Brigitta Firmenich

Flügelschlagen

Obwohl ihr bewußt war, daß sie sich in einem warmen Raum befand, bequem in ihrem Lieblingssessel sitzend, fröstelte sie und saß hart wie auf einer Anklagebank. Andreas hatte ihr kommentarlos einen alten Brief mit großer, verblaßter Schrift vor die Augen gehalten und war dann mit lauten, schnellen Schritten aus dem Haus geeilt. Er hatte das Jahrzehnte gehütete Geheimnis durch einen dummen Zufall entdeckt. Christianes Verstand erfaßte die Konsequenz, doch ihr Herz hinkte hinterher. Allmählich wurde ihr bewußt, daß die Zeit der Abrechnung gekommen war.

Beim Entrümpeln auf dem Dachboden hatte Andreas den Metallkasten entdeckt, in dem sie alte Briefe aufbewahrte. Mit einem einfachen Werkzeug hatte er den verrosteten Kasten geöffnet und in seiner Neugier die Wahrheit gefunden. Hatte sich bei ihm zunächst nur die schmale Spur einer Ahnung eingestellt, wurde sie beim Lesen der Briefe zu einem schmerzhaft breiten Weg der Gewißheit. Andreas hatte entsetzt erkannt, daß er von Anfang an betrogen worden war. Christiane hatte seinen Vater geliebt und Edgar war auch der Vater seiner Tochter Lara. Dabei war es sein eigener Vater gewesen, der ihn damals verzweifelt von der Beziehung zu der fünf Jahre älteren Frau hatte abhalten wollen. Aus Trotz hatte er erst recht auf der Beziehung zu Christiane bestanden. Beim Weiterlesen der vergilbten Briefe hatte er erkannt, warum sein Vater für ihn unverständlich reagiert hatte. Woher hätte er wissen sollen, daß sein Vater die kranke Mutter ausgerechnet mit der Frau betrog, die er zu heiraten gedachte. Wie sollte er ahnen, daß noch vor dem Tod der Mutter seine geliebte Christiane ihre Stelle eingenommen hatte.

Christiane hatte Maria zur Hand gehen sollen und war als Hausdame eingestellt worden. Marias Krankheit war schnell vorangeschritten, und so nach und nach hatte Christiane alle Pflichten im Haus übernommen und im Gegenzug vom Hausherrn einige Rechte erhalten. Als Andreas sich in sie verliebte, hatte sie ihre Unschuld schon lange verloren.

Ihr Blick stierte durch das Fenster ins Grün des Gartens, der sich im Frühlingszustand befand, während der Herbst ihren Sinn umhüllte. Ein kleines fliegendes Insekt taumelte vor dem Fenster, stieß sich an der durchsichtigen Scheibe, flatterte vor und zurück. Und während Christiane nicht hätte sagen können, ob es sich nun innen oder außen befand, ob es herein- oder hinauswollte, war für das Insekt, gefangen im begrenzten Blickwinkel, offensichtlich nicht erkennbar, auf welcher Seite die Freiheit war. Christianes Erstarrtheit weichte auf bei der Beobachtung des Tierchens, dessen Lebendigkeit es immer wieder seinen unsinnigen, taumelnden Tanz aufführen ließ. Ihre Augen folgten seinen Bewegungen. Sie entwickelte nicht viel Sympathie für das kleine Insekt, dessen Namen sie nicht einmal wußte. Es war kein besonders schönes Tier. In seiner durchscheinend grau-weißen Unfarbe erinnerten die zarten Flügel, die sich mit ungeheurer Geschwindigkeit bewegten, an schmutzig-weiße Lilien. Christiane hatte nie verstehen können, warum weiße Lilien als Symbol der Unschuld galten. Sie selbst liebte die Farbenpracht, das gewaltig-sinnliche Rot der Rose, das tiefe Blau des Vergißmeinnicht, das hoffnungsvolle Grün der Birke und das leuchtende Sonnengelb des Goldregens. Das beinahe durchscheinende Insekt vor dem Fenster kümmerte sich nicht um das Weiß seiner Flügel. Es bedurfte nicht der Symbole. Es lebte einfach, so lange es die Kraft dazu hatte.

