Christine Wolny

Der vergessene Bär

Er saß in der Spielecke auf einem Hocker, ganz alleine. So wurde er am Montag von einer Kassiererin in der Volksbank vorgefunden. Ein Lächeln huschte über das Gesicht der Frau, als sie ihn so sitzen sah. "Du bist ein wunderschöner Bär", dachte sie. "Wer hat Dich denn am Samstag vergessen?"

Der Bär schaute sie mit seinen treuen Augen an. Er war froh, nun nicht mehr alleine zu sein.
Immer mehr Mitarbeiter füllten das Büro. Es waren alles fremde Leute für den Bären, doch besser so, als das lange, stille Wochenende.

Als am Samstag die Bank geschlossen wurde und nach und nach alle Menschen verschwanden, fühlte er sich so verlassen, dass sogar ein paar Tränen aus seinen brauen Augen tropften. Es war langweilig.

Er vermisste das kleine Kind, seine gewohnte Umgebung, das Zimmer, in dem er manchmal auf dem Boden lag und vor allem das Bett, in welches er manchmal zum Schlafen von dem Kind mitgenommen wurde.

"Wie kann ich denn hier im Sitzen auf diesem Hocker schlafen?", dachte er. Es war schrecklich. Der Bär machte kein Auge zu. Er lauschte ständig nach draußen. Doch viele Leute gingen vorbei und sahen ihn nicht einmal, weil der Vorhang zugezogen war. Am liebsten hätte er geschrieen. Doch was würde es helfen? Kein Mensch hätte ihn gehört. So blieb er still sitzen und träumte vor sich hin.

Er dachte an das Kind, welches ihn an jenem Samstag auf den Hocker setzte. Es spielte in der Kinderecke an dem Tisch mit Legosteinen, lauschte einem Märchen, das aus einem Telefonhörer kam und rannte in der Zwischenzeit immer wieder an den Schalter zu seiner Mutter. Es war so beschäftigt, dass es nur noch nach einiger Zeit den Ruf hörte : "Jetzt komm endlich!" Und schon war es an der Hand der Mutter und beide verließen hastig die Bank. Der Bär konnte das alles so schnell nicht begreifen. "Vielleicht kommt das Kind gleich wieder zurück?, dachte der Bär. Er war es gewohnt, überall herum geschleppt zu werden. Das war auch nicht immer angenehm. Es riss ihm manchmal fast den Arm aus. Doch das war immer noch besser, als der jetzige Zustand.

Der Bär erinnerte sich an das erste Weihnachtsfest, als er unter einem Lichterbaum saß und voller Freude von dem Kind in den Arm genommen wurde. Er war an diesem Abend Mittelpunkt. Er wurde herumgereicht und von jedem gestreichelt und liebkost. Es war traumhaft. Einfach wunderschön!

Die Frau, die ihn am Montag so traurig auf dem Hocker sitzend, in der Bank vorfand, nahm ihn in den Arm. Jetzt fühlte er sich schon etwas besser. Sie schrieb einen kleinen gelben Zettel mit den Worten:

Ich wurde vergessen.

Das Schildchen klebte sie auf den Bauch des Bären und setze ihn auf die Theke an einen erhöhten Platz, so dass er besser gesehen wurde.
Es kamen im Laufe des Jahres so viele Leute und Kinder, die ihn bewunderten und Spaß an ihm hatten, aber niemand gab sich als Eigentümer aus, und so saß er bis kurz vor Weihnachten auf seinem Platz.

Plötzlich war er verschwunden. Die Frau, die ihn als erste gefunden hatte, fragte ihre Mitarbeiter nach dem Bären, aber sie bekam immer eine nichtssagende Auskunft. "Das darf doch nicht wahr sein," dachte sie. "Keiner weiß, wo der Bär hingekommen ist.

Und als sie kurz vor Weihnachten in den Ruhestand entlassen wurde, schenkten ihr die Kolleginnen ein großes Paket. Darin war in Folie eingepackt, mit zwei rosa Schleifen an den oberen Ecken der frisch gereinigte Bär. Er roch sehr fein, und die Frau freute sich riesig und vergrub ihre Nase in seinem Fell. "Bei dir hat er es gut," das waren ihre Abschiedsworte der Kollegen, und so verlebte er sein nächstes Weihnachten bei ihr und keiner war mehr allein.

by Christine Wolny

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.11.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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