Joana Angelides

Der Engel von Gegenüber

Gegenüber, im dritten Stock eines alten Patrizierhauses brennt wie in jeder Nacht, Licht. Sie schaut gedankenverloren hinüber. Schläft er nie?

Seit sie nun vor einer Woche hier eingezogen ist, beobachtet sie das in jeder Nacht.

Ihre Wohnung ist eine Atelierwohnung, ganz oben, mit wunderbar breiten Fenstern. Sie eignet sich wunderbar zum Zeichnen von Kleidern, entwerfen von Modellen für ein großes Modehaus. Da sie den ganzen Dachboden für sich alleine hat, kennt sie kaum einen der anderen Mieter und genießt die Ruhe, die sie dringend braucht. Selbst der Straßenlärm kommt nur gedämpft bis hier herauf.


Mit “Er“ ist ein Mann in mittleren Jahren gemeint, der scheinbar nur nachts arbeitet. Denn da sieht sie jede Nacht das Licht brennen und manchmal seine Gestalt an dem bis hinunter reichenden Fenster vorbeigehen, die Schatten auf die zugezogenen Vorhänge wirft. Es ist eigentlich mehr eine Türe, jedoch ohne Balkon, geschützt durch ein altes, geschmiedetes Gitter. Durch die Vorhänge hindurch kann man eine Sektion des Raumes sehen. Ein Schreibtisch mit einer noch zusätzlichen Arbeitslampe beleuchtet den Arbeitstisch. Ein Computerschirm ist zu erkennen und einige Bücher, jeweils in anderer Formation.

Da sieht sie ihn manchmal, regungslos sitzend oder schreibend. Hin und wieder steht er hastig auf und tritt an das Fenster. Er scheint seine Gedanken draußen zu suchen.

Nur sehr selten kann man auch bei Tag durch die geöffneten Flügel des Fensters ein wenig von dem Raum dahinter sehen. Ein- oder zweimal konnte sie ihn da auch am Fenster stehen sehen, rauchend und in Gedanken versunken.


Nun steht er wieder einmal auf und tritt an das Gitter vor der Türe. Er raucht und man kann das Glimmen der Zigarette in kleinen Intervallen sehen.


Sie sitzt am Fensterbrett, gelehnt an den Fensterstock des breiten Atelierfensters und hält ebenfalls eine Zigarette in der Hand, von der sie hin und wieder einen Zug macht. Als sie fast zu Ende geraucht ist, schnippt sie sie in weitem Bogen in die Luft. Das klimmende Licht macht einen weiten Bogen und senkt sich dann zur Straße hin.

Das aufflammende Licht hat die Aufmerksamkeit der dunklen Gestalt gegenüber erregt und er blickt durch die Nacht zu ihr hinauf.


Sie erscheint ihm im Fensterrahmen wie eine Engelsgestalt. Sie trägt das Haar offen und über die Schulter fallend. Ihre Haarfülle, dem leicht gekraustem, naturblonden Haar, strahlt von weitem wie ein Lichterkranz um sie herum. Der Eindruck wird noch verstärkt durch eine kleine hinter ihr befindliche Lampe, die ihr Licht sanft im Raum verbreitet.


Das helle, weite, durchsichtige Hauskleid mit den langen weiten Ärmel, das ihre Gestalt umspielt und über ihre Knie gezogen ist, vermittelt den Eindruck einer Lichtgestalt.


Sie merkt, daß er nicht aufhört zu ihr herauf zu blicken und bleibt regungslos sitzen, bewegt nur hin und wieder den Kopf ein wenig. Die Lichter tanzen auf den Spitzen der Haare und verstärken die Reflexe.


“Dort oben sitzt scheinbar ein Engel?“ Der Mann kann seinen Blick nicht abwenden, so fasziniert ist er von dieser Erscheinung. Dann lächelt er leicht.

Es ist eigentlich schade, daß sie dieses Lächeln von dort oben nicht sehen kann


Die Nacht wird kühler, ein leichter Wind kommt auf und spielt mit dem dünnen Stoff ihres Kleides und läßt den Schal leicht flattern.

Er steht noch immer regungslos gegenüber und blickt hinauf. Es ist als würde er erwarten, daß sie jeden Moment ihre Flügel ausbreitet und wegfliegt.


