus einer dunklen Ecke des Waldes.
"He, sag, warum weinst du, kleiner Luca, warum weinst du so ?"
Luca hob ängstlich seine Augen auf und blickte zu der Stelle hinüber, von der die Stimme hergekommen war.
Er konnte zuerst nichts erkennen, da es so furchtbar dunkel im Wald war und blieb einfach stehen.

"Du brauchst dich nicht vor mir zu fürchten, kleiner Luca. Ich bin nur das Reh "Nimmerfroh" und werde nimmer froh!"
Lucas anfängliche Angst wich einem Erstaunen.
Er ging langsam auf die Stelle zu, von der die warme Stimme gekommen war.
Aus dem Nichts heraus stand urplötzlich auf einem schmalen Waldpfad ein wunderschönes, hellbraunes Reh mit vielen weißen Tupfen auf dem schlanken Rücken.
Es wendete ihm seinen Kopf zu und blieb abwartend und wie angewurzelt auf seinen vier Füßen stehen.
Luca sah, dass beide Augen des Rehes ,Nimmerfroh' dick angeschwollen waren und es nur noch durch einen winzig kleinen Schlitz hindurchsehen konnte.
Ganz, ganz traurig und mit jetzt gesenktem Kopf stand es vor Luca und machte ein sehr klägliches Gesicht.
"Liebes, liebes Reh ,Nimmerfroh', wie schrecklich du aussiehst mit deinen schlimmen Augen. Du armes, armes Reh, wie konnte das nur geschehen ?"
"Mein lieber kleiner Luca, was schaust du mich so groß und seltsam an ?"
Ja, ich bin fast blind und meine Augen schmerzen, sehr!"
"Ach, könnte ich doch wieder meinen geliebtenWald richtig sehen und die saftigen Kräuter, die mich nähren!"
Und es schluchzte auf einmal wie ein Mensch, nicht mehr und auch nicht weniger.
Da wurde es Luca ganz warm um sein kleines Herz.
Das Reh ,Nimmerfroh' hub wieder zu sprechen an....
"Ich will dir gerne erzählen, kleiner Luca, wie sich alles bei mir zugetragen hat."
Und es fing zu erzählen an.
Währenddessen das Reh ,Nimmerfroh' seine Geschichte erzählte, kraulte es Luca ganz zärtlich hinter seinen weichen Ohren und streichelte seinen samtenen Hals .
" Vor ein paar Tagen", so begann das Reh zögernd "bin ich beim Rennen durch den Wald an einem tiefhängendem Ast mit meinem Kopf hängen geblieben.
Ein Jäger hat mich mit seinem Gewehr durch den ganzen Wald verfolgt und da bin ich vor lauter Eile so schnell gerannt, dass mir ein scharfer Ast zwischen die Augen gefahren ist."
"Nun wird es täglich immer ärger mit meinen Augen und das saftige Gras kann ich auch nicht mehr gut finden, das mich bisher satt gemacht hat."

