Manfred Gries

24. Dezember 2003 - Der Wanderer

In Paris lächelte der alte Grieche auf französisch in sich hinein. Jahre waren vergangen, seitdem er dem Wanderer begegnet war. Seine Augen funkelten tief dunkel, sodass manch eine Frau schwach geworden wäre - allein, heute war keine Frau zugegen. Wir saßen in einer kleinen Einzimmer Wohnung in der Nähe der Rue St. German und philosophierten über dieses und jenes. Dieses war die Einsamkeit inmitten einer Millionenstadt und jenes die Schönheit eben dieser Stadt. Es ging auf Weihnachten zu und die Damen im Viertel schwangen ihre Taschen und Hüften zärtlicher als das Jahr über.



In den frühen Morgenstunden des 24. Dezembers 2003 erwachte ich unruhig. Jemand hatte das Wohnzimmer betreten und beim Öffnen der Tür einen Luftzug über die Wolldecke geschickt, unter der ich auf der Couch letzte Nacht eingeschlafen war. Paris lag lang zurück und die Ereignisse der Jahre danach schienen heute morgen zu erwachen Der Wanderer setzte sich in einen freien Sessel und schaute mich an, als erwarte er etwas von mir. Das seltsames Funkeln lag in seinen Augen.

Langsam nahm mein Kopf seine Arbeit auf und mein Gemüt schaute friedlich in den Tag. Heilig Abend begann heuer überraschend. Bilder von Menschen erschienen vor meiner Erinnerung, die ihren Ursprung in jenem Funkeln zu haben schienen, das in den Augen des Griechen damals begann und heute vom Wanderer zu mir getragen wurde. Da waren die scheinbaren Verletzungen, die die Enttäuschungen der Jahre in meine Sicht der Welt zu prägen versuchten. Hindernisse auf dem Weg zur Persönlichkeit, lächelten mir die Augen des Wanderers zu. Wie war das zu verstehen? Ich löste mich von seinen Blick und schaute genauer hin. Verbitterung beginnt mit der ersten Verletzung und wächst mit jeder weiteren, die man in seinem Leben erfährt. Aber, wo waren sie hin, die Verletzungen? Heute schienen sie zu verblassen im Funkeln dieser ruhigen Augen, die meinen Blick unwillkürlich anzogen, als wollten sie die Verbitterung aus meiner Seele nehmen. Meine Augen funkelten zurück - zunächst nur leicht.

Die ersten Verletzungen erschienen im Licht der Erinnerung. Damals hatte ich eine Vorstellung vom meiner Welt und ich suchte Bestätigung bei den Menschen meiner Umgebung. Diese jedoch sahen meine Welt aus der Perspektive ihrer eigenen Interessen und im Licht ihrer Fähigkeiten, von denen die Menschen alle unterschiedliche besitzen. Gekränkt, dann verletzt, wich der Kampfgeist aus meinem Handeln und wurde von der Verbitterung abgelöst. Meine Talente traten in den Hintergrund und meine Welt versank im Nebel. Damals traf ich zum ersten Mal eine Entscheidung. Ich kämpfte blind weiter, etwas ziellos, aber doch zielstrebig. So blieb die Verbitterung eine Wolke am Himmel der Seele, die aus der Ferne ihre Hand zu reichen schien - scheinbare Hilfe auf dem Weg in die Abhängigkeit.

Von derlei Verletzungen umgeben, schaute ich mit immer anderen Blickweisen auf meine Welt, versuchte sie neu zu verstehen und den Menschen feil zu bieten. Gleichzeitig teilte das Schwert meiner wachsenden Persönlichkeit die Nebel in Fetzen, die mir das Ziel manchmal erscheinen ließen, als sei es vor mir und doch nicht greifbar. Meine Welt veränderte sich. Ich lernte, andere zu begleiten. Lernte aber auch immer mehr, meinen Kampfgeist zu schätzen. Und als wäre das Leben eine Probe, auf die die Verbitterung uns stellt, begannen die Welten - meine und die meiner Umgebung - nebeneinander zu existieren. Zwischen dem Griechen und dem Heiligen Abend lichteten sich die Nebel immer mehr, ohne dass ich es realisierte.

Mein Blick ging wieder hinüber zu den Augen des Wanderers. Das Funkeln war ungebrochen, schien nun beständig zu werden. Er erhob sich vom Sessel und verließ ohne Gruß das Wohnzimmer. Allein gelassen mit meiner Erinnerung - nein, ich war nicht verletzt - betrachtete ich den Himmel an diesem wunderschönen Morgen. Wolkenlos und unendlich blau war seine Freiheit. Jene Freiheit, die mein Kampfgeist in all den Jahren durch den Nebel sah, das Ziel unserer Reise: Persönlichkeit werden. Das Funkeln in den Augen des Griechen entstammte dem Funkeln in meinen eigenen Augen. Schon damals war meine Welt auf dem Weg, ein Teil von Weihnachten zu werden und heute schaute ich dem Wanderer nach, der wortlos die Tür zur Verbitterung geschlossen hatte. Im Nachhinein wurde mir klar: Jesus ist sein Name - der Name des Wanderers. Und der Grieche und ich durften all die Jahre teilhaben an jener Welt, in der wir zuhause sind. Unserer Welt.

Minuten waren vergangen zwischen meinem Erwachen und dem Blick in den wolkenlosen Himmel. Minuten in den Augen Gottes, eine Ewigkeit auf dem Weg zum Mensch werden.

Nachwort: Heute kann ich in den Welten lesen und wenn meine Augen jemanden zärtlich anschauen, dann funkeln sie wie das Schwert der Zeit, dass die Nebel auf meinem Weg zerteilte - ganz dunkel, wie die Augen des Griechen. Und wenn die Zeit gekommen ist, dann werden er und ich uns in der Rue St. German zusammensetzen und ein gepflegtes Bier miteinander trinken. Und der Wanderer wird seine Freude haben.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.12.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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