Christiane legte den Brief auf ein Tischchen, stand auf und ging zum Fenster. Das Insekt war unbemerkt weitergeflogen. Mit schweren Gedanken schaute sie auf die Wiese, die mit hunderten weißer Gänseblümchen übersät war. Mußte sie sich wirklich Vorwürfe machen? Was hätte sie denn tun sollen? Sie war damals den Weg gegangen, der für sie gangbar war, und sie bereute ihn nicht. Noch jetzt stiegen warme Wogen in der Erinnerung hoch. Sie hatte beide Männer, Vater und Sohn, geliebt. Hätte sie aber frei wählen können, mit wem sie ihr weiteres Leben hätte teilen wollen, wäre ihre Entscheidung für Edgar gefallen. Doch er war verheiratet, und sie hatte niemandem weh tun wollen, dem Geliebten nicht, seiner kranken Frau nicht und Andreas schon überhaupt nicht. Eines Tages hatte sie gemerkt, daß in ihr neues Leben heranwuchs. Entsetzt hatte sie sich dem verheirateten Geliebten verweigert, hatte auch innerlich von ihm loskommen wollen. Sie hatte in ihrer Verzweiflung ein Verhältnis mit Andreas begonnen, der sie von Anfang an umschwärmt hatte. Sie tat alles, um von der Beziehung mit seinem Vater abzulenken. Als sich ihr Körper veränderte, erkannte Edgar ihre Lage und verstand, warum sie sich für seinen Sohn entschieden hatte. Aber er wollte sie trotz der veränderten Situation nicht aufgeben. Wie sehnsüchtig hatte sie damals darauf gewartet, daß das Schicksal sich gütig zeigen würde, daß der Tod Maria schneller erlösen würde und sie ihren Geliebten, den Vater ihres Kindes, würde heiraten können. Das schlechte Gewissen hatte sie geplagt wegen solcher Gedanken. Doch das Schicksal wollte sich nicht erweichen lassen. Und die Zeit drängte. Bevor ihr Zustand für alle ersichtlich wurde, heiratete sie Andreas und er seine Traumfrau, wie er sie nannte. Von Andreas unbemerkt führten Edgar und sie ihre Beziehung weiter. Zwei Monate nach der Hochzeit starb Maria, und Christiane weinte vor Schmerz. Laras Geburt verspätete sich um drei Wochen und so wurde sie knapp fünf Monate nach Marias Tod geboren. Christiane brachte es auch nach der Geburt ihres Kindes nicht fertig, Andreas die Wahrheit zu sagen. Er war so stolz auf seine Tochter. Hätte sie ihm die Illusion nehmen sollen und ihm sagen, daß es nicht sein Kind sondern seine Schwester wäre? Hätte sie ihn damit nicht schon damals tief verletzt und ihre kaum begonnene Ehe beendet? Edgar war doch nach dem Tod von Maria frei geworden. Vielleicht wäre es besser gewesen, Andreas die Wahrheit zu sagen. Aber auch Edgar hatte nichts sagen wollen, genoß die Situation, wie sie war. Sie wußte, daß Andreas nach all den Jahren ihrer Untreue zutiefst verletzt, ja verbittert sein mußte, daß er sich ausgenutzt und besudelt fühlen mußte. Hätte sie ihm doch nur von Anfang an die Wahrheit sagen können. Es hatte ihr einfach die Kraft dazu gefehlt. Sie hatten dank des gut gehüteten Geheimnisses jahrzehntelang ein schönes, friedliches Leben gehabt. Das Haus war groß, und so waren sie nach Marias Tod dort wohnen geblieben. Edgar kümmerte sich rührend um seine Enkelin, und Andreas war froh, daß sein Vater sich mit der Schwiegertochter abgefunden hatte. Er konnte ja nicht ahnen, warum. Sie hatten niemals den geringsten Anlaß gegeben, daß jemand hätte glauben können, sie verbinde mehr, als erlaubt war. Als Lara größer wurde, achteten sie genau darauf, was das Kind mitbekommen durfte und was nicht, und je verständiger das Kind wurde, desto vorsichtiger wurden sie. Viele Verabredungen teilten sie sich mit kleinen Briefchen mit, die sie sich wie Jungverliebte zusteckten. Aus Edgars Briefchen sprach soviel Herzlichkeit, daß sie es nicht über sich brachte, sie zu vernichten. Trotz seines guten Rates, sie sofort zu verbrennen, versteckte sie sie in einem alten Metallkasten auf dem Dachboden.
Vor drei Jahren starb Edgar ganz plötzlich, und wieder weinte Christiane bittere Tränen. Andreas, der beruflich gut vorangekommen war, konnte die zusätzlichen Räume gut gebrauchen. Sie räumten Edgars Wohnung leer, stellten das gesamte Mobiliar auf den Dachboden, und Andreas zog mit seiner Kanzlei in die leergeräumten Zimmer um. Seitdem war so viel Zeit vergangen. Nach Edgars Tod hatte sich ihre Ehe noch einmal neu belebt, und sie hatte die geheimen Briefe in ihrem Versteck beinahe vergessen.
Inzwischen war Lara erwachsen. Vor einigen Tagen erbat sie sich einige der Möbelstücke des Großvaters, die noch immer auf dem Dachboden standen. Andreas war hinaufgestiegen und hatte, versteckt unter alten Matratzen, einen Metallkasten gefunden.

Das Insekt hatte den Weg zum Fenster zurückgefunden. Mit großer Kraft flog es immer wieder gegen die Scheibe, bis es irgendwann ermattet nach unten sank und liegenblieb.

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