Nicolai Rosemann

Virus X

Ein blendendes Licht traf in sein Gesicht.
„Hände hinter den Kopf! Keine Bewegung!“ befahl der Wachposten. Er tat wie befohlen und warf den Rucksack vor seine Füße. Dann spreizte er die Beine und legte die Hände hinter den Kopf. Das blendete Licht erlosch. Dafür war jetzt ein roter Punkt auf seiner Stirn.
„Wo wollen Sie hin?“ fragte der Wachposten.
„Ich habe hier einen Job.“ antwortete er. Langsam griff er in seine Brusttasche und holte den Passierschein heraus. „Hier.“
„Legen Sie es auf den Boden und treten Sie drei Schritte zurück.“ befahl der Wachposten. Er tat wieder wie befohlen. Der Wachposten lief mit vorgehaltener Maschinenpistole zu seinen Sachen und hob den Zettel auf.
„Er ist sauber!“ sagte der Wachposten schließlich und warf noch einen Blick in den Rucksack. Dann ging er zurück zu seinem Häuschen und öffnete die magnetisch versiegelte Tür. Langsam glitt sie in den Boden und gab ihn Eingang in das Feldlager. Der Wachposten stand stramm an der Tür, mit der geladenen Waffe noch immer Schussbereit. Der Wachhund neben ihm knurrte böse.
Aber dann war er drin. Teil eins war geschafft.

Der Wachposten hatte den Neuankömmling bis er drin gewesen war genau im Auge behalten. Nicht aus Hass gegen ihn, denn täglich kamen neue Arbeiter und Soldaten an. Aber etwas an dem Typ hatte ihm von Anfang an nicht gefallen. Die meisten Neuankömmlinge leisteten wenigstens etwas Widerstand, der aber nicht.
Dann war noch der Vorfall, als der neue Arbeiter die Schwelle überschritten hatte. Als der nämlich diesen Schritt gemacht hatte, war es ihm erschienen, als hätten einen Moment lang seine Augen rot aufgeleuchtet und die Pupillen hätten sich einen Moment gedreht, wie bei einer Schlange. Aber sicher hatte ihm wieder mal der Schlafmangel einen Streich gespielt. In den letzten Tagen war die Hölle los gewesen. Er sehnte sich richtig nach der Ablösung.

Bevor die Neuen ihre Posten beziehen durften, mussten sie einige Tage in einer Gemeinschaftsbaracke verbringen. Kein schönes Zuhause, aber besser als im Matsch pennen. Die meisten Neuen hier waren ebenfalls Arbeiter, einige waren aber auch Berichterstatter. Aber egal, was man war, man landete zuerst hier. Denn das Lager konnte es nicht riskieren, sich einen Virus einzufangen.
Bei dem Gedanken fröstelte es ihm. Er musste an seine brisante Fracht denken, die unter seinen Sachen war. Der Passierschein war eine perfekte Fälschung, sein Aussehen soweit verändert, dass er nicht auffiel. Die wenigen Worte, die er hatte sagen musste, waren die einzigen, die er beherrschte. Ein Dialog mit den anderen war unmöglich. Ein Risikofaktor, denn er wusste um die Beobachtung von oben. Auch wenn man sie nicht sah, überall waren Kameras und Sicherheitssysteme. Im ganzen Lager schlichen Soldaten mit ihren Wachhunden umher und machten willkürliche Durchsuchungen.
Erst gestern hatte einer seiner „Kollegen“ nicht so viel Glück gehabt. Er war grade in dem Moment gefilzt worden, als er seine tödliche Fracht hatte verteilen wollen. Er war sofort ohne Zögern erschossen – terminiert wie man so schon sagt – worden.

Der Oberaufseher des Lagers schien auf Urlaub zu sein, denn jetzt war er schon seit acht Tagen hier. Die Baracke war langsam voll, bald würde man keine neuen Arbeiter reinlassen. Die Berichterstatter hatten es leichter als die Arbeiter, da sie nämlich auch eine Art von Soldat waren, hatte sie Sonderprivilegien. Sie durften sich frei im Lager bewegen und tun was sie wollten. Er hatte schon überlegt, seine Fracht einem von ihnen anzuhängen. Dann wäre sein Job erfüllt und er würde nichts riskieren. Aber woher sollte er wissen, dass grade der, den er ausgewählt hatte, in die Hauptleitzentrale gehen würde. Das Risiko war sowieso groß. Die Wachen schienen Verdacht geschöpft zu haben. Er war schon so lange hier und hatte nie einen Dialog mit anderen geführt. Sie hatten ein Auge auf ihm. Die Zeit lief ihm davon.