Da ihr kühl geworden war, ließ sie sich von der Fensterbank gleiten und entschwindet so seinen Blicken, da der Dachvorsprung der Atelierwohnung seine Blicke aussperrt.


Sie löscht das kleine Lämpchen im Raum und geht ins Bett. Doch es wird eine unruhige Nacht. Sie muß immer wieder an die Gestalt gegenüber denken und daran, daß er unentwegt zu ihr hinauf blickte.


Ihr erster Blick am Morgen, noch mit der Kaffeetasse in der Hand gilt dem Fenster schräg unter ihr, gegenüber in dem schönen Patrizierhaus.


Alle Fenster und auch die kleine Türe mit dem Gitter sind verschlossen und man kann keine Bewegung sehen.

Irgendwie enttäuscht wendet sie sich ihrem Zeichentisch zu und beginnt zu arbeiten.


Die folgenden Stunden ist sie so intensiv bei ihren Entwürfen und Ideen, daß sie das kleine Intermezzo, das ja eigentlich gar keines war, vergißt.

Am Nachmittag rafft sie ihre neuen Zeichnungen zusammen und legt sie in die große Mappe, um sie wegzutragen.


Sie hat ihre Haare mühsam zu einem Knoten zusammen gefaßt und hochgesteckt. Eine kleine weiße Bluse und ihre Jeanshose passend zu den flachen Sandalen läßt sie wie ein junges Mädchen erscheinen, obwohl sie schon Mitte Dreissig ist und eine gescheiterte Ehe hinter sich hat.


Sie verläßt gerade den Lift, als sie durch das Fenster der Eingangstüre einen Mann auf das Haus zustreben sieht.


Er öffnet ihr galant die Türe und läßt sie als erste hinaus.


“Ach, entschuldigen Sie, können sie mir sagen, wer da ganz oben wohnt? In der Dachwohnung?“

Sie erschrak und stellte die Mappe mit den Zeichnungen nieder. Es war scheinbar der Mann von gegenüber. Seine Stimme klang dunkel, mit einem leichten Timbre und sie spürte, wie ihre Knie zitterten. Er sah sehr gut aus, seine Augen waren braun und er lächelte sie freundlich an.


“Da wohnt niemand!“ Hörte sie sich sagen.


“Aber, ich sah heute Nacht Licht!?“


“Da müssen sie sich geirrt haben. Die Wohnung steht schon seit einem halben Jahr leer.“


Sie nahm ihre Mappe wieder auf und ging zum Auto. Ohne ihn noch einmal anzusehen, gab sie Gas und fuhr weg. Aber nur um die nächste Ecke, da blieb sie stehen und schloß die Augen.

Wie konnte das nur passieren, daß sie beim erstbesten gutaussehenden Mann den Boden unter den Füßen verlor und ihr Herz zu klopfen begann?

Sie wollte nach der Trennung von Max nie wieder in solch eine Situation kommen. Nie wieder durften sie Gefühle so beeinflussen, daß sie unfähig war, logisch zu handeln.


Sie atmete durch, startete das Auto wieder und fuhr in die Firma.


Als sie abends wieder an ihrem Zeichentisch saß, erfaßte sie Unruhe und eigentlich wollte sie zu den Fenstern gegenüber hinunter schauen, ob auch er an seinem Schreibtisch saß. Doch sie hatte die dunklen schweren Vorhänge, die sie aus ihrer gemeinsamen Wohnung mit Max mitgenommen hatte, vorgezogen. Sie ließen kein Licht hinaus. Sie wollte, daß man glaubte, die Wohnung sei unbewohnt.


Gegenüber saß der Mann an seinem Schreibtisch und blickte hinauf zu der Dachwohnung. Tatsächlich konnte er kein Licht sehen und kam zu dem Schluß, er hätte sich in der Nacht zuvor geirrt.


Als sie mit ihrer Arbeit fertig war, löschte sie alle Lichter, vergaß jedoch das kleine Lämpchen bei dem kleinen Tischchen im Vorraum. Sie öffnete die dunklen Vorhänge und das große Fenster und ließ die angenehme Nachtluft herein.

Ihr Blick glitt zu den Fenstern gegenüber und da sah sie ihn, wie er an seinem Schreibtisch saß und schrieb.


