Manfred Gries

Verantwortung - zwischen Mensch sein und Mensch bleiben

Eines der Lieblingsthemen, die mein Freund, der Diakon, und ich in der Vorweihnachtszeit zu erörtern pflegen, ist das Wort Verantwortung. Meist nutzen wir solche Gespräche, um das vergangene Jahr unter einem gemeinsamen Gesichtspunkt zu beleuchten. Gut vorbereitet durch die Ereignisse, die wir - jeder für sich - einsortiert haben, treffen wir uns zwanglos und scheinbar zufällig am Ende des Jahres zu diesem Disput der besonderen Art. Und während Schneeflocken aus der Schneeflockenbäckerei vom Himmel fallen, lächelt Gott in unser Gespräch - denn an Gott glauben wir beide, seine Botschafter betrachten wir skeptisch, sind sie doch Menschen wie er und ich. Und so beginnen die Gespräche auch immer wieder mit dem gleichen Inhalt: Verantwortung.

“Ich denke, Verantwortung ist das schwierigste Wort in unserer Gesellschaft“, so begann das Gespräch auch dieses Jahr wieder. “Solange ich meine Aufgaben erfüllen kann, bedarf es nicht des Wortes ´Verantwortung´, um diesen Gewicht zu verleihen.“ Und wie jedes Jahr lächelte mein Freund still vor sich hin. Er weiß, dass ich Verantwortung nicht ablehne. Ich habe nur meine eigene Definition für diesen Begriff.

Und schon waren wir mitten im Thema. Karl Heinz, ein Enddreißiger - verheiratet, zwei Kinder - hatte im Frühjahr seine Frau verlassen. Wir kannten ihn zwar nicht persönlich, aber dafür andere, für die sein Schicksal sich stellvertretend in unsere Diskussion schlich. “Ich halte das nicht aus“, waren seine Abschiedsworte. Seine Frau Gundula - auch sie kannten wir nicht persönlich - schaute ihn verständnisvoll an. Er hatte sie geheiratet in der Blüte ihres Lebens. Schöne Brüste und ein herrlich schlanker Körper, auf dessen Haupt blondes Haar über blauen Augen Sanftmut und Liebe ausstrahlte. Die Kinder waren in jenen Nächten der Begierde eine Art Erfüllung der Lebensgemeinschaft geworden, die die beiden eingegangen waren - bis dass der Tod sie scheidet. Aber bis zum Tod dauerte es noch ein wenig. Vorerst hatte die Chemo nur ein wenig an der Haarpracht geändert und die blauen Augen in Höhlen mit Rändern unter den Augenlieder verbannt. Zugegeben, auch Gundulas Kraft war ein wenig der Sorge um sich gewichen und das frühere Verständnis für ihren Mann hatte Grenzen gesetzt bekommen. Sie konnte ihre “Verantwortung“ nicht mehr so richtig wahr nehmen. Mein Freund sprach an dieser Stelle von Verantwortung - ich vermied es, ihm zuzustimmen.

Überhaupt war Gundula aus der Sicht von Karl-Heinz unberechenbar geworden. Sie entwickelte Launen, konnte manchmal 10 Minuten lang auf das Küchenmesser starren, mit dem sie die Zwiebeln schnitt - ja, sie kochte noch, wann immer die Grenzen es ihr erlaubten. “Ich halte das nicht mehr aus“.

Unser Gespräch versuchte nun, diesen Satz zu beleuchten. Was war es, das Karl-Heinz nicht mehr aushielt? Die Ungewissheit im Leben der beiden`? Die Veränderungen in Gundulas Verhalten? Den bevorstehenden Rückzug aus der partnerschaftlichen Beziehung? Die Auseinandersetzung mit dem Tod, die für den Enddreißiger viel zu früh kam? Gundula schaute Karl-Heinz nach, während das Haus verließ und in sein Auto stieg. Die Kinder begrüßten das Kindermädchen herzlich und warteten geduldig auf den Eintopf, den es an jenem Tag gab. Sie schauten ihre Mutter mit Kinderaugen an, die zwar fragend waren, jedoch auf Antworten hofften. Diesmal lächelte ich. “Verantwortung bedeutet, den Lebensweg zu gehen, den wir selbst für uns als den richtigen betrachten.“ Mein Freund schaute mich nachdenklich an.

Gundula schnitt noch 2 Monate Zwiebeln für die Kinder und Karl-Heinz ging mit ihnen hin und wieder in den Zoo. Er fand eine nette Lebenspartnerin, die Verständnis für seine Situation aufbrachte. Dann schied der Tod die beiden Eheleute, die bis zum Schluss ihre Verantwortung wahr genommen hatten. Mein Freund steckte sich eine Pfeife an. “Ich bin froh, dass trotz aller Schwierigkeiten, mein Eheleben in Ordnung ist.“ Damit blieb, wie jedes Jahr, die Verantwortung bei jedem von uns. Ich schaute zurück auf die Zeit, als sich mir dieselben Fragen stellten, die in unserem Gespräch unbeantwortet geblieben waren. Was immer mich zurückhielt die, Tür hinter mir zuzuschlagen - Verantwortung war es nicht. Vielleicht Liebe? Liebe zu mir selbst?

Manchmal geht es mir durch den Kopf, dass Verantwortung wirklich etwas mit unserem eigenen Leben zu tun hat. Wir müssen entscheiden, was gut und richtig ist. Andere können nur bewerten nach den Maßstäben ihres eigenen Lebens. Und dann kann schon einmal die ein oder andere Tür ins Schloss fallen. Im Pfeifenrauch der Geschichte verändert sich die Verantwortung mit jeder Generation. Was letztlich bleibt, ist der Weg, den wir gehen. Miteinander oder getrennt voneinander.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.12.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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"Schmetterlinge im Kopf und Bauch" ist mein holpriger lyrischer Erstversuch. Mit Sicherheit merkt man, dass es keine Lektorin gab, wie übrigens auch bei den anderen beiden Büchern nicht. Ungeordnet sind viele Gedichte, Gedankenansätze, Kurzgeschichten chaotisch vermengt veröffentlicht worden. Ich würde heute selbstkritisch sagen, ein Poet im Aufbruch. Im Selbstverlag gedruckt lagern noch einige Exemplare bei mir. Oft schau in ein wenig schmunzelnd in dieses Buch. Welche Lust am Schreiben von spontanen Gedanken ist zu spüren. Ich würde sagen, ein Chaot lässt grüßen.

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