Aber dann, am neunten Tag kam die Erlösung. Die Wachen kamen mit ihren Hunden in die Baracke und verkündeten den Aufbruch.
„Der Chef ist da. Packt eure Sachen und kommt zur letzten Inspektion. Danach raus!“ befahl der oberste Wachposten. Die Leute in der Baracke packten wie befohlen ihre Beutel und stellten sich in einer Reihe auf. Die Wachen gingen noch einmal mit ihren Hunden vorbei. Die Hunde beschnüffelten alle und schlugen drei Mal an. Die Betroffenen mussten vortreten und ihre Sachen vorlegen. Alle drei waren Invasoren, auf frischer Tat ertappt. Sie wurden sofort terminiert. Dann brach die Kolonne zum Hauptquartier auf. Dort würde es noch einmal einen Check geben und dann würden sie ihre Nachrichten vorlegen. Oder ihre Arbeit aufnehmen.

Er zitterte noch immer wie Espenlaub. Einer der drei, die terminiert worden waren, war direkt vor ihm gestanden. Er wäre beinahe zusammengeklappt als der Hund plötzlich stocksteif gestanden war und geschnüffelt hatte. Er hatte schon gedacht seine Zeit wäre gekommen und hatte nach einer brauchbaren Waffe gesucht. Aber er hatte nichts gefunden. Zum Glück war dann sein Nachbar aus der Reihe gerissen worden. In einer Flasche mit vermeidlichem Kaffee war sein Virus versteckt gewesen. Ein kleiner Datenchip, aber der Inhalt gefährlich. Kein besonders tödlicher, aber ein Schläfer. Im richtigen Moment aufgewacht und schon wäre ein kleines Unglück passiert gewesen.

Jetzt standen sie vor dem Gebäude, dem Ziel ihrer Reise. Einzeln, mit drei Mann als Bewachung, mussten sie ihre letzte Kontrolle über sich ergehen lassen. Alle wurden noch einmal gecheckt, Passierschein, Ausrüstung, private Sachen.
Er war die Nummer neun an dem Tag, als würde es einige Minuten dauern. Direkt vor ihm war ein Berichterstatter mit einem schönen Shirt, das Werbung für eine Internet-Homepage machte. Er hatte ein Klemmbrett unter dem Arm und kaute auf einem Kaugummi. Als die ersten sieben drin waren und Nummer sieben untersucht wurde, drehte sich der Typ plötzlich um. „Was führt dich hier her?“ fragte er. Kein Antwort, wie sollte er auch, er war ja der Sprache nicht mächtig. Er starrte weiter vor sich hin.
„Hey, ich rede mit dir! Was führt die her?“ wiederholte der Typ mit dem Shirt. Wieder keine Antwort. „HEY!“ wiederholte er.
„Me?“ fragte er schließlich. Er wollte nicht die Aufmerksamkeit der Wachen auf sich lenken.
„Ja, dich mein ich! Was führt dich her?“ wiederholte der Typ mit dem Shirt.
„Äh…“ begann er. Aber zum Glück kam eine Wache mit einem Hund hergeeilt. „Hey! Keine Gespräche hier! Nummer acht, du bist dran!“ befahl die Wache.
„Arschloch.“ flüsterte der Typ mit dem Shirt und trat vor. Die Wache sah ihm böse nach und packte ihn dann an der Schulter. „Nummer neun. Du hältst schön die Fresse, klar?“ Er nickte. Was anderes hatte er nie vorgehabt.