Sie setzte sich wieder auf das Fensterbrett und zog die Knie an, lehnte ihren Kopf zurück und schloß die Augen. Sie atmete tief ein und die laue Luft entspannte ihren ganzen Körper.


Um sich noch mehr Entspannung zu verschaffen, hob sie beide Arme und verschränkte sie hinter dem Kopf. Die Luft tat ihr gut.


Gegenüber trat der Mann an die Türe seines Zimmers und blickte überrascht hinauf. Da war sie wieder, diese helle, weiße Gestalt, mit dem Lichterkranz um den Kopf und dem weißen, durchsichtigen Kleid, mit dem flatternden Schal, sein Engel!

Durch das Hochheben der Arme, sah es einen Augenblick aus, als würde dieser Engel wegfliegen wollen.


Er wußte nun nicht, wem er glauben sollte. Dieser jungen Frau heute morgen, oder seinen Augen, die ja die Gestalt wahrhaftig sahen.


Er konnte seinen Blick nicht abwenden und er wünschte sich sogar, fliegen zu können, um hinüber zu fliegen und diesen Engel zu berühren.


Er überlegte sich, wie sich wohl das Haar anfüllen würden, wenn er mit seinen Fingern darin versinken würde? Wie würde der Engel, oder war es doch eine “Sie“, wohl riechen? Nach weißem Leinen und Blüten, stellte er sich vor.


Sie sah ihn ebenfalls, an das Gitter seiner Türe gelehnt und zu ihr hinauf blicken. In diesem Moment war sie wie verwandelt. Sie genoß seine Blicke, die sie gar nicht sehen, sondern nur spüren konnte, fing seine Gedanken auf und konnte sich nicht entschließen, von der Fensterbank zu gleiten, um sich diesen Blicken zu entziehen.

Sie beließ die Arme oben und bewegte sich leicht, so wie als würde sie in sich in seinen Armen räkeln.


Sie nahm ihre Arme nun wieder herab und betrachtete den Mann am Fenster gegenüber. Seine Gestalt schien größer geworden zu sein, sie meinte seine Augen vor sich zu sehen. Sie spürte seinen Blick, wie er sich in ihre Seele senkte und sie nicht wieder los ließ.

Die Arme leicht ausgestreckt berührte er Ihren Körper und sie fühlte sich von seinen Gedanken, schwebend über die Dächer davon getragen.


Es mischte sich Traum mit Wirklichkeit, ihre Haut wurde wie Pergament und der leichte Luftzug der Nacht gaukelte ihr Berührungen und ihre Haut liebkosende Lippen vor.


Es war, als würde ihr ganzer Körper im Takte der sich bewegenden Zweige des Baumes vor dem Haus, vibrieren. Es war Flüstern und Raunen zu hören, die Blätter summten ihr Lied dazu.


Das Mondlicht beleuchtete diese Szene mit seinem hellen weichen Licht und ließ alles unwirklich erscheinen. Neben dem Mond konnte man den Abendstern blinken sehen und sie stellte sich vor, wenn dann alle Menschen schlafen werden, daß sich die Beiden treffen.


Sie stellte sich vor, der Abendstern wird sich im Schoße von Frau Luna niederlassen, sich von der Sichel schaukeln lassen und erst mit der Morgendämmerung am Himmel unsichtbar werden.




Lächelnd ob dieser Träumereien, beschloß sie nun aber doch, wieder von der Fensterbank herab zu gleiten und in der Dunkelheit des Raumes zu verschwinden.

Ob er noch einmal ihren Weg kreuzen wird, ob er doch nach ihr suchen wird?

Als sie längst in ihrem Kissen lag, die Augen geschlossen und mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen, hoffte sie, daß er noch einmal versuchen wird, sie zu finden.


Der Mann gegenüber nahm mit großem Bedauern zu Kenntnis, daß die Lichtgestalt wieder verschwand, blieb jedoch noch eine geraume Zeit dort stehen und blickte in den Nachthimmel.

In dieser Nacht hielt er eine schlanke, sich bewegende Gestalt in seinen Armen, vom Licht umflutet, mit goldenem Haar und wunderbar duftend.


Er wußte, er würde sie finden, auch wenn es wirklich ein Engel sein sollte.




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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.02.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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