Sylvia Sagmeister

Der schwarze Stein Teil 4

7) Tai-ki


Blau glitzerte die Flüssigkeit im Glas. Kühl und unbeschreiblich verlockend. Sasekin hielt die Schale gegen das Licht, schnupperte ein wenig daran, stellte sie wieder weg. War da nicht ein Geräusch gewesen? Als hätte jemand geklopft? Das war doch unmöglich. Türen gab es nicht wirklich in der Höhle, schon gar keine, an die man klopfen konnte. Aber da war es schon wieder: ein dumpfes Pochen. Missmutig erhob sich Sasekin aus seiner Hängematte. Störungen! Unnötig. Nur dieses unangenehm kribbelige Gefühl in seinem Bauch ... Das Pochen wiederholte sich in regelmäßigen Abständen, fast rhythmisch. Drei Schläge, Pause, ein Schlag, Pause, drei Schläge, Pause. Woran erinnerte ihn das nur? Es klang nicht wirklich gefährlich, eher nach Beschwörung. Ähnlich der, die ihn damals aus dem Kreis der Zauberer verbannt hatte. Rechts hinten, dort schien das Geräusch stärker zu sein, dort, wo sein Computer stand.


Ein Zauberer mit Computer?, werdet ihr mit Recht fragen. Aber ihr dürft nicht vergessen, dass wir uns ja im 21. Jahrhundert befinden, also in der Jetztzeit, nicht irgendwann vor hundert oder mehr Jahren. Deshalb braucht unser Zauberer auch den Computer. Er hängt sogar im Internet, allerdings so gut getarnt, dass bis jetzt noch niemand bemerkt hat, dass Sasekin sich in die schwierigsten Programme einschleust und diese oft genug auch knackt. Sasekin ist ein sehr intelligenter Zauberer und hat sich die letzten fünfzig Jahre ganz intensiv der Informatik und den Computern gewidmet. Immerhin steckt da sehr viel Macht dahinter, genügend Möglichkeiten der Manipulation und – ihr kennt sicher alle den Ärger, den ein Virus in einem Programm anrichten kann – auch für etliche Viren ist Sasekin verantwortlich. Nicht er allein, das wäre ein bisschen zuviel verlangt, aber doch für eine erkleckliche Anzahl davon. Nun seid ihr wohl auch schon gespannt, wer diese Klopfzeichen sendet. Kehren wir zurück in Sasekins Computereck ...


Sasekin traute seinen Augen nicht, als auf einmal der Drucker zu rattern anfing und eine lange Liste mit Buchstabenreihen ausdruckte. Das durfte doch einfach nicht vorkommen! Wer spukte denn da in seinen Daten herum? Er schwang sich auf seinen Sessel (natürlich das neueste und bequemste Modell, das auf dem Markt zu erstehen war) und bemerkte, dass sein Computer gar nicht ausgeschaltet war. Himmel! Das hätte er ja fast vergessen gehabt! Etwa zwei Tage war es her, dass er sich mit einem ganz gefinkelt gesperrten Programm auseinandergesetzt und den Rechner einfach laufen gelassen hatte. In der Hoffnung, dass dieser irgendwann einmal eine Möglichkeit fand, den Code zu knacken. Anscheinend war ihm so etwas jetzt gelungen. Und die Klopfzeichen? Der Tisch! Er wackelte! Sasekin brach in Gelächter aus. Ein wackelnder Tisch machte ihn – ihn! – nervös! Er würde das Uralt-Modell von einem Drucker bald ersetzen. Wahrscheinlich war er schon urlaubsreif. Immerhin hatte er zwei Jahre fast pausenlos gearbeitet und die Jahre davor waren auch nicht sehr einfach gewesen. Noch immer lachend kehrte er in seinen Wohnraum zu Stereoanlage und Hängematte zurück. Sein hübscher blauer Drink wartete darauf, genossen zu werden. Lange noch hallte das Gelächter in den hohlen Gängen nach. Viel länger noch rührte sich die kleine dunkle Gestalt unter Sasekins Druckertisch nicht. Wagte vor Angst nicht einmal zu atmen. Dann schlich sie vorsichtig hinaus, rannte den dunklen Gang auf leisen nackten Füßen entlang, bis sie im Schlafraum der Kinder angelangt war, und verkroch sich unter der Decke. Mit ein bisschen Glück sandte der Computer jetzt einen Hilferuf in die Welt hinaus.


Tai-ki strich seine langen schwarzen Haare zurück. Dieses Programm war wirklich schwer zu knacken. Dabei hatte es so ungemein interessant geklungen. Irgendein abstruses Abenteuerspiel, eines, das sich während des Spielens zu verändern schien. Vielleicht sollte er sich doch noch einen „Engie“ hinter die Binde kippen. Im Kühlschrank lagen sicher ein paar dieser tollen Getränke, die aufputschten bis weit nach Mitternacht und ihm trotzdem die Energie gaben, in der Schule frühmorgens einigermaßen ansprechbar zu sein. Wenn es dort nicht so unausstehlich langweilig wäre! Lernen! Wozu? Wo ihm doch der Computer alle Wege öffnete, die ihm wichtig waren. Und Sprachschwierigkeiten hatte er durch die Tausenden von Übersetzungsprogrammen auch keine mehr. Ach, da lag ja noch das Weckerl vom Vormittag, ein bisschen Käse, ein Apfel. Die Eltern würden nicht vor zwei Uhr morgens heimkommen. Da war irgendsoein Kongress mit Festessen und Festreden. Glücklicherweise befanden sie Kindermädchen schon seit längerem nicht mehr für notwendig. Hatte aber doch Spaß gemacht, eines nach dem anderen hinauszuekeln. Tai-ki grinste. Die mit den langen Zöpfen! Die war das ideale Opfer gewesen. Er brauchte nur ein wenig auf stur zu schalten und sie war ausgezuckt. Genau vor der versteckten Kamera in diesem komischen Teddybären auf dem Kaminsims. Er hatte gewusst, wie er sie dorthin locken konnte. Und seine Eltern hatten resigniert, hatten aus lauter Angst um das Wohlergehen ihres missratenen Sohnes auf weitere Babysitter verzichtet. Seitdem durfte er allein bleiben. Nur der Vater wunderte sich manchmal über die hohen Telefonkosten. Er hatte sogar mit einem ganz geheimen Passwort die wichtigsten Bereiche in seinem PC gesperrt. Waren genau fünf Minuten Arbeit gewesen. Tai-ki kehrte mit seinem Proviant an den Computer zurück und blieb wie angewurzelt stehen. Der Bildschirm war schwarz. Nur ein paar Zeichen und Zahlen waren darauf zu sehen. sos sos; 126 lg/ 56 bg; Warum kamen sie ihm so bekannt vor? Ein Hilferuf? Er schnappte einen Bleistift und schrieb mit: captured sasekin, code, call merlin; anja. Ja, eine Adresse! http://www.sunset.tl Er stellte den Drink auf den Tisch, legte das Weckerl daneben und konzentrierte sich ganz auf diese komischen Zeichen.


