Anilorac Reztinök

Engel

Die Türen öffneten sich und eine Woge von hektischen Menschen schwappte in die U-Bahnhaltestelle. Mit dem Strom schwimmend gelang mir ein kurzer Blick auf die Uhr. Schon wieder zu spät. Doch es gab keine Möglichkeit die Geschwindigkeit zu beschleunigen, alles konnte nur immer im gleichen Takt und Tempo ausgeführt werden. Wie ein Roboter, fühlte ich mich, unterworfen und nicht fähig auszubrechen. Enge, Erdrückung, stickige Luft. Kaum Platz zum Atmen.
Endlich angekommen am Bahnsteig stellte nicht nur ich fest, dass der Anschlußzug sich schon verabschiedet hatte. Wir mußten warten. Wir, die wir keine Gemeinsamkeit trugen, als den alltäglichen Weg zur Arbeit. Da saß ich, niedergeschlagen und frustriert, wie alle anderen, - ja - um nicht aus der Reihe zu fallen, und starrte auf meine Füße. Uniform konnte man es nennen, jeder einzelne in der gleichen Verfassung Unbewußt und vielleicht auch ungewollt waren wir eingefügt in ein Dasein der bösen Gesichter.
Plötzlich ohne Vorwarnung spürte ich etwas wohlig warmes in meiner Brust. Es war wie Musik, die sich in alle Regionen meines Körpers ausbreitete. Ich sah auf um herauszufinden wo die Quelle dieser Empfindungen lag und entdeckte zwischen all den grauen Gestalten ein Mädchen. Ihr dunkles Haar wogte die Schultern herab und der weiße Strickmantel berührte fast den Fußboden. Sie stand da, wie der Fels in der Brandung.
Eine Aura der Stärke und Entschlossenheit umgab sie und sie strahlte etwas aus, das wir alle nicht mehr zu besitzen schienen: Gefühl.
Noch während ich sie mit verblüfften Augen betrachtete, wandte sie sich zu mir um. Auch ihr Blick gab ein Erstaunen preis, nach dem sie mich genauer betrachtet hatte. Ihren Kopf ein wenig schräg gehalten, schien sie etwas in mir zu suchen und dann ganz plötzlich, ohne Vorwarnung, entspannten sich ihre weichen Züge. Sie schlug die Augen zu und als sich ihre Lieder wieder öffneten, formte sich ihr Gesicht zu einem ehrlichen Lächeln.
In diesem Augenblick fuhr der Zug in den Bahnhof ein. Seine Bremsen quietschten und Wind wehte uns entgegen. Die graue Masse flutete in die Abteile und riß mich mit. In letzter Sekunde konnte ich noch aus dem Fenster schauen. Unsere Augen trafen sich ein letztes mal und so hatte ich die Möglichkeit nur für diesen Augenblick ihr Lächeln zu erwidern.
Dann tauchte die U-Bahn in den Schacht und ließ mich zurück gleiten in die alltägliche Welt voll Arbeit und Unzufriedenheit. Nur eines blieb zurück: Ihr Gesicht, das sich in meinem Herzen verankert hatte.

Noch lange Zeit dachte ich an diesen Moment. Sie hatte mir etwas geschenkt, das ich schon verloren gegangen glaubte. Ihre vorbehaltslose Art Gefühle zu zeigen war wie eine Erfrischung in der atemlosen Einöde des stumpfen Alltags. Und ohne Zweifel kann ich sagen, ich habe einen Engel gesehen.

Eine alltägliche Begegnung und doch etwas ganz besonderes! Anilorac Reztinök, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.12.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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