Björn Gottschling

Würmlein Willi

Würmlein Willi spielte fröhlich im Lehm. Es war ein recht dreckiger Lehm, schön schmutzig, mit kleinen und großen Lehmhaufen, und runden und kantigen Steinchen.
“So muss Lehm sein.“, dachte Würmlein Willi und fühlte sich richtig wurmwohl.
Erst als der Schatten des herbeifliegenden Vogels den Lehmplatz verdunkelte, bemerkte Würmlein Willi die Besucherin. Elster Else war der schräge Vogel. Bei der Landung wirbelte sie viel Staub auf und nahm entschieden auf Würmlein Willis Lehmschloss Platz.
“Hey, runter von meinem Schloss! Du machst es noch kaputt!“, schimpfte Würmlein Willi, fest entschlossen sein Lehmschloss zu verteidigen.
“Ein Schloss soll das sein?“, spottete Elster Else, “Ich sehe nur einen Klumpen Lehm.“, flog dann aber doch ein Stück weiter.
Würmlein Willi lief rot an. “Weg! Weg!“, rief er aus voller Kehle, “Wirst du wohl aus dem Schlossgarten verschwinden?“
“Ein Schlossgarten soll das sein?“, spottete Elster Else aufs neue, “Ich sehe nur eine Fläche Lehm.“, flog dann aber doch ein Stück weiter und nahm auf einem kleinen Zweig Platz. “Du bist schon ein armer Wurm.“ sagte Elster Else, während sie über den Lehmplatz schaute.
“Nein, ganz und gar nicht!“, antwortete Würmlein Willi, “ich habe ein Schloss, in dem ich wohnen kann, ich habe einen Garten, in dem ich spazieren kann, und ich kann mir bauen, was mir lieb ist. Und du? Was hast du denn?“
“Ich“, begann Elster Else stolz, “ich habe die Schätze der Menschen. Sieh her!“ Elster Else ließ einen goldenen Ring aus dem Schnabel fallen.
“Was soll das sein?“, fragte Würmlein Willi, skeptisch das glitzernde Etwas betrachtend. „Was es ist? Es ist Gold! Die Menschen sind verrückt danach.“
“Und was macht man damit?“, hakte Würmlein Willi anstandshalber nach.
“Sammeln, denke ich. Und je mehr man davon hat, umso besser.“
“Das verstehe ich nicht. Wo liegt da der Sinn?“, fragte Würmlein Willi, während er Schloss und Garten wieder aufbaute. Elster Else schaute zu.
“Muss denn alles immer einen Sinn haben? Hat dein Leben etwa einen Sinn? Was wäre, wenn ich dich nun fressen würde? Was, wenn dir morgen Maulwurf Marvin begegnet? Deine Zukunft liegt in den Sternen, Würmlein Willi.“
Würmlein Willi hielt inne. Dann aber sagte er überzeugt: “Na das ist doch prima! Die Sterne glänzen ja so schön! Und du sagst ja, dass das, was so glänzt wie das Gold, kostbar ist. Warum fliegst du nicht zu den Sternen und krallst sie dir? Du könntest sie sammeln, wie die Menschen das Gold.“
Elster Else wurde nachdenklich. “Willst du denn mitkommen?“, fragte sie schließlich, “Du könntest bei mir im Schnabel sitzen.“
“Nein, Elster Else, ich brauche nicht nach den Sternen zu greifen.“
“Warum nicht? Möchtest du denn nicht einmal ein Gefühl von Freiheit haben?“
Würmlein Willi hielt erneut inne. “Was ist denn Freiheit? Du fliegst wohin es dich zieht, du kommst, du gehst, du bleibst. Aber ich bin kein Vogel. Ich bin ein Wurm, ich kann nicht fliegen. Wenn ich gehe, werde ich nicht frei sein. Frei bin ich nur als Wurm. Und du bist nur als Vogel frei.“
Noch bevor Elster Else antworten konnte, flog Elster Elmar heran. Er landete erst gar nicht, sondern schnappte sich Würmlein Willi im Flug und flog ein Stück weiter.
“Erster, Erster.“ rief er noch lachend, als er die verdutzte Elster Else hinüberblicken sah. Doch sie blieb nicht lange verdutzt, sondern pickte seither Würmer aus dem Lehm, ohne sie noch einmal anzusprechen. Den Ring ließ sie liegen und die Sterne erreichte sie nie.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.01.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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