Drei Tage waren vergangen, seit Anja sich in den Computerraum geschlichen hatte. Drei Tage lang hatte sie kaum ein Auge zugemacht, drei Tage lang kaum gegessen. Jetzt war Nacht. Sie hatte sich eng in ihre Schlafnische gedrängt um nur ja von niemandem gesehen zu werden. Die meisten nahmen sowieso keine Notiz von ihr. Geschwächt durch die Entbehrungen, getrennt von ihren Lieben, bar jeder Zuneigung hingen die anderen herum, gingen sich auf die Nerven oder ertränkten ihren Kummer in dem Himbeersaft, der Vergessen bescherte. Anja hatte nicht herausfinden können, welche Droge Sasekin verwendete, aber irgendwie schien sie den freien Willen zu bannen. Einmal hatte sie von dem Saft getrunken und sich hinterher über einen Stein gebeugt vorgefunden, irgendwelche Beschwörungen murmelnd, die ihr fremd waren. Seither übte sie sich darin, allem aus dem Weg zu gehen. Sie war klein und zart genug um nicht übermäßig aufzufallen. Und sie sann auf Entkommen. Das einzige Wesen, dessen Vertrauen zu erringen sie versucht hatte, war viel zu schnell verschwunden. Irgendwer hatte erzählt, Sasekin hätte es bestraft. Die einzige Strafe Sasekins, die sie bisher kennen gelernt hatte, war der Tod.


Merlin. War Merlin nicht ein Zauberer? Tai-ki versuchte sich zu erinnern. Der aus dieser mittelalterlichen Sage? Hatte er nicht mit König Artus zu tun? Den mit der Tafelrunde und dem Schwert Excalibur? Angeblich soll er wirklich einmal gelebt haben. Ein Zauberer! Im Zeitalter der Computer! Musste wohl eine Art Deckname sein. Ein Blick auf die Uhr. Gerade Mitternacht durch, noch mindestens zwei Stunden Zeit. Außerdem funktionierte sein Vorwarnsystem immer. Noch einen Blick auf die Konsole geworfen, das Aufleuchten des roten Lichtes im Auge behalten, CD einlegen, Techno? Nein. Rap? Uralt! Dancefloor? Diese hier! Noch schnell den Kopfhörer aufgesetzt. In zwei Stunden sollte doch dieser ‘Merlin’ aufgetrieben sein.


Noch immer nichts. Der Postkasten enthielt ein wenig Werbung, viele Rechnungen, sonst nichts. Keinerlei Nachricht. Sicher, es würde schwierig sein, von unterwegs Kundschaft zu erhalten. Aber irgendwo sollten sich doch ein Gasthof, Postkarten oder Briefkästen auftreiben lassen. Belembi schlenderte langsam durch seinen Vorgarten. So kahl hier alles. Das Gras ohne Leuchtkraft, keine Blumen, keine Blätter auf den Bäumen. Grau in Grau. Kein Wunder Ende Dezember. Schnee fehlte eindeutig. Dafür war es viel zu warm. Plus zehn Grad Celsius und mehr. Wenigstens würden die Wanderer nicht allzu sehr frieren. Sie hatten sich doch ziemlich weit im Süden getroffen. Belembi kehrte in seine Wohnung zurück und setzte den Teekessel auf. Hoffentlich war nichts Schlimmes geschehen. Wenn er doch nur jünger wäre! Dieses Warten zu Hause kam Gift für seinen Nerven gleich. Wie viel besser wäre es doch, dabei zu sein, mitzumachen, den Gefahren direkt ins Auge zu blicken. Ein Satz fiel ihm ein, den er einmal irgendwo in einem Gasthaus gelesen hatte – fein säuberlich mit blauem Garn in feinstes Linnen gestickt:


Die größte Qual aber ist die Ungewissheit


Belembi goss Tee auf, Wildbeere diesmal, nahm die Zeitungen zur Hand und wanderte ins Wohnzimmer. Der Schaukelstuhl lachte ihn vielversprechend an, vielleicht brachte irgendeine Zeitung einen Bericht über einen ‘verrückten Forschungsauftrag’. Als Ismelda und Lilia im Ministerium für wissenschaftlichen Fortschritt um eine diesbezügliche Genehmigung angefragt hatten, hatten sie viel dummes Gelächter geerntet. Waldlandzigeuner! Die gehörten doch in das Reich der Märchen! Aber bitte, wenn sie ihren vermeintlichen Spuren folgen wollten und keine Kosten für den Staat daraus erwüchsen ... Und jetzt waren sie schon seit der Wintersonnenwende unterwegs. Eine Woche und keine einzige Nachricht. Dabei sollte es gerade jetzt in der Weihnachtszeit kein Problem sein, irgendwie eine Nachricht zu kolportieren. Durch diese menschlichen Feiertage vielleicht. Aber nicht einmal die Vögel gaben Nachricht ... und Merlin beherrschte doch die Sprache der Vögel und die Gemeinsame Sprache sowieso ... Das Klingeln der Türglocke riss ihn aus seinen Gedanken.
„Komm rein, es ist offen!“
Ein kleines Nelbenmädchen stürzte ins Zimmer: „Belembi! Du musst sofort zu Thorax kommen! Da sucht jemand Merlin!“

