Sonja Nic Rafferty

Die letzte Wildrose im Garten meiner Mutter

Viele (Orts-)Namen dieser autobiografischen Kurzgeschichte habe ich geändert. Dieses ist eine gekürzte Fassung meiner 1.Version von 1992.


Das Luftkissen pumpt sich unaufhaltsam dicker, wie ein Ballon, der gleich platzen wird. Die Hover Speed hebt von der Hafendecke ab. Eine Stewardess trägt ungerührt von dem Schauspiel Erfrischungen durch den Gang, die “White Cliffs of Dover“ liegen hinter mir. Es tut gut, um mich herum das Meer zu wissen. Es hat, soweit ich zurückdenken kann, eine große Faszination auf mich ausgeübt. Ich hätte gerne an der Küste gewohnt. Ein Kind kann sich seine Umgebung aber nicht aussuchen. Es wird hineingeboren oder hineinadoptiert, wie ich es war.
Meine Gedanken schweifen zurück. Vor einer Woche bin ich mit meiner Tochter Lauretta, genannt Laura, zu dieser Fahrt aufgebrochen. Es kommt mir unwirklich vor. Vielleicht sitze ich gar nicht im Schiff, sondern gleich wird der Wecker läuten, und ich werde meinen Dienst in der Schule beginnen. Aber Laura sitzt neben mir und schaut aufs Meer. Der Kapitän begrüßt die Reisenden an Bord. Die Motorengeräusche übertönen seine Worte.
Warum ist Eva gestorben? Gestorben, bevor ich sie noch einmal gesehen habe? Ich habe Sonderurlaub bekommen, als der Anruf vom Officer des Police Departments kam. Einen Tag später erreichte ich das kleine Dorf an der Südküste Englands, in dem sie lebte. Ich hatte geglaubt, Eva in ihrem Cottage sei mir sicher, besuchen könne ich sie ja immer noch. Kann ich nicht! Aus und vorbei! Es wird auch keine Briefe mehr von ihr geben. Ich fühle mich zum zweiten Mal von ihr verlassen. Das erste Mal verließ sie mich, als ich noch ganz klein war.

Ich wische mit der flachen Hand den Schweiß aus meinem Gesicht, tauche unter in das dunkle Nass der Meereswogen, lasse mich treiben. Die Schaumkronen überspülen meinen erhitzten Körper und kühlen ihn ab, werden gebrochen durch eine wuchtige Gestalt, die sich aus unergründlichen Tiefen erhebt. Sie ist ganz aus glänzendem weiß-rosa Marmor. Plötzlich bewegt sich die Figur aus ihrer Versteinerung. Ihr Mund öffnet sich zu einem breiten, algenumrankten Schlitz, Unverständliches murmelnd.

Als ich die Augen aufschlage, sagt Laura: “Wir laufen in den Hafen von Calais ein.“ Der Schlund der Fähre spuckt die Autos mit uns aus, wie Luftblasen, die aus einem riesigen Fischmaul kullern. Die französische Landstraße ist leer. Meine Haare flattern im Fahrtwind, Eva hatte die gleichen braunen Kringel. Als ich sie zum letzten Mal sah, waren sie schneeweiß geworden. Nur an ihren Haaren hatte er sie identifizieren können, der freundliche Police Constable Tom Jarman. Ein Bobby, wie er im Bilderbuche steht.
Den Hausschlüssel für “Holly Lodge“, das Häuschen bei den Stechpalmen, hatten wir schon auf dem Hauptkommissariat vom Coroner´s Officer, July Fraser, erhalten. “Sie müssen sehr tapfer sein, wenn sie ins Haus gehen“, hatte July gesagt. Eva hatte wochenlang tot in ihrer Wohnung gelegen. Es war ungewöhnlich heiß für den Mai 1992. Wir standen vor Cottage, wie vor einem verwunschenen Spukschloss in einem verwilderten Garten. Bill hatte versprochen, uns zu begleiten. Wir fuhren also zu seiner Einraum- Polizeistation und mussten feststellen, dass er auf Streife war. Wir ließen uns gegenüber auf einer Mauer nieder und observierten das Flachdachgebäude, das von malerischen, rosenumrankten Backsteingebäuden umsäumt wurde. Nach einer Stunde gaben wir auf.
In der Nacht darauf lag ich wach unter der geblümten, resedafarbenen Bettdecke in unserer Pension. Die Schreie der Möwen erinnerten mich daran, dass wir uns an der Küste befanden. Ich hatte das Meer bis jetzt gar nicht richtig wahrgenommen.
Meine Gedanken kreisten um das Haus. Was hatte Tom gesagt? Zwei Herdstellen aus Metall, geschlungen wie eine Bratwurstschnecke, fand er glühend vor, als er die Haustür aufgebrochen hatte. Das Cottage hätte in Flammen aufgehen können. Mir wurde heiß, ich rang nach Luft. Die Schreie der Möwen klangen wie: “Feuer, Feuer!“

