Carrie Winter

Steht auf und sagt es ihnen!

Ich saß, wie jeden Abend, auf dem alten Sofa und starrte die tanzende Menge von Jugendlichen an.
Die meisten sah ich jedes Wochenende hier, die wenigsten unter der Woche. Sie schienen nicht dafür geschaffen zu sein, die ganze Nacht zu feiern und dann in die Schule zu gehen und gute Noten zu schreiben. Das schien in irgendeiner Weise ihre Grenzen zu überschreiten. Meine Grenzen waren da schon etwas flexibler. Wenn es sein musste verbrachte ich die ganzen Stunden zwischen Sonnenunter- und Sonnenaufgang in diesem Club und schrieb anschließend eine fantastische Englisch Arbeit.
Meine Gedanken wurden von einer lauten Begrüßung unterbrochen. Ohne aufzusehen rückte ich zur Seite und machte Charlie Platz. Er sank so erschöpft auf die Couch, als hätte er gerade einen 500 Meter Lauf hinter sich - gleichzeitig hörte sich seine Stimme absolut aufgeregt und begeistert an.
“Hast du Marc gesehen?! Hast du ihn gesehen!“ rief er lachend.
Stirnrunzelnd sah ich ihn an und antwortete: “Ich finde das nicht witzig. Es geht ihm verdammt schlecht. Erst die Sache mit seinen Eltern und jetzt das mit Katie.“
Er machte eine abwinkende Handbewegung, warf einen Blick in die Runde, ob irgendwo Marc war und erklärte mir dann leise: “Seine Eltern wollten ihn auf Entzug schicken. Aber sie haben keinen Platz gefunden. Und jetzt soll er ins Internat. Crass, oder? Wenn die das echt durchziehen, spendiere ich ihnen eine Flasche Sekt!“
“Fantastisch. Die können sie dann gleich ihrem alkoholkranken Sohn geben.“ erwiderte ich trocken und wollte aufstehen, aber er hielt mich zurück.
“Was ist los? Als wir letzte Woche erfahren haben, das Marc mit seinen Eltern Schwierigkeiten hat, hast du eine Orgie gefeiert! Und als diese Schlampe Katie sich dann noch von ihm getrennt hat, hast du auf Wolken getanzt! Wo ist das alles hin? Ich will etwas mehr Begeisterung!“
“Du bist doch krank!“ sagte ich fassungslos. “Glaubst du denn wirklich, ich finde es gut, wenn es meinem Ex schlecht geht? Nur weil er mich betrogen hat, heißt das nicht, das ich ihn für alle Zeit leiden sehen will! Verdammt! Hältst du mich wirklich für so sadistisch?“
Vollkommen gelassen hörte er mir zu. Als ich schließlich geendet hatte, fing er an zu lachen. Er lachte so laut, dass sich einige Jugendliche, die in unserer Nähe standen, nach ihm umdrehten. Aber das hinderte Stephen nicht daran, noch eine geschlagene Minute weiter zu lachen.
Ich spielte gerade mit dem Gedanken, ihn zu schlagen, als er endlich aufhörte und auf einmal todernst sagte: “Carrie, du bist ein Miststück. Ich weiß das, du weißt das und vermutlich wissen es noch etliche andere Leute auch. Dein größter Wunsch ist es, Verderben über alle zu bringen, die dich schlecht behandelt haben. Und das hast du jetzt auch geschafft. Aber in deiner Seele scheint immer noch was von deiner Erziehung zu hängen. Obwohl ich eigentlich dachte, der Tod deiner Eltern, hätte endlich alle Werte beseitigt, die sie dir aufgezwungen hatten. Na, wie auch immer...“
“Hör mir zu.“ unterbrach ich ihn. Aus meinen Augen schoßen Funken und meine Stimme war so kalt, dass sie Alaska hätte einfrieren können. Stephen starrte mich mit einer Mischung aus Erstaunen und Faszination an. Es war bestimmt ein tolles Erlebniss, eine gefühlslose Schlampe in Wut zu erleben.