"Ohweh, ohweh, ich glaube, ich werde nimmer froh!"
Da durchzuckte Luca ein Gedanke...
Sein Gesicht strahlte freudig und er sprach zu dem Reh:" Nimm du von meinen schwarzen Wunderbeeren, die ich lose in meiner Mütze trage."
"Wenn du sie gefressen hast, werden auch deine Augen wieder besser werden und du kannst wieder richtig sehen und ...und wieder ganz froh sein, glaube mir!"
"Du musst nur ganz, ganz fest daran glauben, ganz ...ganz fest... so wie ich !"
Das Reh ,Nimmerfroh' schaute Luca ungläubig an und Luca erzählte dem Reh seine Geschichte. Erzählte von seiner großen Schwester Kathi und von seiner kranken Mutter und von den schwarzen Wunderbeeren und von dem Großvater, der ihm einst gesagt hatte , dass derjenige alsbald gesund werden würde, der diese Wunderbeeren verzehre.
"Das hört sich ja an wie im Märchen", meinte das Reh ,Nimmerfroh' nach einer Weile des Zuhörens.
"Gut, kleiner Luca, ich will deine Beeren versuchen und sehen, was daran ist", meinte das Reh, nachdem Luca geendet hatte.
Luca hielt seine offene Mütze vor den Kopf des Rehs ,Nimmerfroh' und sah, dass es alle Beeren auffraß.
"Ach, ich glaube nicht, dass es mir helfen wird", jammerte ,Nimmerfroh' betrübt.
"Ich glaube, ich werde nimmer froh!"
"Du musst ganz fest daran glauben", entgegnete Luca nun noch einmal laut und lächelte still in sich hinein.
Da glaubte das Reh ,Nimmerfroh' alles, so wie es ihm Luca geheißen hatte und ...nach einer winzig kleinen Weile öffneten sich seine Augen wie durch ein großes Wunder und Luca leuchteten zwei wunderschöne, braune Rehaugen aus dem Halbdunkel entgegen.
Überglücklich und froh sprang das Reh mit tapsigen Schritten zwischen den Bäumen umher und rannte dann voller Glück zu Luca zurück, der seinen Spaß an den lustigen Sprüngen hatte.
"Nun nehme meinen Dank entgegen, kleiner Luca."
"Ich will dir nun helfen, aus dem dunklen Wald heraus zu kommen. "
"Spring schnell auf meinen Rücken und halte dich dort gut fest an mir!"
"Es ist noch ein weiter, weiter Weg zurück zu deinem Dorf , zu deiner Mutter und zu deiner Schwester."
Luca sprang behände auf den Rücken des Rehs und los ging's !
Huuii, machte das Spaß!
Der Wind pfiff ihm nur so um die Ohren.
Die dunklen Tannen rasten an ihnen vorbei.
Eine Wildschweinfamilie sprang erschrocken zur Seite, als sie den jungen Reiter auf dem Rücken des Rehes entdeckten.
Der güldene Mond, der inzwischen wieder sein gütiges Gesicht zeigte, wies ihnen den Weg und die Sterne blinkten, als wollten sie sagen: "Nur zu, kleiner Luca, nur zu !"
Und der Nachtwind sang:"Eiiile, eiiile, !"
Nach einem langen, langen Ritt gelangten sie endlich am Rande des großen Waldes an.