„Hallo Belembi, entschuldige die Hast, aber sieh, was hier über den Bildschirm läuft:
‘merlin, please send a mail’. Ich habe diese Nachricht ganz zufällig entdeckt. Da ist auch eine Adresse angegeben, schau: hatajati@shonku.hk. Was sollen wir tun?“
Thorax war einer der wenigen Menschen, die Kontakt zu den Nelben pflegten. Sein Haus stand am Rande des Waldes, in der Nähe des Nelbendorfes. Und er liebte diese kleinen Wesen, half ihnen oft, wenn sie Probleme mit der heutigen Zeit hatten und hielt ihnen immer seine Tür offen. Belembi kletterte auf den Schreibtisch.
„Kannst du anfragen, wer hinter dieser Nachricht steckt?“
Thorax’ Finger glitten über die Tastatur.
„Schon geschehen. Jetzt müssen wir nur mehr warten. Kann auch länger dauern. Aber es ist noch ziemlich früh, da könnten wir Glück haben. Willst du vielleicht eine Tasse Kaffee ... Pass auf! Da kommt etwas!
‘sos-mail for merlin. please identify.’
Klingt nicht wirklich gut. Hängt das mit eurer Expedition zusammen? Was soll ich antworten? Ich versuch’s mal so ...
‘merlin on tour. friends.’
‘what friends?’
Er traut uns nicht wirklich. Warte, ich frage einmal, wer er ist. ‘who´s talking to friends?’
‘Tai-ki. hongkong.’
Mein Gott, das ist ja am anderen Ende der Welt! Warte, er schreibt noch mehr. Er will wissen, wo wir wohnen. Er kommt her! Was hältst du davon, Belembi, können wir das riskieren? Übermorgen kann er hier sein. Mit der Nachricht. Vielleicht ist es besser, dieses Thema nicht über Internet abzuhandeln. Du könntest Umura herbeirufen. Sie kann ein falsches Spiel sicherlich schnell durchschauen. Und ich hole ihn am Flughafen in Helsinki ab.“
Kaum wartete Thorax das zustimmende Nicken Belembis ab. Seine Finger flitzten über die Tastatur, dass Belembi Mühe hatte mitzukommen. Aber sein Gegenpart schien ebenso unermüdlich zu sein.
„So, das wäre gecheckt. Übermorgen kommt er. Die genauen Flugdaten will er mir noch senden. Finde Umura, Belembi, wir werden sie brauchen!“
Thorax lehnte sich in seinen Stuhl zurück, hob Belembi sanft herunter und strich sich mit einem Seufzer über die sehr kurz gehaltenen, mittlerweile weißen Haare. So eine verrückte Geschichte! Aber brachte Schwung in den alltäglichen Trott. Er fühlte sich jung wie vor zwanzig Jahren. Das Auto musste er auch herrichten. Er war schon lange nicht mehr gefahren. Aber Helsinki lag einige hundert Kilometer entfernt. Zu weit für das Rad. Seine Freunde würden die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Die waren sowieso so fürchterlich normal. Nelben und Zauberer! Thorax lächelte. Jetzt eine gute Pfeife entzünden, vielleicht ein nettes Glas Rotwein dazu ... er stützte sich auf die Armlehnen, um seinen müden Körper leichter anheben zu können. Da! Eine Nachricht! War doch gut, dass er die Leitung offen gelassen hatte.
‘Tai-ki. coming 30.12., 10:34 am, helsinki’.
Flotter Bursche, musste man ihm lassen!


Tai-ki schlich sich aus dem Haus. Flugtickets per Internet zu bestellen war kein Problem gewesen, das väterliche Konto anzuzapfen ebensowenig. Eine Nachricht hatte er seinen Eltern hinterlassen: ‘Verbringe Silvester in Europa, komme bald wieder. Kuss tk.’
Er spürte in seiner kleinen Zehe, dass er da einer großen Sache auf die Spur gekommen war. Hoffentlich hatte er die richtigen Leute erwischt. Die Nachricht konnte er auswendig. Zur Sicherheit hatte er sie auch im väterlichen Computer abgespeichert, nur für ihn abrufbar. Pass und Geld hatte er einstecken. Sonst brauchte er nicht viel. Gerade ein wenig Wäsche zum Wechseln, die Zahnbürste – und die kleine Puppe, die ihn schon seit seinem dritten Lebensjahr überall hin begleitete. Auch wenn manche seiner Freunde darüber lachten und meinten, er sei schon viel zu alt für Puppen und außerdem ein Junge. Blödsinn! Shanna, diese kleine Stoffpuppe mit den roten Wuschelhaaren, hatte ihm schon oft über Probleme hinweg geholfen. Also auf ins Abenteuer!


10:45 Uhr. Vor wenigen Minuten war die Maschine aus Hongkong gelandet. Thorax wartete am Ausgang. Ob er Tai-ki wohl gleich erkennen würde? Er konnte ja versuchen, ihn in der Gemeinsamen Sprache anzusprechen. Doch die meisten Menschen hatten ihre Herzen dafür zu fest verschlossen. Wie er wohl aussah? (Wieso eigentlich ‘er’? Konnte doch genau so gut eine ‘sie’ sein. Vom Namen konnte er auf kein Geschlecht schließen.) Da kamen sie ja endlich durch das Tor, die Passagiere. Lauter Chinesen oder so ähnlich. Für ihn sahen alle ziemlich gleich aus. Thorax versuchte, jedem in die Augen zu sehen. Keiner dabei, der nach Tai-ki aussah. Nur Geschäftsleute. Oder Touristen. Enttäuscht wandte Thorax sich ab. Vielleicht hatte Tai-ki doch kalte Füße bekommen. Da tupfte ihn irgendjemand an die Schulter. Ein schmächtiges Bürschchen, vielleicht 13, die schwarzen glatten Haare zu einem Zopf gebunden, Rucksack, Jean und T-Shirt. Kein Pullover. Er schien zu frieren.
„Tai-ki?“
Der Junge nickte: „Yes. I speak english a little bit. Do you understand me?“


Könnt ihr schon soviel Englisch? Ich kann euch die Worte übersetzen: ‘Ja. Ich spreche ein wenig Englisch. Verstehst du mich?’ Aber ich glaube, sie werden sich später einfach in der Gemeinsamen Sprache unterhalten. Du weißt ja, als Sprache des Herzens kann jeder sie verstehen, dessen Herz offen genug ist. Und Tai-kis scheint nicht verschlossen zu sein. Aber lassen wir Thorax und Tai-ki jetzt einmal die hundert Kilometer bis zu Thorax’ altem Bauernhof zurücklegen und sich dabei ein bisschen näherkommen. Sehen wir einmal nach, was in der Zwischenzeit Ismelda, Merlin und den anderen Gefährten widerfuhr.