“Es gab eine Zeit in meinem Leben, in der ich durch die Hölle gegangen bin. Ich habe Dinge erlebt, die du dir nicht mal vorstellen kannst. Aber ich bin daran nicht gestorben. Das einzige, was ich einbüßen musste, war mein Herz. Aber ich hatte kein Problem damit. Ich dachte, ich bräuchte es nicht. Du hast Recht. Es machte mir wirklich Spaß, diejenigen bluten zu sehen, die mich durch diese Hölle geschickt hatten. Aber mit jedem Tritt mehr, den ich meinem Opfer versetzte, wurde auch die Chance kleiner, jemals wieder so etwas wie Freude und Liebe spüren zu können. Ich habe...“
Mitten im Satz brach ich ab. Auf einmal schien sich alles um mich herum zu drehen, Schweiß rann an mir herunter, mein Atem ging nur noch stoßweise. Ich wollte weitersprechen, musste weitersprechen.
Aber das einzige, was über meine Lippen kam, war ein klägliches Wimmern.
Stephen stand auf, packte mich am Arm und zog mich nach draußen, wo mir die kalte Winterluft brutal ins Gesicht schlug und mir in die Lungen schnitt. Trotzdem atmete ich sie tief ein. Langsam ging es mir wieder besser. Alle Dinge waren wieder an ihren normalen Platz zurück gekehrt und meine Stimme schien sich wieder gefestigt zu haben. Vorsichtig, wie um zu verhindern, dass so was noch mal passiert, sagte ich: “Ich war brutal. Ich habe alle gehasst und hab immer genau da getroffen, wo es am meisten weh tat. Und als ich sie dann sah, wie sie blutend am Boden lagen, da habe ich gelacht. Ich hatte ein Gefühl, als hätte ich gewonnen. Aber das hielt nur ganz kurz. Danach war in mir nur...
nur eine Leere. Nichts. Und ich wollte unbedingt, dass etwas in mir ist! Etwas, das länger hält als dieser kurze Machtrausch! Etwas, das ich nicht durch eine bestimmte Tat herbeirufen muss! Verstehst...Verstehst du, was ich meine?“
Er nickte und streichte mir beruhigend über den Kopf. Ich war mir nicht sicher, ob er das alles wirklich verstand, aber ich musste es jetzt einfach los werden. Also redete ich weiter.
“Weißt du, nachdem ich begriffen hatte, dass ich etwas will, das länger hält, habe ich mich auf die Suche gemacht. Überall habe ich geschaut. Nur...Gefunden habe ich nie etwas. Ein mal dachte ich, ich hätte es gefunden. Ein paar Tabletten und ich habe mich absolut wunderbar gefühlt. Leider musste ich rausfinden, dass dieses Gefühl genauso vergänglich ist, wie das andere.“
“Carrie...“ sagte er langsam und nachdenklich. “Wenn du raus gefunden hattest, dass dieses ganze Leid zufügen und Drogen nehmen dir nicht das gibt, was du willst, warum hast du dann damit weitergemacht? Warum machst du es jetzt immer noch?“
Ich lächelte leicht gequält und antwortete: “Weil es besser war, kurzweilig etwas zu fühlen, als gar nichts zu fühlen. Es war mir das Wichtigste, etwas zu spüren. Aber...Wie gesagt, diese Jahre in der Hölle haben mir zu sehr zu gesetzt. Ich hätte diese Schmerzen, so wie ich war, nicht überleben können, also habe ich mir Gift gespritzt, das alle meine Empfindungen tötete. Dadurch konnte ich den Schmerz nicht mehr spüren. Aber jetzt gibt es keinen Schmerz mehr. Und jetzt will ich etwas spüren! Ich will in den Spiegel schauen und sehen, dass meine Augen lachen!“
Zweifelnd schüttelte er den Kopf, als wollte er mir widersprechen, dann aber meinte er: “Ich verstehe dich. Und glaub mir, es haben schon andere bemerkt, dass du merkwürdig gefühlslos zu sein scheinst. Mich würde jetzt aber interessieren, was du alles versucht hast, um wieder Gefühle hervor zu rufen. Was hast du getan, außer andere zu quälen und Drogen zu nehmen?“
“Viel. Ich habe...Ich habe zum Beispiel meine Haut aufgeschnitten. Ich wollte sehen, wie das Blut auf den Boden tropft und dann wollte ich zu mir selbst sagen, das alles in Ordnung wäre. Weil... Nur lebende Menschen können bluten. Also muss ich leben. Und wenn ich lebe, muss ich doch auch etwas fühlen. Merkwürdige Logik, ich weiß. Lassen wir das Thema. Was ich getan habe, ist völlig egal. Der springende Punkt ist, dass nichts davon geholfen hat.“
“Aber jetzt hast du etwas gefunden, oder?“ fragte er und in seinen Augen leuchtete Erkenntniss auf.
