Thomas Wolf

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14. April 2005, Arecibo (Puerto Rico)
Josef schreckte hoch, als die Tür zu seinem Büro aufsprang und Stacey in den Raum hinein stürmte. Es war kurz vor drei Uhr morgens und Josef war zum zweiten Mal in dieser Woche am Schreibtisch eingeschlafen; er ärgerte sich maßlos darüber, denn die Zeit am Radioteleskop war sowohl zeitlich begrenzt als auch unverschämt teuer. Jetzt aber starrte er die junge Frau an, die ihrerseits mit großen Augen vor ihm herumzappelte. Er wartete, aber alles was Stacey ihm zu sagen hatte war: "Wow!"
"Wow was ?" nuschelte Josef.
Statt einer Antwort hielt Stacey ihm einen Zettel mit darauf gekrakelten Zeichen unter die Nase.
"Wow das."
Josef schob ihre Hand ein Stück von seinem Gesicht weg und entzifferte ,7LQRNF8'
Nun weiteten sich seine Augen und er sprang aus seinem Stuhl.
"Ist das Dein Ernst? Ich bin zu müde für dumme Scherze." Stacey nickte nur.
"Wann? Und wo?"
"Vor zwei Stunden. Im Sagittarius." Die Wissenschaftlerin schluckte kurz, bevor sie fort fuhr: "Und noch mal vor 24 Minuten."
Josef setzte sich wieder. Sein Mund stand offen wie ein Scheunentor.
"Das gleiche Signal ?" Sie nickte. Dann verzog sich ihr Mund zu einem Lächeln und sie sagte: "Klopf Klopf?!"

14. April 2005, Mettmann (Deutschland)
Oliver saß wie so oft an seinem Schreibtisch, der am Fenster des elterlichen Wohnzimmers stand und bückte sich so tief über die vor ihm liegenden Zettel, dass die Haare seines Ponys fast das Papier berührten.
Er schaute nicht auf, als seine Mutter an den Tisch trat und ihm eine Hand auf die rechte Schulter legte.
"Hast Du Hunger, Schatz?"
Da Oliver nicht antwortete, fragte sie erneut. Er schüttelte nur leicht den Kopf und stieß ein "mh-mh" hervor.
"Na gut. Aber in einer halben Stunde hörst Du auf und isst etwas." Die Mutter wusste, das Begriffe wie ,halbe Stunde' oder ,fünf Meter' für ihren dreißigjährigen Sohn keine Bedeutung hatten. Er lebte in seiner eigenen Welt, in der -so stellte sie es sich jedenfalls vor- seine eigenen Vorstellungen von Zeit, Raum und der Welt im Ganzen gültig waren.
Als die Ärzte ihr und Olivers Vater eröffnet hatten, dass ihr Sohn anders als andere Siebenjährige sei und auch nie wie die anderen werden würde, brach für die beiden eine Welt zusammen. Lange hatte es gedauert, bis sie verstanden, was es mit der so genannten Behinderung ihres Sohnes auf sich hatte.
Oliver war ein Inselbegabter. Er würde nie lernen, sich die Schuhe zu binden, eine Hose zu bügeln, geschweige denn ein normales Gespräch zu führen. Aber eines konnte er besser als alle anderen. Die Ärzte hatten ihnen gesagt, dass so etwas typisch sei für Inselbegabte: es gäbe musikalische Genies, die mit acht Jahren schon Symphonien komponierten oder Erwachsene mit phänomenalen Erinnerungsvermögen, so dass sie ganze Bücher nach einmaligen Lesen Wort für Wort aufsagen konnten. Allerdings wüssten sie wohl nicht, was sie da gelesen hatten - sie würden es nicht verstehen.
Und so wie diese Kinder hatte auch Oliver eine Begabung.

Pressemeldungen vom 27. April 2005:
FORSCHER FANGEN AUSSERIRDISCHES SIGNAL AUF (The Times)
NASA UND ESA BESTÄTIGEN DEN KÜNSTLICHEN URSPRUNG DES SIGNALS (FAZ)
VIER TAGE LANG SAGTEN SIE "HELLO" (Washington Post)
Das Signal aus Richtung des Sternbildes Sagittarius wurde vor fast 14 Tagen das erste Mal empfangen und in den folgen 4 Tagen noch 71 Mal aufgezeichnet. Nach Auskunft der ESA handelte es sich bei allen aufgefangenen Sendungen um die Wiederholung des ersten Signals, das eine Dauer von 114 Sekunden hat.
"Aufgrund der Intensität des Signals, die wir in Zahlen von 1 bis 10 und in Buchstaben von A bis Z messen, ist eine natürliche Ursache wie z.B. ein Pulsar absolut ausgeschlossen", erklärte Prof. Dr. Steinmetz, Astronom an der Universität Berkley und Mitarbeiter des JPL. Das Aufsehen erregende sei allerdings die Tatsache, dass das Signal nicht ,nur' aus einem "piep" bestand, sondern eine lange und komplexe Botschaft in einem noch unbekannten Code enthielt. "Es kann Jahre dauern, bis wir auch nur einen Ansatz haben.", so Steinmetz. (Bericht bei BBC World)