8) Getrennte Wege


Ismelda ließ sich auf den nächstbesten Stein fallen, streckte die Beine aus und riss sich den Rucksack vom Rücken. „Aus! Ich gehe keinen Schritt mehr heute!“
Graue Feder zwinkerte Bonifaz zu: „Ja, ja, so sind sie, die verweichlichten Mädchen der heutigen Zeit! Kaum wird es ein wenig anstrengender, machen sie schlapp.“
„Du hast gut reden! In den letzten drei Tagen sind wir immer nur steil bergauf gelaufen. Du mit deinen langen Beinen brauchst ja nur halb so viele Schritte wie ich und Bonifaz tänzelt sowieso über die Steine als wäre er ein Schmetterling. Ich mache jetzt eine Pause. Ihr könnt ja weiterlaufen.“
Ismelda drehte sich um, rollte sich um ihren Rucksack und schloss die Augen. „Vielleicht sollten wir doch ein bisschen nachsichtiger sein. Was meinst du, Bonifaz? Eigentlich bin ich ja auch schon müde. Und wir sind sehr gut vorangekommen.“
Graue Feder beugte sich zu Ismelda. Er konnte, wollte sie nicht leiden sehen und schon gar nicht sauer. Seine Hände berührten ihre Stirn. „Wie geht es dir?“ Er streichelte über ihr Haar, begann ihren Nacken zu massieren, erst sanft, dann fester, die Knoten ausmassierend. Ismelda seufzte.
„Ach Shoshiba! Das tut unendlich gut. Lass uns nur irgendwas essen, ein bisschen rasten, dann geht es schon wieder. Vielleicht findet Bonifaz auch irgendwo eine frische Quelle. So hoch oben in den Bergen muss das Wasser einfach köstlich sein. Und dann wollen wir uns einmal den Karten widmen. Der Wasserfall, den Lora beschrieben hat, kann nicht mehr allzu weit sein.“

Die Sonne brannte herab. Irgendwo in der Ferne zog ein Habicht seine Kreise, nur das Summen der Bienen war zu hören. Ismelda öffnete die Augen. Sie musste eingeschlafen sein, eine Decke lag über ihre Beine gebreitet, eine Ameise krabbelte über ihren Arm. Fasziniert sah Ismelda ihr zu, wie sie einen Weg zurück in die Wiese suchte, verfolgte ihren Weg mit den Augen soweit sie konnte. Das helle Licht blendete sie fast. Schön war es hier, schön und ruhig. Ein paar Latschen breiteten ihre Äste über den Boden aus, kleine und größere Felsbrocken lagen malerisch auf der Wiese verstreut, in der Ferne glitzerten die Berge. Der Wind schob kleine Wolken über die Gipfel, fast, als ob sie ihr zuwinken würden. Jetzt fehlen eigentlich nur die Riesen, dachte das Mädchen. Nette Riesen, die sie auf die Arme nehmen könnten und in Riesenschritten über die Almen tragen. Riesengroße Riesenschritte, ein paar Meter lang. Ismelda lachte laut auf, erschrak über ihre eigene Lautstärke. Wo nur die anderen blieben? Ob sie sich auf der Suche nach einer Quelle verlaufen hatten? Konnte sie sich eigentlich nicht vorstellen. Bonifaz hatte einen untrüglichen Sinn für die richtige Richtung, selbst wenn er den Weg nicht kannte. Man konnte glauben, er rieche den Weg. Ach was, sie würde die unverhoffte Ruhepause genießen und ein wenig schlafen. Sie kuschelte sich eng in die Decke, eigentlich war ja Winter (wieso lag hier eigentlich kein Schnee?) und versank in angenehmen Träumen von warmen Betten und dampfenden Suppen.