Ein Haus brennt. Es ist das Haus meiner Mutter. Meterhohe Flammen züngeln aus dem Dach. Ich versuche mir den weg durch das Gebüsch zu bahnen. Laura hält mich zurück, sagt: „ Es hat keinen Zweck, zu spät.“Im Flackerlicht taucht Bill auf. Er legt den Körper meiner Mutter vor mich hin. Sie sieht jung aus, wie auf den Fotos aus der Nachkriegszeit. Ich glaube ein Lächeln um ihre Mundwinkel zu erkennen. “Es war wie das Ausknipsen eines Lichtschalters“, errät Tom meine Gedanken.

Die Schreie der Möwen wurden vom Wecker übertönt. Beim englischen Frühstück im Kaminzimmer besprachen wir Termine. “Bestattungsunternehmer“ – wie heißt das noch mal? Undertaker, ach ja: “Unter-die-Erde-Bringer“.
Wir erreichen Oostende gegen Mitternacht. Im Hotel “Starfish“ ist es immer das gleiche Spiel. “Wir sind ausgebucht, Madame.“ “Wirklich nichts mehr frei?“ Der alte Herr wird fündig. Er nimmt Lauras Ausweis, “Schwarzhelm“ liest er. Sie korrigiert “Schwerthelm“. “Schwerthelm“, sind das die, die umsonst mit der Bahn fahren?“ “Nein, das sind Schwarzfahrer.“ Das Fenster unseres Zimmers führt auf einen Schacht. Es ist still, da sind sie wieder, die Schreie der Möwen: “Feuer, Feuer – Feuer““ der Portier serviert das Frühstück und wiederholt mit niederländischem Akzent: “Schwarzfahrer“.
Belgien ist schnell durchquert. Laura legt eine Kassette von den ´Pogues´ ein. Es ist eine irische Folkloreband. Ich mag keltische Klänge. Sie erinnern mich an meinen Vater. Er ist schottisch-irischer Abstammung. Die Fotos, die Eva mir schenkte, sind ganz abgegriffen, ich habe sie unzählige Male betrachtet. Er soll in Hongkong gewesen sein, als ich geboren wurde. Ich habe ihm immer hoch angerechnet, dass er versuchte mich nach Schottland zu holen, als er von meiner Existenz erfuhr.
Niederländische Grenze, niemand im Stationshäuschen. Im Ruhrgebiet verdichtet sich der Verkehr auf der Autobahn. Vor uns eine bizarre Silhouette riesiger Fabrikschornsteine. Ich nehme meinen roten Taschenkalender zur Hand. Eine gepresste Heckenrosenblüte rutscht heraus. Ich pflückte sie in Evas Garten.
Es war Sonntag. Wir verließen das Haus unter dem Glockengeläut des ´Big Ben´, einer Nachbildung, die unsere Vermieterin in ihrem Treppenhaus hängen hat. Bill war in seinem Büro. Er berichtete von dem Auffinden der ´Hülle´ meiner Mutter. “ ... ihre Seele war schon fort.“ Auf seine Frage: “Kennen Sie sich mit Toten aus?“ zuckte ich mit den Achseln. “Diese Hitze, die Maden waren schon aktiv.“ Er sagte es mit ernstem, aber keineswegs angeekeltem Gesichtsausdruck. Der Constable deutete auf die gegenüberliegende Straßenseite mit ihren aufgereihten kleinen Läden. “Dort ging sie täglich vorbei, eine Strickmütze auf dem weißen Haarschopf. Zwei Flaschen füllte sie in der öffentlichen Wasserstelle, ihre Wasserleitung war zusammengebrochen. Sie war nicht direkt verrückt, aber verwirrt. Ihr Haus ist voll mit Schachteln, Zeitschriften und allerlei Kram auf dem Fußboden.“ Wir fuhren im Streifenwagen zu Evas Haus. Bill ging voran in den dunklen Flur. Ein ekelhafter Geruch stieg mir in die Nase. Ich floh hinaus, rang nach Luft und fand mich inmitten von Büschen wieder. Zartrosa blühte ein Strauch Heckenrosen. Spontan brach ich eine Blüte ab.