Tief drunten im Tal sahen sie schon von weitem viele kleine Lichter umher irren.
Rauhe Männerstimmen erklangen.
Dann vernahmen sie ein Rufen:" Luuuuca, Luuuuuca, wo bist du ?"
Von überall her ertönten nun Stimmen, immer lauter werdend und immer näher kommend.
,Nimmerfroh' hielt mitten auf einer Waldwiese an.
Es waren nur noch ein paar Minuten, die sie vom Dorf und den lauten Stimmen trennten.
"So, mein kleiner, tapferer Luca", sprach ,Nimmerfroh'.
"Wir sind am Ziel."
"Hörst du, das ganze Dorf ist heute Nacht auf den Beinen und ein jeder ruft deinen Namen."
Luca sprang mit einem Satz vom Rücken ,Nimmerfrohs' herunter und sagte:" Hab' tausend Dank, liebes Reh ,Nimmerfroh'!"
"Du sollst ab heute ,Immerfroh' heißen !"
"Niemals werde ich dir vergessen, was du für mich getan hast!"
Und auch ,Immerfroh' bekam jetzt feuchte Augen und dankte Luca für seine Hilfe.
Und ehe es sich Luca versah, war ,Immerfroh' mit einem weitausholenden Sprung im Wald verschwunden.
Luca schaute noch einen Moment in die Richtung, aber es gab nichts mehr zu sehen.
Auf einmal, er hatte es gar nicht bemerkt, kam einer der nach ihm rufenden Männer mit einer Stalllaterne auf ihn zu und fasste ihn an seiner Jacke.
Es war der alte Christian, der Dorfschmied.
"Ist so etwas möglich?" rief der Mann aus.
"Steht der Bengel hier als wenn nichts wäre in der Nacht im Wald herum und winkt einem Reh hinterdrein!" " Tsst, tsst!"
Dann nahm er Luca an die Hand und rief die anderen Männer herbei, die ebenso erstaunt waren.
Und zusammen eilten sie, die rußenden Laternen vor sich her schwenkend und Luca in ihre Mitte nehmend dem Dorfe zu.
Bei den letzten Schritten zeigte sich schon der neue Tag und die Sonne schickte sich an, die Himmelsleiter zu erklimmen.
In Windeseile hatte es sich herumgesprochen, dass Luca gefunden sei.
Die Leute strömten auf dem Dorfplatz zusammen und starrten den Ausreißer mit teils unfreundlichen Gesichtern an.
Nur ein kleines Mädchen, es hieß wohl Lina, so genau konnte sich Luca nicht mehr daran erinnern, strahlte ihn an und wollte seine kleinen Ärmchen um ihn schlingen.
Jeder wollte natürlich sogleich wissen, wo sie Luca gefunden hätten und alles sprach wild durcheinander.
Eine ältere Frau hob plötzlich ihren Arm über die Menge und bedeutete Ruhe.
"Nun lasst ihn doch mal erzählen, ihr Leute."
"Ihr redet euch die Köpfe heiß und wisst am Ende doch nicht mehr als zuvor."
"Lasst ihn seine Geschichte erzählen!"
Und Luca fing an zu erzählen und redete und redete und redete.
Er stand in der Mitte des Halbkreises, den die Leute um ihn herum gebildet hatten und berichtete mit glühenden Ohren von seinen Erlebnissen.
Als er mit seinen Worten zu Ende war, lachten alle Leute ganz laut und ungläubig.
"Was für ein kleiner Lügner er ist" ereiferte sich eine Frau.
Eine andere :" Da seht nur, nun hat er auch schon den Teufel im Leib, wie seine Mutter, der kleine Satansbraten."
Wie konnte man auch nur so etwas glauben...
Wunderbeeren, ein sprechendes Reh, der Ritt durch den Wald.
Paah, das gab es doch nicht! Ein kleiner Lügner und Geschichtenerzähler ist er.
Wird es noch weit bringen in seinem Leben, wenn er weiter so die Leute zum Narren hält.
Es wurde stiller und bald achtete keiner mehr auf Luca.
Er zwängte sich zwischen den Beinen der Erwachsenen hindurch und rannte, so schnell er denn noch konnte, dem Hause der Mutter zu.
Als er dann endlich ganz atemlos vor der buckligen, alten Holzkate ankam, hielt er dann doch einen Moment lang etwas unschlüssig inne.
Was sollte er bloß seiner Mutter sagen ?
Wie viel Angst wird sie um ihn ausgestanden haben?
Und seine große Schwester Kathi erst ?
Er wird ihr nie wieder einen glitschigen, kalten Frosch in die Pantoffeln stecken...
Das leinerne Beutelchen fest in der einen Hand betrat er sodann das Haus mit etwas Bangigkeit in seinem kleinen Kinderherzen und hörte, als er in die Nähe der Schlafstube war, ein leises unterdrücktes Schluchzen.
"Mutter, liebe Mutter, hier bin ich doch schon wieder!" brachte er stammelnd hervor und lief den ausgestreckten Armen entgegen, die sich sofort ganz fest um ihn schlossen.
"Luca, mein Junge, wo warst du denn die ganze Nacht?"
"Wir dachten schon, du seiest im Moor ertrunken oder Fremde hätten dich heimlich mitgenommen."
"Wie sehr habe ich um dich geweint!"
"Ach, was bin ich so froh, dass ich meinen keinen Luca wieder habe, meinen Sonnenschein!"
Und sie strich ihrem Luca liebevoll und ganz sanft über seinen roten Schopf und gab ihm einen dicken, nassen Kuss.
Geradewegs auf die Stirn.
Und Luca strahlte.
Strahlte wie nie zuvor.
Die andere Stubentür öffnete sich mit einem Rums und Kathi flog auf Luca zu, lachend und weinend zugleich und gab ihm gleich noch einen Kuss, diesmal auf seine Stupsnase.
Dann setzten sie sich beide auf das Bett zur Mutter und Luca öffnete endlich sein Beutelchen.
Die beiden staunten nicht schlecht, als lauter funkelnde, schwarze Beeren auf das Laken kullerten.
Sie verströmten sofort einen nicht zu beschreibenden, lieblichen Duft, der durch alle Räume der alten Kate zog.
Es roch nach frischgepflückten Veilchen und mehr...!!
"Die, die habe ich für dich im Walde gepflückt, Mutter!"
"Es sind Wunderbeeren und der liebe Gott und das Reh ,Immerfroh' haben mir dabei geholfen, sie zu finden!"
"Nun aber mal langsam", warf Kathi behutsam ein.
"Nun musst du uns aber die ganze Geschichte erzählen, so, wie sie sich wirklich zugetragen hat, ja ?"
Und Luca erzählte, nein es sprudelte regelrecht aus ihm heraus, was er in den letzen Sunden da draußen im Wald alles erlebt hatte.
Die Mutter sah ihn mit großen Augen an und strich sich eine ihrer roten, glatten Haarsträhne aus dem Gesicht.
"Iß, Mutter, iß!" sagte Luca und reichte ihr eine Beere nach der anderen .
"Aber, du musst daran glauben, Mutter!" sagte Luca.
"Natürlich glaube ich dir, mein Kind", entgegnete sie.
"Und ich will gerne auch an die Wunderbeeren glauben, so stark ... wie du daran glaubst!"
"Wer Kindern keinen Glauben schenkt, ist arm dran und die Welt noch viel ärmer!"
Sagte es und nickte dazu immer wieder mit dem Kopf.
Kathi machte Frühstück, kochte einen Kamillentee und so saßen sie da und erzählten sich und lachten und scherzten und waren so glücklich, dass alles einen guten Ausgang gefunden hatte.