“Du hast etwas gefunden und deswegen tut dir Marc leid und deswegen warst du auch vorhin so wütend! Aber was hast du gefunden? Und seit wann hast du es?“
Schweigend sah ich ihn an. Die Kälte war schon längst unter meinen Pullover und meine Jeans gekrochen, aber im Moment schien sie mir nichts anhaben zu können. Eine wunderbare, unbekannte Wärme war in mir und machte alles unbedeutend. Ich musste lächeln und ich wusste, das meine Augen jetzt gerade im Moment auch lächelten.
“Stephen, es wird sich für dich zwar unverständlich anhören, aber ich werde es dir trotzdem erzälen. Gestern war dieses Gefühl der Leere wieder so stark, dass ich zu der Brücke ging. Ich habe mich auf das vereiste Gelände gestellt und bin darauf herum gegangen. Vor und zurück. Hin und her.
Vermutlich wäre ich bald runtergefallen, wenn nicht ein junger Mann gekommen wäre. Er hat mich vom Gelände gezerrt und mich angeschrieen, was das soll und ob ich denn verrückt sei. Ich hab in seine Augen gesehen und...so komisch es sich auch anhört...er hatte Angst. Er hatte wirklich Angst um mich. Und in dem Moment hat es mir leid getan. Es hat mir leid getan, dass er sich wegen mir so schlecht fühlt.“ erzählte ich, immer noch lächelnd.
Stephen schwieg einige Sekunden, dann sagte er: “Ich versteh das nicht ganz. Nur weil er dich angeschrieen hat, hast du wieder etwas gefühlt?“
“Nein...Das ist schwer zu erklären. Es war einfach...Ich habe zum ersten Mal Jemanden gesehen, dem ich nicht egal bin. Und diese Gewissheit, das es einen Menschen gibt, der um mich trauern würde, wenn ich runtergefallen wäre, hat in mir wieder das auferstehen lassen, was das Gift getötet hatte.
Ich weiß, das hört sich total bescheuert an, aber es war so.“
Verletzt sah er mich an und sagte leise: “Du bist mir nicht egal. Du bedeutest mir etwas. Und es würde mir verdammt beschissen gehen, wenn du sterben würdest.“
Impulsiv legte ich die Arme um ihn und drückte seinen kalten Körper an meinen. Leise flüsterte ich in sein Ohr: “Das wusste ich nicht. Ich dachte, ich wäre für dich nur irgendeine Bekannte. Du hast mir niemals gesagt, dass ich dir so viel bedeute.“
“Ich wollte es ja. Aber irgendwie...Du kannst doch nicht einfach während irgendeines Gespräches plötzlich sagen `Hey, ich mag dich übrigens total gerne und du bedeutest mir sehr viel!`“
Sanft strich ich mit meiner Hand über seinen Rücken und flüsterte: “Vielleicht würden einige Selbstmörder noch leben, wenn die Menschen aufgestanden wären und ihnen das gesagt hätten.“


HI! Charlie und Stephen sind natürlich eine Person! Habe aus Versehen einen anderen Namen geschrieben!
Sorry für die Verwirrung!
Carrie Winter, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.12.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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