Manfred Gries

Weiße Tischdecken

Irgendwie lief in meinem Leben nichts, wie ich es geplant hatte. Schon als Kind war Bratensoße deshalb eine Horrorvision, weil meine Mutter immer diese weißen Tischtücher unter meinen Teller legte. Alles sah so feierlich aus - vorher. Nachher musste ich mir dann anhören, dass ich mich nicht benehmen kann. Später folgten andere Peinlichkeiten und meine Angst vor weißen Tischdecken wuchs. Heute bin ich erwachsen und habe gelernt mit meinem Leben umzugehen. Aber weiße Tischdecken sind für mich eine Horrorvision geblieben.

Ja, ich habe Kinder gezeugt und Verantwortung übernommen - ich gebe es zu. Und irgendwie hatte ich kein Erziehungskonzept. Wer hat das schon? Stimmt, die meisten Menschen in dieser Welt überlegen sich vorher, wie sie handeln werden, wenn sie Kinder zeugen. Zumindest die Männer. Denn Frauen empfangen - sie zeugen nicht Ich hingegen bin durch meine Kindheit geprägt worden. Folglich gibt es in meinem Haus keine weißen Tischdecken. Allein die Auseinandersetzung mit diesem Problem raubt mir immer wieder den Schlaf. Bis Gestern.

Gestern war ich bei einer Familie eingeladen und es gab Schweinebraten. Man kann sich vorstellen, dass ich vollkommen verängstigt das Wohnzimmer der Gastfamilie betrat, die mich herzlich willkommen hieß. Die “Dame des Hauses“ lächelte mich glückselig an und wies mir einen Platz am Tisch mit der obligatorischen weißen Tischdecke zu. Nebenbei bemerkte ich, dass der “Hausherr“ etwas verschüchtert dreinschaute, lies diesen Eindruck aber nicht wirklich an mich heran. Was nun folgte, veränderte mein Leben komplett. Hans, so nannte die “Dame des Hauses“ ihren Ehemann liebevoll, Hans bat mich, ihm meinen Teller zu reichen. Und wie das in Bayern so üblich ist, legte der “Hausherr“ zwei Semmelknödel auf denselbigen - besser gesagt, er versuchte es. Der erste Knödel rollte knapp am Tellerrand entlang und kam nach einer Rouletterunde in der Mitte des Tellers zum Stillstand - rouge signalisierte mir die Zukunft auf französisch . Leider hatte der zweite Knödel weniger Glück. Und wie die “Dame des Hauses“ später eingestand, war der Verlauf des Geschehens durchaus “normal“. Der Knödel rollte mit zunehmender Zentrifugalkraft über den Tellerrand hinaus und traf die Rotweinflasche, die zufällig in seinem Weg stand. Diese verhielt sich den Gesetzen der Physik entsprechend und leerte ihren Inhalt auf der weißen Tischdecke. Ich sah rot, zum ersten Mal in meinem Leben.

Und das war genau das Erlebnis, das mir all die Jahre gefehlt hatte. Zum ersten Mal ergriff mich das Mitleid - Mitleid mit einem anderen Mann. Die nun folgende Aussprache zwischen ihm und mir erfolgte ohne die Anwesenheit der “Dame des Hause“. Diese war inzwischen damit beschäftigt, das Malheur zu beseitigen. Hans lächelte mich freundschaftlich an. “Wir laden ´nur noch Blamagisten zum Essen ein“, erklang seine Stimme in meinem Ohr. Braune Soßen aus all den Jahren zogen an meinen Augen vorbei und verschwanden in der Gewissheit, dass ich nicht der Einzige bin, dem all diese weißen-Tischdecken-Erlebnisse schwer zu schaffen gemacht hatten.

Heute bin ich frei. Ich kann wieder überall hingehen, ohne Angst. Manchmal habe ich Mitleid mit denen, die verkrampft versuchen, dem Kochwaschgang zu entgehen.

Sich blamieren zu können, ist eine Kunst, die erlernbar ist. Und der Grundkurs beginnt mit einer Einladung bei Hans, dessen Frau waschen kann. Da kann man auch etwas über Erziehung lernen. Und noch so manche andere Dinge, die im Leben von Bedeutung sind. Hans ist übrigens Blamagist, wie ich. Und Nächstenliebe hat er gelernt. sonst würde er mich nicht zum Essen einladen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.02.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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