Die Prüfung von Nummer acht dauerte nicht lange. Dann kam er dran. Jetzt würde sie zeigen ob seine Tarnung gut war oder ob man ihn blocken würde. Dann würde er einen schnellen Tod erleiden.
Im inneren des Checkpoints stand nur ein Schreibtisch. Er Bürokrat saß dort und wies ihm einen Stuhl zu.
„So, Nummer neun. Sie heißen also Doom.“ sagte der Bürokrat. Doom nickte. „Ich stelle ihnen jetzt ein paar Fragen. Bei Ja nicken Sie, bei Nein tun sie nichts. Sie haben jedes Mal drei Sekunden Zeit zum überlegen. Haben sie verstanden?“ fragte der Bürokrat. Doom nickte.
„Sehr gut. Kommen Sie von einer sicheren Addy?“ Doom nickte.
„Sehr gut. Enthalten sie Werbung?“ Doom schüttelte bestimmt den Kopf.
„Sehr gut. Stehen Sie in Verbindung mit Aufrührern?“ Doom schüttelte wieder den Kopf.
„Sehr gut. Hatten Sie Kontakt mit einem der Aufrührer, die hier waren und terminiert wurden?“ Doom überlegte zwei Sekunden. Er hatte sie gemieden, die Tarnung von denen war bis auf den einen da sehr, sehr schlecht gewesen. Dann schüttelte der den Kopf.
„Sehr gut. Haben Sie vor dem Server irgendwie zu schaden? Auf diese Frage dürfen sie antworten.“ sage der Bürokrat. Diesen Satz hatte er wieder lange geübt. „Ich…ich bin hier um arbeiten. Mehr nicht, ist alles.“ stieß Doom hervor.
„Sehr gut. Solche Leute wie sie können wir immer brauchen. Willkommen.“ sagte der Bürokrat und verlangte die Hand von Doom. Er erhielt eine Markierung, dass er legal hier war. Dann öffnete sich die schwere Tür am anderen Ende des Raums und der Bürokrat führte ihn hin. „Viel Spaß hier. Arbeiten Sie fleißig und Sie werden einmal einen Posten wie ich haben.“ sagte er und lachte. Dann schloss er die Tür wieder.

Doom war am Ziel. Er war in einer Welt aus Schaltkreisen und Energiekopplungen. Er folgte einem Weg, der ihn zur Nachrichtenzentrale führte. Im ganzen System gab es keine Wache, aber sicherlich Spitzel. Also musste er trotzdem vorsichtig sein.
Er trat in die Nachrichtenzentrale ein. Dort kam ihm ein weiterer Arbeiter entgegen. „Ent-schuldigung, ich habe es eilig!“ rief dieser Arbeiter und Stieß Doom weg. Bevor Doom was sagen konnte war er schon weg.
„Jemand hier?“ rief Doom. Aber seine Stimme hallte dumpf im Raum wieder. Er war allein. Böse lächelte Doom. Seine Pupillen drehten sich um neunzig Grad und begannen rot zu leuchten. Er nahm die Kaffeekanne aus seinem Rucksack und schraubte den Boden ab. Im Zwischenraum lag ein kleiner Computerchip. Er suchte den Steckplatz im Nachrichtensystem und steckte den Chip dazu. Er würde nicht auffallen. Dann verband er alle Nachrichtensysteme mit diesem Chip und schaltete ihn an. Langsam trat er zurück und sah sein Meisterwerk an. „Wie ein Gemälde von Van Gogh.“ flüsterte er in seiner Sprache und trat ins Freie. Langsam ging er den Weg entlang. Rund um ihn herum eilten Arbeiter mit Nachrichten hin und her, unwissend was sie da in allen Systemen verteilten. Einige Nachrichten liefen schon nach draußen, vermutlich die letzten. Bald würde das System abstürzen.

Doom kam zu dem Gebäude, das den Eingang darstellte. Der Bürokrat hatte seine Arbeit beendet und kam heraus. „So schnell sehen wir uns wieder.“ sagte er und reichte Doom die Hand. In diesem Moment fiel aber überall das Licht aus.
„Was ist das?“ keuchte der Bürokrat.
„Das ist mein Geschenk an sie.“ antwortete Doom in seiner Sprache. Der Bürokrat würde sie verstehen. „Mein Name ist übrigens 32.mydoom, nicht Mr. Doom. Merken Sie sich das für ihr kurzes Leben, das ihnen noch bleibt.“ Er ließ die Hand des Bürokraten los, der plötzlich nach Luft schnappte. Das Licht sprang gedämpft wieder an. Der Bürokrat und alle anderen lagen nach Luft schnappend am Boden, einige waren schon blau angelaufen.
Das System brach bröckelnd zusammen. Teile brachen von oben herab und begruben das restliche System unter sich. Doom lief pfeifend durch die Trümmer, die rund um ihn zu Boden fielen.

„I’m singing in the rain, just singing in the rain. What a glory…“

mydoom lässt grüßen.
Vielleicht funktioniert so das Eindringen eines Virus in das System, vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall war die Story in der Zeit, in der sie entstand, sehr aktuell. Denn an dem Tag wurde 32.mydoom zwei Mal von meinem Security-System terminiert.
Nicolai Rosemann, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.02.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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