Platsch! Etwas Feuchtes, Klebriges landete auf ihrer Wange und verscheuchte den gedanklichen Suppentopf.
„Igitt! Was ist das?“
Ismelda setzte sich kerzengerade auf und spürte, wie dieses Etwas an ihr herunter rutschte.
„Iiihh!“
Wild fuchtelte sie mit den Armen um sich, bis sie Shoshibas Lachen registrierte. „Kennst du das denn nicht? Nennt sich Slime, wunderbarste Erfindung der Menschheit, seit es Lachen gibt!“
(Du kennst Slime auch nicht? Nun, als ich noch ein Kind war, so zirka zwölf Jahre alt, da kam dieses Zeug auf den Markt. In Neonfarben, verpackt in einem bunten Plastikküberl. Es hat keine feste Form, rinnt durch die Finger, lässt sich herrlich werfen und ist so richtig schön glitschig und ekelig. Bestens geeignet, um andere zu ärgern! Doch nun zurück zu unserer Geschichte hoch oben im Gebirge in der Nähe des Wasserfalls.)
Böse funkelte Ismelda den Indianer an. Dieser Idiot! Wie konnte er nur so gemein sein! Sie hasste diese grünen, gelben, rosa oder wie auch immer gefärbten Dinger, mit denen sie so oft beworfen worden war. Tränen begannen aus ihren Augen zu schießen: „Du gemeiner, gemeiner Kerl!“
Ismelda sprang auf Shoshiba zu, boxte ihn auf seine Brust, spürte seine Arme sie umfangen, fühlte seine beruhigenden Worte mehr als sie zu hören. Seine Hände streichelten über ihren Rücken, ihre Haare, seine Lippen berührten sanft ihre Stirne: „Ismelda, verzeih, ich wollte dich nicht so sehr erschrecken, nur ein kleiner Scherz ...“
Shoshibas Arme waren stark. Und warm. Ismelda wollte sich nicht trennen. So viel Wärme in Worten, so viel Wärme in den Händen, in seinen Lippen. Was geschah da mit ihr? Sie spürte ihr Gesicht heiß werden. Verärgert riss Ismelda sich los. Nur keine Schwäche zeigen! Sie hatten doch eine Aufgabe. Und so tragisch war dieses Slime-Zeug nun denn auch wieder nicht: „Ist schon gut. Aber wir haben Wichtigeres zu tun, als mit Slime um uns zu werfen.“ Sie senkte den Kopf. Ihre Augen vermieden sein Gesicht. Diese Wärme ... ihre Wangen schienen zu glühen. „Du hättest besser daran getan, etwas Essbares aufzutreiben. Ich habe Hunger.“
„Voilà!“ (das ist französisch und heißt soviel wie: schau her!) „Bonifaz war tüchtig. Er kennt einiges von den hier heimischen Gemüsen, Wurzeln und Kräutern, riechst du denn diese herrliche Suppe nicht?“
Fünf Minuten später saßen die drei Gefährten einträchtig um ein kleines Lagerfeuer, hielten dampfende Schüsseln voll würziger Suppe in den Händen. Ismelda konnte wieder lächeln. Wie schön es hier oben war! Noch immer keine Wolke am Himmel, irgendwo hoch droben zog ein großer Vogel – ein Adler? – seine Kreise, die Sonne schickte sich an hinter den Bergen zu verschwinden. Eine neue Nacht bereitete sich vor. Eine weitere Nacht ohne Nachrichten von ihren Freunden, ohne Ahnung, wohin sie ihr Weg tatsächlich führen würde, ohne Ahnung, was an Problemen und Schwierigkeiten, an Freud und Leid ihnen in den nächsten Tagen, Wochen, Monaten widerfahren würde. Ismelda dachte an ihr Dorf, ihre Großmutter, an die alte Dame, die auch sie ‘Oma’ gerufen hatte, ohne ihre Enkelin zu sein, ein Faktotum des Dorfes, an das Ehepaar, das sie aufgezogen hatte. Ob sie noch ihrer gedachten? Nun war sie bald drei Monate von zu Hause weg. Weggelaufen ohne Nachricht zu hinterlassen. Alle Brücken hinter sich abgebrochen und vor ihr eine doch sehr ungewisse Zukunft. Ungewiss und gefährlich. Ihr Blick streifte über die fernen Berge, die umliegenden Almen, verfolgte die Sonne, die gerade ihre letzten Strahlen ausschickte, blieb schließlich an Shoshiba hängen, verlor sich in seinem ernsten fragenden Blick. Lange sahen sie so einander an, lange versanken ihre Blicke ineinander. Ismelda spürte, wie ihre Kraft wiederkehrte, wie Zuversicht in ihr Herz kroch, ihr Halt gab, ihr zuflüsterte: ‘Du schaffst es, du kriegst dein Leben so hin, wie du es brauchst.’
Mit einem Seufzer riss Ismelda sich los, drückte Bonifaz ihre Schüssel in die Hand: „Ich hol’ Wasser für den Abwasch. Deine Suppe gab mir genügend Kraft um den Weg zur Quelle zu überstehen. Shoshiba, kochst du Kaffee?“
Sie nahm einen Kessel und stieg die paar Meter zur Quelle hinauf. Zehn, fünfzehn Minuten würde es schon dauern, bis der Kessel sich gefüllt hatte. Ismelda starrte in das plätschernde Wasser, verlor sich in Gedanken ... Eine Hand berührte sachte ihre Schulter.
„Ismelda ...“
Shoshiba zog sie auf, nahm ihre Hände in seine. „Ismelda, ich ... ich möchte mich entschuldigen für vorhin. Ich wollte dich nicht erschrecken, ich wollte nur ...“
„Ist schon gut.“
„Nein, nichts ist gut. Ismelda, ich ... ach nein, wir haben noch soviel Gefährliches vor uns. Aber vorhin, als du mich angesehen hast ... Ismelda, ich ... ich hab dich wahnsinnig gerne!“
Shoshiba drückte ihr einen schnellen Kuss auf die Stirne, drehte sich um und lief zurück zum Feuer.
„Ich weiß“, murmelte Ismelda, sah ihm nach, lächelte, „ich weiß es doch, du ... Aber ich habe Angst davor. Unheimlich viel Angst.“


Erschöpft ließ Merlin sich auf einem Stein nieder und rührte sich nicht. Sie waren einer alten Karte (beziehungsweise deren Resten), die sich in Merlins unergründlichem Beutel befand, gefolgt und in einer Sackgasse gelandet. Rechts und links erhoben sich unüberwindliche Berge, steil, Felsen so glatt, dass keine Rille, kein Vorsprung tastenden Fingern und Zehen Halt geboten hätte. Nur Simila konnte schwebend daran empor gleiten, aber die anderen wagten den Aufstieg nicht. Vor ihnen, dort wo laut Karte ein schmaler Pfad über das Gebirge hätte führen müssen, hatte eine Gerölllawine schon vor langer Zeit den Weg unpassierbar gemacht. Es musste ein unwichtiger Weg gewesen sein, nur mehr in den alten Karten verzeichnet, unwichtig für die Handelswege der Menschen, sonst hätten einige Ladungen Sprengstoff das Gestein schon längst zur Seite geräumt, gäbe es schon längst asphaltierte Straßen und Autokolonnen. Das hätte unserem Trupp zwar auch nicht weitergeholfen, aber so saßen sie fest. Die verbliebenen acht Gefährten scharrten sich um Merlin, begannen ihren spärlichen, in Wald und Flur gesammelten Proviant auszupacken und nach trinkbarem Wasser Ausschau zu halten. Seit Merlins Niederbruch war etwa eine Woche vergangen. Belinda hatte sie noch ein Stückchen des Weges begleitet, um für alle Fälle zur Stelle zu sein, aber Merlin hatte sich unglaublich rasch wieder erholt. Belinda hatte sie alle immer wieder aufgemuntert, ihnen immer wieder Mut zugesprochen. Vorgestern erst war sie nach kurzem Abschied und dem Versprechen für Nachricht zu sorgen rasch davon geglitten. Doch jetzt saßen sie in dieser Sackgasse fest. Eine Umkehr bedeutete einen Zeitverlust von zwei Wochen. Lähmende Stille breitete sich aus, nicht einmal das Brot wollte so richtig schmecken (abgesehen davon, dass es schon ziemlich alt und trocken war). Vollkornbrot hält zwar länger als herkömmliches, Vollkornbrot aus Elbenhand hält sogar über Monate ohne großen Geschmacksverlust, aber auch dieses wundervoll schmeckende und sehr nahrhafte Brot verlor an Geschmack, wenn es sonst nichts zu essen gab, nicht einmal ein paar Kräuter, die sie bisher zum Aufbessern und auch der Vitamine wegen dazu gegessen hatten. Aber hier in dieser Steinwüste fast zweitausend Meter über dem Meeresspiegel wuchs nichts.