Die Zeit verstrich und es ging auf den Mittag zu.
Plötzlich, ganz unerwartet für Luca und Kathi, richtete sich die Mutter in ihrem Bett auf, wurde ganz rosig im Gesicht, lachte beide an und ..........sprang mit einem Satz aus dem Bett.
"Mutter!" riefen beide Kinder fast gleichzeitig erschrocken aus.
"Mutter, was ist mit dir?"
"Du musst doch das Bett hüten!"
Wieso kannst du wieder stehen und laufen?"
"Welch Wunder, welch Wunder!" rief da die Mutter laut aus und umarmte minutenlang ihre beiden Kinder.
"Ich, ich h a b e an deine Wunderbeeren geglaubt, Luca und nun, und nun ist mir so wunderlich in allen Gliedmaßen, dass ich sofort große Lust hätte, einen Spaziergang zu machen und Holz zu hacken und Wäsche zu waschen und..."
"Halt!" warf da Kathi ein.
"Ich bin doch auch noch da!"
Und Luca ergänzte:" Ich möchte doch weiter meine Stube alleine aufräumen und die Gänse hinterm Haus füttern und ... nur noch ganz wenig Fußball auf der großen Bleichenwiese spielen."
"Ja, sagte die Mutter und noch einmal :"ja!" "Das dürft ihr."
"Natürlich dürft ihr das !"
" Nur bin ich jetzt wieder ganz gesund und werde meinen Teil, so wie früher wieder dazu beitragen.
Sie setze sich in ihren alten Schaukelstuhl, hielt beide Kinder ganz, ganz fest an ihrem Herzen und schaute glücklich aus dem geöffneten Stubenfenster.
Gerade konnte sie noch sehen, wie ein wunderschönes, braunes Reh mit vielen hellen Flecken auf dem Rücken sie von weitem ganz lange anblickte, bevor es im Walde wieder verschwand, als wollte es ihr zunicken und ihr sagen :
Ja...es gibt die Wunder !
Luca und Kathi waren inzwischen fest eingeschlafen.
Sie träumten beide zugleich von einem wunderschönen Reh, welches sprechen konnte und sie auf seinem Rücken durch ein geheimnisvolles Zauberland trug...ganz hoch da oben...im Nordwesten des Landes.


D. O. 22.11.03

Jemand wird mein Märchen ganz besonders lieben...Dieter Christian Ochs, Anmerkung zur Geschichte

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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Dieter Christian Ochs).
Der Beitrag wurde von Dieter Christian Ochs auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.11.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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