November 2009
Überall auf der Welt waren Armeen von Wissenschaftlern fieberhaft mit dem Entschlüsselungsversuch des Signals beschäftigt gewesen. Man hatte keine Kosten und Mühen gescheut, hatte sogar außergewöhnliche Denkansätze in Betracht gezogen. So wurden nicht nur Astronomen, Mathematiker und Chiffrierungsspezialisten darauf angesetzt, sondern man hatte auch Linguisten und selbst Science-Fiction Autoren hinzugezogen, um neue Lösungsvorschläge einzuholen. Was hatte man schon zu verlieren? Doch die gesamte eingesetzte -sowohl natürliche als auch künstliche- Intelligenz hatte keinen Erfolg gehabt. Die Großrechner in Amerika, Europa und Asien spuckten nicht den gewünschten Hinweis auf den Inhalt oder wenigstens auf den Code der Botschaft aus. Langsam aber sicher verlor die Weltöffentlichkeit das Interesse an der einstmaligen Jahrtausendnachricht und die ersten Regierungen begannen, die Gelder für die beteiligten Einrichtungen und Institute zu kürzen. Man hatte nicht den kleinsten Hinweis finden können, was die Botschaft sagen sollte. Eine Begrüßung? Nur ein Funkfeuer? Vielleicht sogar eine Warnung? Für wen war sie überhaupt bestimmt? Ein junger Doktorand aus Sydney, der am Australia Astronomy Institute seit zwei Jahren vergeblich seinen Beitrag zur Lösung zu leisten versuchte, stellte eines Tages die aufgefangene Botschaft ins Internet. Denn. was hatte man schon zu verlieren?

20. Februar 2010, Mettmann (Deutschland)
Der Pfleger wartete erst gar nicht auf ein "Herein", denn er wusste, dass Oliver nichts sagen würde. Also trat er nach dem obligatorischen Klopfen ein und stellte das Tablett mit dem Mittagessen auf die Ecke des Tisches.
"Mensch, Olli. Mach mal ein bisschen Platz und schieb Deine Zettel ein wenig zur Seite."
Oliver schaute hoch, grinste den Pfleger an und sagte: "Fertig."
"Hey, klasse. Womit hast Dich noch mal beschäftigt? Ach ja, die Telefonbücher." Der Pfleger beugte sich hinunter und raunte: "Und? Hast Du das System hinter den Nummern gefunden?"
Olli nickte. Er nickte immer, wenn er eine seiner sich selbst gestellten Aufgaben beendet hatte. Er verschlang Rätselhefte aller Art, aber seine wahre Leidenschaft war etwas anderes. Er liebte Zusammenhänge. Er konnte sich nicht seinen eigenen Geburtstag merken, aber er liebte Schaltpläne von elektronischen Anlagen und Streckenpläne von Fluglinien. Dies waren interessante Zeitvertreibe für ihn, der in seiner eigenen Welt lebte. Aber wirklich aufregend fand er jene Dinge, die scheinbar kein System aufwiesen: zum Beispiel die Anzahl der roten Bücher und deren Verteilung in den Regalen in der Stadtbibliothek, in die er manchmal mit seinem Pfleger durfte. Oder eben die Telefonnummern der Einwohner einer Millionenstadt wie Hamburg. Und er hörte nie auf mit seiner Suche, bis er nicht durchschaut hatte, was wie zusammen hing. Natürlich konnte er niemanden mitteilen, was er herausgefunden hatte, aber das störte ihn nicht. Er bemerkte dieses Handicap wahrscheinlich nicht einmal.
Der Pfleger lächelte, zog einige Seiten gefalteten Papiers aus seiner Gesäßtasche und legte sie vor Oliver auf den Tisch.
"Etwas Neues für Dich, mein Freund. Brandheiß, sag ich Dir. Eine Email von E.T."

12. März 2010, Mettmann, (Deutschland)
"Fertig!", sagte Oliver, als ihm sein Pfleger das Abendbrot ins Zimmer brachte. Er legte seine Notizen zusammen mit den Papieren, die der Pfleger ihm einige Wochen zuvor gegeben hatte, auf die Seite und erwartete grinsend die Mahlzeit. Die hatte er sich verdient.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.03.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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