Niemand wagte zu reden. Keiner sah den anderen an, alle hofften auf ein Wunder. Merlin saß noch immer regungslos – war doch hoffentlich kein Rückfall, jetzt, wo Belinda fort war – die Sonne begann fahler zu werden, Kälte breitete sich aus. Doch erst als der letzte Sonnenstrahl verschwunden war, stand Merlin auf: „Macht euch hier zum Nachtlager bereit. Ich glaube, es gibt eine Höhle hier, die durch das Gebirge führt. Dieses Kalkgestein ist von Höhlen nur so durchzogen. Aber ich weiß nicht, wo der Einstieg ist. Wir werden morgen bei Tageslicht danach suchen.“


Schritt um Schritt stolperte Ismelda den Weg abwärts. Denken konnte sie nicht mehr, ihre Beine bewegten sich automatisch, ihre Knie spürte sie nicht mehr. Die Bezeichnung Weg verdiente dieser Steig ganz und gar nicht. Ab und zu konnte man die Spuren eines Pfades erahnen, der schon lange nicht mehr regelmäßig begangen wurde. Vielleicht war es nie ein Pfad gewesen, vielleicht waren nur Tiere gewissen vorgegebenen Zeichen gefolgt und hatten so eine Art Weg geschaffen. Ismelda trottete hinter Bonifaz, der noch immer tänzelte, und vor Shoshiba, dessen Kräfte ebenfalls erschöpft waren. Stunden schon hatte keiner ein Wort gesprochen, in der kurzen Rastpause hatten sie ein wenig Wurzeln verzehrt und vertrocknete Beeren, die der Sommer übrig gelassen hatte. Glücklicherweise gab es frisches Wasser. Aber selbst der Handgriff zur Flasche erschien Ismelda zu anstrengend. Wie viele Tage waren sie bereits gewandert? Fünf? Oder sechs? Hatte Lora nicht von vier Tagen gesprochen, damals, vor mindestens hundert Jahren? Ob sie sich verlaufen hatten? Ismelda getraute sich nicht zu fragen. Sie wollte es gar nicht wissen. Um sie herum begann die Vegetation üppiger zu werden. Die Bäume wuchsen wieder höher, Sträucher standen am Rand, Himbeeren und Brombeeren, ein kleines Rinnsal entwickelte sich zum Bächlein, Huflattichblätter bedeckten es fast zur Gänze. Dazwischen Schachtelhalm. Fast so hoch wie der Huflattich. Bonifaz verschwand unter den riesigen Blättern. Wie Regenschirme wirkten sie bei ihm. Riesige, leicht trichterförmige Regenschirme. Leicht strich Ismelda im Vorbeigehen über den Rand der großen Blätter. Rau fühlte sie sich an, ein bisschen pelzig. Unter diesen Blättern im Halbdunkel zu leben musste ein eigenartiges Gefühl sein. Nie wirklich Sonne, immer nur Zwielicht. Kleine geflügelte Wesen in Pastellfarben stellte sie sich darin vor. Etwa in der Größe von Libellen. So etwa wie Glöckchen, die kleine Feenfreundin von Peter Pan. Gedankenverloren riss Ismelda ein Stückchen eines Schachtelhalmes ab, begann ihn zu zerzupfen, Glied für Glied schmiss sie achtlos fort.

„Halt! Was tust du denn da! Du tust ihnen doch weh!“
Ismelda blickte erschrocken auf. Ein kleines bunt schillerndes Wesen, kaum größer als ihre Hand, kreiste um ihren Kopf. Es schien nur aus Flügeln und riesigen Augen im kugelrunden Körper zu bestehen. Die dünnen Beinchen hatte es ganz angezogen. Voll Zorn flitzte es vor Ismelda hin und her.
„Ihr Menschen seid doch wirklich furchtbare Wesen! Einfach aus Lust und Laune diese armen Halme zu zerstören! Hörst du denn nicht, wie sie vor Schmerz schreien!?“
Das konnte doch nicht wahr sein! Sollten Träume Wirklichkeit sein oder konnte sie hellsehen? Verblüfft starrte Ismelda auf die Reste des Schachtelhalmes in ihrer Hand. „Nein, ich ... entschuldige!“
Sie streckte die Hand aus, lud das Flügelwesen ein, sich darauf zu setzen. In der Zwischenzeit waren auch Bonifaz und Graue Feder nähergekommen.
„Entschuldige bitte. Du hast recht, wir Menschen handeln oft sehr gedankenlos, wenn es um die Natur geht.“
„Pah!“
Es legte die Flügel zusammen, strich mit den Beinchen darüber und blickte Ismelda ins Gesicht: „Das habe ich schon viel zu oft gehört! Menschen! Was habt ihr überhaupt hier verloren? Noch dazu mit einem Wicht? Die letzten hundert Jahre ist kaum einer von euch hier vorbeigekommen.“
Ismelda blickte das Wesen erstaunt an: „Hundert Jahre? Ja wie alt bist du denn?“
„243. Sieht man doch eh.“
Hochrot vor Zorn drängte Bonifaz sich vor, stemmte die Arme in die Hüften und baute sich vor dem kugeligen Flügler auf: „Jetzt halt einmal den Mund und sei nicht so grantig! Ismelda ist das erstemal hier, woher soll sie dich denn kennen? Ihr versteckt euch doch sonst auch immer.“
„Ja wieso führst du sie denn überhaupt hierher? Wir brauchen niemanden und schon gar keine unnötigen gedankenlosen Menschen!“ Wild begann das Wesen mit den Flügeln zu schlagen und Bonifaz zu umkreisen. „Wir wollen einfach unsere Ruhe, unser Leben friedlich führen. Am besten ihr verschwindet hier!“
Bonifaz stampfte auf: „Du dummer kleiner Pipilidrianer du! Am liebsten würde ich dich auf den Mond schießen! Du hast doch keine Ahnung! Wir müssen hier durch, also flieg zurück unter dein Blätterdach!“
„Was erlaubst du dir eigentlich, das hier ist unser Land, da bestimmen wir!“
„Du hast überhaupt nichts zu bestimmen, du ...“

