Simon Wolanin

Vaters Erbe

Ich sehe das Entsetzen im Gesicht meines Vaters. Er nimmt mich in die Arme. Er weint. Ich habe meinen Vater noch nie weinen gesehen. "Wo ist Mammi?", frage ich. Ich bekomme keine Antwort. Es dauert Jahre, bis ich realisiere, was passiert ist.

"Ich meine, 32 tote Kinder in 20 Jahren und vom Täter keine Spur. Das ist doch nicht normal. Es ist genau wie in dem Buch ES von Stephen King. Manchmal denke ich, ein verdammter Clown ist in dieser Stadt und killt die Kids." Thomas, mein einziger Freund, lächelt und sagt: "Vielleicht hättest du diesen letzen Joint doch nicht rauchen sollen." Wir brechen beide in lautes Gelächter aus. Es ist eine warme Sommernacht, und wir sitzen auf einer Parkbank. Nach einem kurzen Moment der Stille fragt Thomas mich: "Sag mal, wie ist das Leben eigentlich, wenn man ein Klon ist?" Ich muss nachdenken. Ich denke an meinen Vater, dessen Klon ich bin. "Es ist schon schräg, wenn man praktisch identisch mit seinem Vater ist", erkläre ich ihm, "aber alles in allem ist mein Leben genau so beschissen wie alle anderen auch." Ich hoffe, das Thema sei damit beigelegt. Doch Thomas lässt nicht locker. Er lässt nie locker. "Warum haben sich deine Eltern für die Klonsache entschieden? Konnte deine Mutter nicht schwanger werden?" Mir gefällt nicht, wie sich die Diskussion entwickelt. Ich möchte über vieles reden, aber ganz bestimmt nicht über meine Mutter. "Nein, das war es nicht", erläutere ich. Thomas scheint überrascht zu sein.. "Mein Vater sagt mir immer, er wollte einen Sohn, der genauso ist wie er. Weiss der Teufel warum." "Seltsam", erwidert Thomas. Wenn ich so darüber nachdenke, ist das wirklich seltsam. Sehr seltsam sogar.

Es ist mein 16. Geburtstag, als ich von meinem Vater ein besonderes Geschenk bekomme: Eine Waffe. "Es gibt nichts schöneres, als mit einer Waffe herumzuballern. Wir Menschen sind wie dafür geschaffen", erklärt er mir. "Als ich in deinem Alter war, war es das grösste für mich, mit solch einem Ding zu schiessen. Du bist wie ich, also wird es auch dir gefallen." Oh, und wie es mir gefällt. Ich liebe es, in meiner Freizeit mit der Waffe auf alles mögliche zu schiessen. Ich kann hervorragend zielen. "Du könntest den Kinderschänder in dieser Stadt locker umbringen, so wie du zielen kannst", behauptet mein Vater. Ich werde neugierig. "Würdest du es tun? Ich meine, wenn du den Typen finden würdest, würdest du ihn töten?" "Nein, das könnte ich nicht", sagt mein Vater und schüttelt den Kopf. "Könntest du es?" Ich überlege. Der Typ hat 32 Kinder auf brutalste Weise ermordet. "Ja, ich würde es tun", erwidere ich. Mein Vater lächelt. Die Antwort scheint ihm zu gefallen.

Ich bin ein Einzelgänger. Ich rede nicht viel. Dies macht einem in der Schule nicht gerade beliebt. Dort nennt man mich "Arschficker", und dabei bin ich noch nicht mal Schwul. Ich glaube, in der Schule hat jeder seinen persönlichen Feind. Meiner heisst Bruno. Er liebt es, mir die Fresse zu polieren. Bruno wird nie satt. Es macht im immer wieder Spass. Wenn ich meinem Vater davon erzähle, und das tat ich oft, sagt er immer wieder das gleiche: "Mein Junge, irgendwann wirst du ihm überlegen sein." Dabei lächelt er.

