Tim Augustin

Asche

Laut dröhnten die Räder der Wägen auf dem Asphalt. Die begleitende Musik wurde leiser. Michael schlenderte den Wagen hinterher. Im Schlepptau Lisa, die sich nicht aus ihrer Begeisterung lösen wollte. Auf der nächsten Brücke machte er halt, lehnte sich gegen die breite, steinerne Brüstung und zog den Rauch seiner Zigarette tief ein. Der warme Rauch verlor sich in der Kälte, als er ihn durch die Nase ins Freie entließ.
"Wir müssen den Wagen hinterher. Beeilen wir uns, dann erwischen wir sie noch bei der nächsten Kurve. Ich kenne eine Abkürzung.", rief Lisa.
Michael lächelte, genoss die Aufmerksamkeit seiner Freundin. Er drehte sich nicht um, sondern blickte nach unten. Der Fluss schlängelte sich dreckig braun durch die verschneiten Wiesen. Die weißen, oft noch jungfräulichen Flächen wa-ren übersäht mit dunklen, glitzernden Flecken. Müll. Überall Müll. Wann würde die Stadt durchgreifen gegen die Bewohner dieser Landschaft? Was wurde aus dieser Stadt? Seit er sich erinnern konnte, bevölkerten Penner und Asoziale die Wiesen unter den Brücken. Im Sommer dehnten sie ihre Saufgelage auf die Nah-erholungsgebiete aus. Man konnte weder in aller Ruhe einen Abend am Fluss verbringen noch einen gemeinsamen Spaziergang zu machen. Gedankenverloren blickte Michael in die Ferne und schnippte die Asche seiner Zigarette über die Brüstung.
"Kommst Du?" fragte Lisa wieder.
"Gleich."
Ein leichter Wind wehte, zog Michael an seinen glatten Haaren. Er drehte sich zu seiner Freundin um, als ihm etwas ins Gesicht flog. Hastig wischte er sich über die Wange - Asche klebte an seinen Händen. Er entledigte sich des lästigen Drecks, griff die Hand seiner Freundin und verließ die Brücke, um dem Wagen-zug hinterherzulaufen.

