Michael Schendel

Der Zaun

Ein Mann, der zurückgezogen von der Welt in einer ländlichen Umgebung lebte, verbrachte vorwiegend seine Zeit damit, durch die Natur zu streifen, die er als sein Wohnzimmer betrachtete. Es war für ihn angefüllt mit einer beglückenden Vielzahl von Erfassbarem und einer nicht endenden Fülle von noch zu Erforschendem.
Eines Tages, er war auf dem Weg in ein Nachbardorf, führte sein Weg längere Zeit an einem Zaun entlang, der ein ihm bekanntes Grundstück zäunte. Da ihn der Zaun einige Zeit begleitete, machte er sich Gedanken über ihn und verfiel der Vorstellung, für jeden Zaunpfosten eine ihm bekannte Person einzusetzen.
So zog es ihn am Zaun entlang, und er setze die Namen der Mitglieder seiner Familie ein, die seiner Freunde und seiner Bekannten.
Schon nach ein paar Metern bemerkte er,dass der Zaun viel mehr Pfosten hatte als Personen ihm bekannt waren, und er fing nun an, sich in seiner Vorstellung Menschen zu gestalten. Ihr Angesicht und ihren Körper.
Da er alleine lebte, dieses in letzter Zeit bedauerte, verweilte er freudig bei seinem Gedanken an eine Frau.
Mag ihm das warme Frühlingswetter und das Aufblühen der Natur dazu verholfen haben, er stellte sich diese Frau intensiv, ja fast fordernd,vor. Klar im Wesen sollte sie sein, wie dieser wolkenlose Tag. Ein freundliches Gesicht, wie das Bild der Sonne. Helle, blaue Augen, wie die Farbe des Himmels und einen Körper, geschmeidig wie die Kiefer dort im Garten.
Was die weiblichen Attribute betrifft, er lächelte in sich hinein, sollten sie so reizvoll sein wie die Natur selbst, die er ja gerne besuchte und erkundete.

So tief in seine Gedanken und Vorstellungen versunken, wie in ein Gebet, empfand er es störend, durch ein plötzliches Klingeln aus seiner Welt gerissen zu werden.
Er vernahm ein „Guten Tag“ und wurde nach der Adresse eines seit geraumer Zeit leerstehenden Hauses in der Umgebung gefragt.
`Jetzt doch nicht`, dachte er, denn das Bild seiner Freude begann sich aufzulösen.
Widerstrebend sah er auf und blickte in das Gesicht einer Frau.
Und noch ganz abwesend, gefangen in seiner verblassenden Vorstellung, murmelte er der Höflichkeit halber eine Wegerklärung.
Nach diesem störendem Zwischenfall verhinderte eine emporsteigende Unruhe, wie er sie oft vor einer Reise empfand, dass er sich wieder in seine Gedankenwelt versenken konnte.. Seine Gedanken kreisten nun um das eben kurz zuvor erblickte Gesicht. Woher kannte er dieses Frauengesicht, das ihm so vertraut schien?
Ratlos, sich dann der Träumerei scheltend, setzte er seinen Weg in das Dorf zügig fort.
Begleitet vom Zaun - und einer gut sichtbaren Radspur.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.01.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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