Schmunzelnd verfolgten die beiden Menschen den Streit. Ein breites Lächeln zeigte sich auf ihren Lippen, sie sahen einander an und prusteten los.
„Ihr beiden seid einfach zu komisch! Kommt, wir wollen den Streit beenden. Also: Ich bin Ismelda, neben mir das ist Graue Feder, ein Hopi, und Bonifaz wandert mit uns. Wir haben eine wichtige Aufgabe zu erledigen und noch einen weiten Weg vor uns. Sei bitte so nett und sag uns auch, wer du bist.“
Ismelda verbeugte sich, streckte wieder ihre Hand aus zum Zeichen der Freundschaft. Der Pipilidrianer flog knapp vor Ismeldas Augen, sah sie prüfend an: „Okay, ausnahmsweise. Ich bin Firipidiriana, fünfte und jüngste Tochter von Firiuno, Oberhaupt unserer Kolonie. Wir sind hier fünfundzwanzig Pipilidrianer. Es gibt uns überall auf der Erde, wo Schachtelhalme und Huflattich wachsen. Aber wir verstecken uns vor den Menschen. Die meisten halten uns für Spinnen und wollen uns töten. Niemand versteht unsere Sprache und kaum jemand reagiert auf die Gemeinsame Sprache. Zumindest kein Mensch.“
„Danke Firipi... den Namen musst du mir bitte noch einmal sagen ... erzähl uns doch einmal ein bisschen von dir und deiner Kolonie.“
Die Pipilidrianerin tanzte zwischen Ismeldas und Shoshibas Nasen hin und her und betrachtete die beiden Menschen lange. „Okay. Kommt mit. Ich führe euch auf unseren Versammlungsplatz. Folgt mir, aber seid vorsichtig und achtet darauf, möglichst wenig Blätter zu beschädigen.“
Sie breitete ihre Flügel aus und flog mitten in den Huflattichwald hinein. Bonifaz verschwand bereits unter den Blättern, seine Freunde tasteten sich langsam und vorsichtig weiter. Der Boden fühlte sich weich und feucht an, die Blätter, die sie vorsichtig zur Seite bogen, ein wenig rau. Wie ein kleiner Hubschrauber wirbelte Firipidiriana vor ihnen her. Dabei schien sie in hohen Pfeiftönen eine Melodie zu singen, die Ismelda wie das Läuten von Glockenblumen vorkam. Auch wenn Glockenblumen angeblich nicht läuteten. Wer weiß. Es gab soviel auf dieser Erde, was für sie bisher als unmöglich gegolten hatte. Plötzlich sank die Pipilidrianerin auf ein Blatt nieder und deutete den Gefährten, ihr unter das Blätterdach zu folgen. Der Huflattich hatte hier eine Höhe von über einem Meter, fast eineinhalb Metern erreicht. Ismelda bückte sich, Shoshiba ließ sich auf die Knie nieder. Grünes Dämmerlicht umfasste sie. Tautropfen hingen in den Blättern, dazwischen Netze, die alle von den kleinen geflügelten Kugelwesen bevölkert waren. Die Huflattichblätter waren hier so groß, dass sie einen Platz von etwa drei mal drei Metern überdeckten, in dessen Mitte ein weißer Stein stand. Firipidiriana deutete den drei Wanderern sich daneben hinzusetzen und flog davon. Ismelda folgte dieser Aufforderung mit einem erleichterten Seufzer. Diese Pause war ihr willkommen, ein bisschen rasten konnte nicht schaden. Sie lächelte ihre Gefährten an, ergriff Shoshibas Hand und drückte sie. Sie sollten ihre Kräfte nicht unnötig vergeuden und hier unten unter den hohen Huflattichblättern herrschte eine wundervolle Stimmung. Das Sonnenlicht konnte ab und zu durch einen Spalt in das Zwielicht eindringen, wie Strahlen durch ein Wolkenloch. Der Boden war mit weichem Moos bedeckt, überall hingen Tropfen in den Blättern. Ismelda lehnte sich an den Stein, der eine unglaublich Wärme ausstrahlte. Der Duft verschiedener Kräuter stieg ihr in die Nase. Ihre Augen wurden schwer. Nur mit Mühe konnte sie sie offen halten. Sie rückte näher zu Shoshiba, lehnte sich an ihn und schlief ein.


Ein durchdringender Pfeifton weckte Merlin. „Was? ...“ Ein Erdhörnchen saß vor ihm, sah ihm direkt in die Augen, pfiff nochmals und verschwand in einem Busch. Merlin sah ihm verdattert nach. Konnte das etwas bedeuten? Eine Aufforderung? Erdhörnchen galten als Freunde der Zauberer und Elben. Schon lugte das Erdhörnchen wieder hervor, pfiff nochmals, diesmal dringender, verschwand wieder. Merlin winkte seinen Freunden: „Nehmt eure Sachen und kommt mit!“
Vorsichtig begann er, sich einen Weg durch den Busch zu bahnen. Immer dichter wurden die Zweige, schon fürchtete er, das Dickicht nicht mehr durchdringen zu können, da sah er auf einmal ein dunkles Loch in der Felsenwand. Den Eingang, den er gesucht hatte. Zum alten aufgelassenen Bergwerk der Zwerge. Das Erdhörnchen hockte daneben, pfiff nochmals, hüpfte auf und ab, schien dabei auf Eile zu drängen. Merlin sprang in großen Schritten zum Lagerplatz zurück, trieb seine Kameraden an und eilte ihnen voran. Vor dem Einstieg suchte er eine Fackel aus seinem Sack, nickte dem Erdhörnchen ein Danke zu und verschwand, gefolgt von den acht anderen, in der Dunkelheit.

Ein paar Meter weit drang noch Tageslicht in die Höhle. Dann spendete nur mehr Merlins Fackel ein wenig Licht. Die unruhige Flamme erhellte dunkle, leicht glitzernde Wände. Irgendwelche Quarze mochten das Glitzern hervorrufen. Alamba berührte die Steine. Sie waren feucht. Hoffentlich fand Merlin den richtigen Weg. Solche Höhlen zogen sich ja oft hunderte Kilometer lang durch die Berge. Wie Irrgärten im Dunkeln. Und diese Höhle sah nicht danach aus, als hätte irgend jemand vorher sie schon betreten. Nur keine Panik, schalt sie sich selbst. Wozu war Merlin Zauberer. Außerdem waren da noch Ada und Simila. Die hatten genügend Erfahrung mit Höhlen. Hoffte sie.