Es ist ein regnerischer Herbsttag, der mein Leben für immer verändert. Die Schule ist zu Ende, und Thomas und ich wollen noch in den Park kiffen gehen. Wir begegnen Bruno, der noch aggressiver als sonst zu sein scheint. Er packt Thomas am Kragen und hebt ihn hoch. "Heute bist du mal dran, Arschloch", droht er. Er schlägt mit seiner Faust in das Gesicht von Thomas. Er blutet aus der Nase. Aber er kann nicht die klappe halten. Das konnte er noch nie. "Fick dich, du Missgeburt", schreit er Bruno an. Ein Fehler. Ein grosser Fehler. Bruno nimmt ein Messer aus seiner Tasche und läuft damit auf meinen Freund zu. Thomas ist wie erstarrt. In diesem Moment entscheide ich mich, mich zu wehren. Das erste Mal in meinem Leben. Ich packe den Hals von Bruno und werfe ihn zu Boden. Ich würge ihn mit meinen beiden Händen. "Lass ihn in Ruhe!", schreie ich. Ich sehe die Überraschung in den Augen von Bruno. Damit hast du wohl nicht gerechnet, du kleiner Bastard. Die Stimme meines Vaters ertönt in meinem Kopf: Irgendwann wirst du ihm überlegen sein. Oh ja, ich war im überlegen, haushoch überlegen. Ich drücke fester zu. Meine Augen leuchten, ich zittere am ganzen Körper. Die Welt um mich herum existiert nicht mehr. Ich höre Thomas schreien: "Du bringst ihn um! Hör auf! Du bringst ihn um!" Ich beachte ihn nicht. Ich kann sie nun sehen, die Angst in seinen Augen, die Todesangst, und sie ist wunderschön. Nichts kann mich mehr stoppen.

Ich renne nach Hause, in Panik. Ich begreife nicht, wie das passieren konnte. Mein Gesicht ist voller Tränen. Als mich mein Vater sieht, fragt er, was passiert ist. "Ich habe etwas furchtbares getan. Oh Gott, ich habe jemanden umgebracht!", sage ich mit zittriger Stimme. Ich habe meinen Vater noch nie belogen, und dies ist nicht der Tag, um damit anzufangen. Mein Vater reagiert nicht, wie ich es erwarte. Er bleibt ruhig. Wie kann er bei so etwas ruhig bleiben? "Setz dich, wir müssen reden". Es scheint fast so, als hätte er erwartet, dass so etwas passiert. Wir setzten uns hin und schauen uns in die Augen. Ich sehe mein Ebenbild, 25 Jahre älter. "Mein Sohn, hast du dich jemals gefragt, warum du ein Klon bist?" Ich denke an mein Gespräch mit Thomas, an seinen überraschten Blick, als ich ihm gesagt habe, dass meine Mutter durchaus hätte schwanger werden können. "Nicht wirklich", antworte ich. Mein Vater lächelt. Es ist ein furchtbares lächeln. "Ich wollte jemand erschaffen, der genau so ist wie ich, der mich versteht. Der versteht, was ich getan habe." Und nach einer kurzen Pause: "Es ist wunderschön, nicht wahr?" Meine Hände zittern, ich fühle mich, als müsste ich gleich kotzen . "Was ist wunderschön?", frage ich wie hypnotisiert. "Das töten", antwortet mein Vater. Ich sehe jetzt Tränen auch in seinen Augen. Die ganze Welt dreht sich. Ich denke an den Blick von Bruno vor seinem Tod. Ja, mein Vater hat recht. Es ist wunderschön. "Ich bin der Kinderschänder in dieser Stadt, mein Junge. Ich kann es nicht stoppen. Ich tue es immer wieder" Er beginnt zu schluchzen. Mein Herz rast. Zorn steigt in mir hoch, er überwältigt mich. "Sie hat es gewusst, nicht wahr? Meine Mutter wusste was für ein Monster du bist! Deshalb hat sie sich umgebracht. DU HAST SIE IN DEN TOD GETRIEBEN!" Ich ergreife meine Waffe und ziele auf meinen Vater. Mir kommt es vor, als ziele ich auf mich selbst. Mein Vater schliesst die Augen. Vielleicht wusste er, dass es soweit kommen wird. Vielleicht wollte er es sogar. Ich schiesse fünf Kugeln in den Kopf meines Vaters. Eine Kugel bleibt übrig. Die ist für mich.

ENDE

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.01.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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