Blut läuft über meine Hand, tropft auf die Blüte, färbt sie dunkelrot. Eine Ranke umschlingt meinen Körper, legt sich als Schlange um meinen Hals. Mir fehlt die Luft zum Atmen, ich muss gestorben sein. Mein weißes Sommerkleid ist bestickt mit rosa Heckenrosen. Dornenranken kränzen den perlmuttfarbenen Marmorsarg, der meine heißen Wunden kühlt. Es ist kein Prinz, der Dornröschen wachküsst, sondern ein Sonnenstrahl, an der Nase kitzelnd. Glitzernd und wärmend hat er sich seinen Weg durch das Dickicht gebahnt, als wolle er sagen: “Solange du noch ein Licht am Horizont erblickst ... .“

“Alles in Ordnung?“ hörte ich eine Stimme aus dem Cottage. Ich durchsuchte bald darauf Kartons nach Fotos, Briefen und Dokumenten. Schwarze Stöckelschuhe lagen in einer Ecke. “Aus besseren Zeiten“, kommentierte ich. Tom lächelte: “Sie war attraktiv, als sie jung war.“ Mit einem Gemälde verließen wir ´Holly Lodge´. Laura wollte das Bild, das ein Mitbringsel meines Vaters aus Hongkong war, im Streifenwagen auf den Fahrersitz statt auf den Baifahrersitz stellen. “Wir sind nicht in Deutschland“, bemerkte Tom albern. Seine Heiterkeit wirkte befreiend. Dieser kleine Badeort aber verlor für mich seinen sonnigen Charakter. “Ihre Mutter ist nicht die einzige, die so lebte. Die alten Leute siedeln sich hier an, um in Ruhe zu sterben“, sagte Constable Tom.

Wir nähern uns Hannover. Es ist immer noch heiß. Abseits der Autobahn tauchen wir in dunkle Fichtenwälder ein, die uns kühlen Schatten versprechen. Dunkel war auch der Wald des „Wild Life Area Crematorium“, indem wir Eva begruben.
Wir, das waren nur der Vikar, der Bestattungsunternehmer, Laura und ich. Ich starrte unentwegt auf den Eichensarg, der hinter einem geöffneten purpurroten Vorhang aufgebahrt war. Schneller als von mir erwartet, schloss sich feierlich der Vorhang. Ich verabschiedete mich endgültig von Eva. Es war ein einsames Begräbnis.
James Grant war der Mann, der Eva nach der Trennung von meinem Vater heiratete. Sie wohnten nur ein halbes Jahr zusammen. Jetzt fand ich seine Adresse in den Unterlagen meiner Mutter. Wir parkten vor einem jener typischen englischen Reihenhäuser. Eine ältere Dame öffnete die Haustür. Es war James’ Witwe. Sie kochte Tee. Dabei redete sie pausenlos über ihre fünf Kinder. Einer ihrer Söhne hieß Kevin. Plötzlich war von Kevins ´mother´ die Rede. Ich fragte beiläufig, wer denn seine Mutter sei, wenn nicht sie. Ihre Antwort verschlug mir den Atem: “Eva!“ Ich hatte also einen Bruder, drei Jahre jünger als ich. Ich empfand ein Gefühl von ganz besonderer Freude. Leider kannte Kevins Stiefmutter seine Adresse nicht. Er lebte in London, das war alles, was sie uns berichten konnte.
Eine halbe Stunde später saß ich Keith Harrison, meinem Rechtsanwalt gegenüber. Ich beauftragte ihn, meinen Halbbruder zu suchen. Keith war schlaksig und blinzelte uns mit lichtem ´Silberblick´ verschmitzt an, er machte sich Notizen. Ich legte den Hausschlüssel von ´Holly Lodge´ auf den Schreibtisch. Keith stand vor seinem Büro als wir Richtung Deutschland aufbrachen und winkte uns zu.

Der Alltag war eingekehrt. Nicht, dass ich Eva und ´Holly Lodge´ jemals vergessen könnte, aber es gab Dinge, die sich gedanklich Vorrang verschafft hatten. Die Blätter fielen leise von den Eichen vor unserem Haus. Ich war nach einer Konferenz rechtschaffen müde. Es war ein grauer Tag, von dem ich nicht viel erwartete. Ich ging früh schlafen und hörte plötzlich: “Telefon, England!“ Ich sprang aus meinem Bett und überschlug mich fast: “Sonja?“ fragte eine männliche Stimme: “I am Kevin – Kevin Grant“.


© 1992 / 2002 Sonja Nic Rafferty

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.11.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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