Wie viele Stunden sie so durch die Höhlen stolperten, vermochte keiner zu sagen. Die Fackel jedenfalls schien unendlich lange zu brennen. Eine Zauberfackel eben. An vielen Gängen waren sie schon vorbeigekommen, doch Merlin ging unbeirrbar den einen, fast ein Hauptgang, entlang. Er wand sich in vielen Kurven, wurde mal breiter und höher, sodass sie leicht zu dritt nebeneinander gehen konnten, dann wieder ganz eng, gerade noch auf den Knien zu durchrutschen. Stumm trotteten sie dahin, jedes Wort, jedes Geräusch schien unendlich viele Echos auszulösen, die unseren Freunden Angst machten. Plötzlich hielt Merlin inne: „Schaut!“
Er hob die Fackel, die plötzlich in zehnfacher Helligkeit strahlte. Vor ihren erstaunten Augen öffnete sich eine wundervolle Welt aus buntem Gestein. Eine Halle, groß wie ein Dom, voll mit bizarren Formen. Da gab es kleine Figuren, die aussahen wie Zwerge, große Gebilde, die Häusern und Kirchen glichen, Berge, Täler, Köpfe, Tiere, was immer die Fantasie ihnen eingeben mochte, erfreute ihre Sinne. Lange standen sie so, starrten und staunten, bis Merlin seine Fackel wieder dämpfte und die kleine Schar am Rande der Halle entlang bis zu einer kleinen Ausbuchtung führte. Dort setzte er sich nieder.
„Kommt, wir wollen rasten. Dies hier ist ein Teil der großen Tropfsteinhöhle von Silmista, dem Verborgenen Reich der Alten Zeit, das im Nebelgebirge lag – ihr werdet davon sicher schon gehört haben. Hier gibt es seit langem keine Besucher mehr. Ich aber kenne diese Höhle. Sasekin zeigte sie mir, als er noch zu uns gehörte. Viel hat sich zum Glück nicht verändert. Die Hälfte etwa dürften wir schon durchquert haben. Eine kleine Pause wird uns gut tun. Und auch ein wenig Stärkung können wir jetzt gut gebrauchen. Lasst uns sehen, was die Rucksäcke noch enthalten.“


Rauchschwaden schlugen ihm entgegen, als er die Tür zum Arbeitszimmer öffnete.
„He, hier ist ja keine Räucherkammer!“, beschwerte sich Belembi, „habt ihr Erfolg?“
Keiner der beiden Anwesenden regte sich, nur etwas wie ein Räuspern entrang Thorax’ Kehle. Belembi stellte vorsichtig die Thermoskanne mit frischem Kaffee ab, öffnete das Fenster und versuchte einen Blick auf den Computer zu erhaschen. Eine lange Reihe von Zahlenkombinationen rannte über den Bildschirm. Tai-ki und Thorax blickten gespannt auf die flackernden Zeilen. Belembi schüttelte den Kopf: „Was treibt ihr da eigentlich?“
„Schscht!“
Belembi schlich sich wieder hinaus (nicht ohne das Fenster wieder zu schließen, die Lüftungsklappe eine Spalt offen stehen zu lassen und den Aschenbecher zu leeren). Die Sonne schien wunderbar, richtig warm war es geworden. Müde ließ er sich unter der alten Linde auf die Bank niedersinken. Seit ihrer Ankunft hatten sich die beiden noch nicht aus dem Arbeitszimmer bewegt. Noch nicht mal Umuras Ankunft wollte Thorax abwarten. Er schien seit der Fahrt vom Flughafen dem Jungen zu vertrauen. Seit gestern Abend saßen sie vor dem Bildschirm. Jetzt war Mittag schon lange vorüber. Belembis Blick streifte über den Dorfplatz. Würde ihre Mission Erfolg haben? Vielleicht waren sie schon zu spät dran. Vielleicht konnte Sasekins Nebel nie mehr von der Erde entfernt werden, vielleicht vermehrte er sich unabhängig von dem Stein, vielleicht ... Belembi seufzte laut auf. Nichts als Probleme. Und Thorax war aus seinem Arbeitszimmer nicht loszueisen. War noch nicht einmal ansprechbar. Diese Ungewissheit! Mit einem weiteren Seufzer erhob sich Belembi, ein letzter Blick über den Platz, ein kleines, trauriges Lächeln die Lippen umspielend, fast ein Bild der Resignation. Müde einen Schritt vor den anderen setzend kehrte er in seine Wohnung zurück. Er würde den beiden am Computer ein kleine Mahlzeit kochen. Und noch eine Kanne Kaffee. Irgendwann hatten sie vielleicht doch noch Erfolg....
„Belembi!“
Ein lauter Schrei gellte durch die Nacht.
„Belembi, wach auf!“
Erschrocken fuhr der Nelbe aus dem Schlaf hoch.
„Was, was ist los?“
Tai-ki stand an seinem Bett, fuchtelte ganz wild mit den Armen.
„Wir haben etwas gefunden! Komm schnell!“, stieß er keuchend hervor und war schon wieder verschwunden. Belembi schlüpfte schnell in Schuhe, warf sich den Mantel über den Pyjama und folgte dem Jungen gespannt und noch etwas verschlafen. Thorax erwartete ihn schon. „Sieh mal Belembi“, zeigte er auf den Bildschirm, „er hat aufgehört zu rechnen. Diese Zahlen hier sind anders. Ich weiß noch nicht, was sie bedeuten. Aber sie könnten das Schlüsselwort darstellen.“
Belembi rieb seine müden Augen um besser sehen zu können. Ganz in der Ecke oben standen neun Ziffern.
„Vier, neun, eins, wieder eins – was ist das, ach ja, sechs, eins, fünf. 491 1615. Klingt wie eine Kontonummer bei der Bank. Seid ihr sicher, dass diese Ziffern den Code enthalten?“
„Wer kann da schon sicher sein?“, Thorax zuckte mit den Achseln, „immerhin hat es mit Sasekin zu tun. Wer weiß, vielleicht ist es seine Kontonummer bei irgendeiner Bank. Das wäre nicht einmal so schlecht. Damit hätten wir ihn ziemlich fixiert. Aber ich glaube nicht, dass es so einfach ist. Jedenfalls höre ich für heute auf.“
Thorax streckte sich und scheuchte Tai-ki aus dem Sessel: „Komm Tai-ki, nimm deine Puppe mit, wir brauchen Schlaf. Belembi, kannst du die Wache übernehmen und uns rufen, wenn sich etwas ändert?“

Hallo! Die Geschichte ist noch viel länger, wer mehr davon lesen will, kann mir ein Mail schicken!
syl
Sylvia Sagmeister, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.02.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Stream of thoughts: Stories and Memories – for contemplating and for pensive moments (english) von Heinz Werner



Do we know what home is, what does this term mean for modern nomads and cosmopolitans? Where and what exactly is home?
Haven't we all overlooked or misinterpreted signs before? Are we able to let ourselves go during hectic times, do we interpret faces correctly? Presumably, even today we still smile about certain encounters during our travels, somewhere in the world, or we are still dealing with them. Not only is travveling educating, but each travel also shapes our character, opens up our view for other people, cultures and their very unique challenges.
Streams of thoughts describes those very moments - sometimes longer, sometimes only for a short time - that are forcing us to think and letting us backpedal. It is about contemplative moments and situations that we all know.

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