Sabine stand still. Sie umklammerte mit beiden Händen eine Urne. Kälte durch-zog ihre linke Hand, die rechte war durch einen dreckigen Handschuh geschützt. Kaltes, glattes Metall.
Sie waren ein kümmerlicher Zug, vor acht Stunden mit Holger im Gepäck auf-gebrochen, um in aller Stille von ihm Abschied zu nehmen. Der Pater hatte einen Termin reserviert, Geld aus einer seiner Sammlungen für die Einäscherung ge-zahlt, einen kleinen Leichenschmaus spendiert. Noch immer schmerzte Sabines Magen, wenn sie an das Brot, die Apfelsinen und Wurst dachte. Wurst! Es war zu viel für ihren Magen. Sie war nicht die einzige. Dumpf schlug Peter immer wieder seinen Kopf gegen den Pfeiler, aus seinem Mund plätscherte die Wurst und das Brot auf die glatten, abgeriebenen Steine. Sabine nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche, die ihr der Pater gegeben hatte. Warm zog es die Speiseröhre hinab, sie musste husten und Tränen stiegen ihr in die Augen. Verlegen wischte sie mit der kalten Hand ihre Tränen aus den Augen. Sie spuckte grünlich-gelben Schleim auf den weißen Boden. Ungerührt beobachtete sie, wie sich gelbliche Kristallblu-men vor ihren Füßen bildeten.
Der Pater hatte es möglich gemacht, dass sie die Urne mitnehmen konnten. Er versicherte dem Bestattungsunternehmen, dass er für die richtige und umfassende Beisetzung aufkommen würde. Zum Abschied drückte er Sabine stumm die Urne in die Hand.
"Das ist zwar nicht erlaubt. Aber er hätte es so gewollt." Waren seine einzigen Worte. Sabine nickte und zog mit ihren Männern ab. Sie brauchten lange für den Rückweg und Alfons hielt sich immer noch auf der Wiese auf. Er sammelte Müll ein. Müll, den sie alle dort hinterlassen hatten, der sich mit dem Müll der anderen vermischte, der Jogger, der Leute, die Würste aus reinem Vergnügen auf heißen Kohlen grillten. Es war einfach nur noch Müll. Er unterschied sich nicht mehr. Außer, dass nur sie ihn anfassten. Für die anderen war er aus dem Leben ver-schwunden. Für sie war er nützlich oder störend. Wärmespendend, giftig, belästi-gend zugleich. Alfons sammelte den Müll, weil er dachte, Holger hätte es so ge-wollt. Hätte darauf geachtet, dass alles schön sauber wäre. Holger war es scheiß-egal.
Sabine machte sich Sorgen um Klaus. Er saß am Rande des Flusses und ließ seine Füße ins Wasser hängen. Es war dafür zu kalt. Sie wollte ihm helfen, wollte, dass er aufhörte. Es ging nicht. Zu innig war die letzte Berührung mit Holger, der sie an dieser Stelle oft umarmte. Gemeinsam hatten sie die schlimmsten Zeiten durchstanden, den Verlust ihrer persönlichen Gegenstände in der Nacht, als das Wasser gekommen war. Den harten Winter, der ihm zwei Zehen nahm und ihr ein das rote Gesicht schenkte, das auch im größten Sommer noch vor Kälte zu platzen schien. Langsam strich sie sich mit der Hand über das Gesicht, fühlte, wo durch mangelnde Pflege die raue Haut durchbrochen war. Fast konnte sie die rosige, weiche Haut sehen, die sie mit ihren Fingern fühlte. Eine leichte rote Spur schimmerte auf ihrem Finger, als sie ihn wieder zurück auf die Urne legte. Holger wollte hier bleiben, das wusste sie. Er wollte dass sie das tun.
Sabine räusperte sich und rief mit heiserer Stimme die anderen zusammen. Lang-sam näherten sie sich. Sie sah Klaus' Füße, die er nicht abgetrocknet hatten. Sie fragte sich immer wieder, wie er es schaffte, seine Füße in die Schuhe zu zwän-gen. Wie diese Füße, die aussahen, als ob sie über die Schuhe lappen würden, dort noch hinein passten. Wasser in den Beinen, sagte ein Arzt, der sich vor ein paar Jahren um sie kümmerte. Er hatte Medikamente. Oft hatte sie versucht, durch Na-delstiche das Wasser abzulassen, aber Klaus ließ sich nicht mehr von ihr behan-deln.
Es dauerte länger, als sie es ertragen konnte, bis alle bei ihr waren und einen Halbkreis formten. Sie betrachteten sie nur als ein Anhängsel von Holger, schie-nen aber trotzdem etwas von ihr zu erwarten. Worte, die sie aus dem Dunkel rei-ßen würden, dass sie umgab. Peter schien immer noch lieber kotzen zu wollen, als hier zu stehen. Blut lief langsam zwischen seine Augenbrauen und trocknete dort langsam. Sabine unterdrückte den Impuls, ihm das Blut aus dem Gesicht zu wi-schen. Sie blutete an der Hand. Sie hatte die Faust an eben die Wand geschlagen, gegen die Peter seinen Kopf immer wieder schlug.
"Er hätte gewollt, was wir jetzt machen. Er wollte bei uns blieben." sagte sie leise. Keine Regung der anderen sagte ihr, ob sie traf, die die anderen hören wollten.
"Was zu sagen?" fragte sie.
"Er fehlt mir." Klaus rieb die Füße an seiner dreckigen Hose und zog immer noch nicht die Schuhe an, die er in der Hand hatte. Seine Füße schmerzten. Die Kälte nahm ihm das Gefühl.
Kein anderer sagte etwas. Stumm starrten sie vor sich hin. Arschlöcher! dachte Sabine bei sich.
Sie öffnete die Urne. Feine graue Asche wirbelte langsam im metallenen Gefäß. Neugierig starrten sie auf die graue Masse. Peter blies leicht in die Urne. Asche flog aus der Urne und fiel auf den Boden. Tränen schossen Sabine in die Augen. Sie konnte ihre Trauer nicht mehr unterdrücken, nicht in dieser Situation.
Ein leichter Wind erhob sich, von weit oben segelte ein Stück Zigarettenasche nach unten, landete mitten in der Urne. Eine Träne löste sich von Sabines Nase, tropfte auf die Asche. Traurig blickte sie der Träne hinterher, hoffte auf ein Zei-chen, auf eine Fügung. Die Asche bildete unter ihrer Träne einen hässlichen, dunklen Fleck.
Sie hob die Urne an und schüttete den ganzen Inhalt in den auffrischenden Wind. Die Asche verteilte sich auf dem Boden, wirbelte durch ihre Beine, manche der Flocken wurden in die Luft gehoben und flogen nach oben. Sabine blickte ihnen hinterher. Sie spürte, wie sich Holger immer mehr von ihr entfernte, als die letzten Flocken über die Brückenbrüstung und aus ihrem Blick verschwanden.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Tim Augustin).
Der Beitrag wurde von Tim Augustin auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.02.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Tim Augustin als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Die Weide der Seepferde von Dr. Regina E.G. Schymiczek



Wissen Sie, wer die Katastrophe von Fukushima und die weltweite Wirtschaftskrise ausgelöst hat? Der Meeresarchäologe Dr. Jack Foster weiß es. Er weiß auch, was antike Magie damit zu tun hat. Dieses Wissen ist aber nicht ungefährlich – und der nächste Super-GAU steht unmittelbar bevor…

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Gesellschaftskritisches" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Tim Augustin

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Ali von Claudia Lichtenwald (Gesellschaftskritisches)
Schwarm einer Sechzigjährigen von Rainer Tiemann (Zauberhafte Geschichten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen