Julia Russau

Schule

Die Klassentür geht auf.
Tasha steht auf der Schwelle, leicht gebückt und schaut sich unauffällig um.
Ihre Schultasche drückt auf den Schultern und das Frühstücksbrot, mit der fetten Salami liegt ihr im Magen.
Die anderen Kinder toben. Es ist sehr laut.
Sie atmet tief durch.
Ihre Augen mustern den Raum. Sie streift die Tafel, den Schrank mit den Büchern, den blonden Florian, der heute seine neue Jacke trägt, die Aida mit ihren schönen braunen Zöpfen und der hübschen gelben Spange im Haar.
Ihr Platz ist leer.
Für einen Moment hält sie inne und überlegt.
Sie könnte noch mal aufs Klo gehen, denkt sie.
Oder zum Kiosk.
Sie würde später wiederkommen.
Kurz nach dem Klingeln.
Dann würde sie einfach sagen, sie hätte verschlafen.
Das wäre schon nicht so schlimm, denkt sie.
Die Schmidtke würde das verstehen. Bestimmt. Die ist in Ordnung. Die schreit einen wenigstens nicht sofort an.
Ihr Atem geht heftiger.
Unter den Achseln fängt sie an zu schwitzen. Ihre Hände sind feucht.
Sie wischt die Handflächen an ihrer Jeans. Ihre Stirn ist auch ganz nass.
Sie sollte aufs Klo gehen, denkt sie. Oder nach hause. Am besten gleich. Bevor die anderen sie bemerken. Lieber nicht so lange warten. Handeln.
Sie will gehen.
„Wo willst’n du hin?“
Sie bleibt stehen.
Der blonde Florian steht plötzlich vor ihr.
Einen Kopf größer. Mit der neuen Jacke über den Schultern.
Und diesem doofen Grinsen im Gesicht.
Sie erwidert nichts. Sieht ihn nicht an. Senkt ihren Kopf.
Ihr Gesicht ist ganz heiß.

Mist, denkt sie, jetzt bin ich in der Falle. Kann nicht mehr abhauen. Alles zu spät. Muss hier bleiben. Kann nicht mehr gehen.
Mit beiden Händen umklammert sie die Träger ihrer Schulmappe. Atmet noch einmal tief ein. Und setzt langsam einen Schritt nach vorne.
Der Florian versperrt ihr den Weg. Sie schiebt sich an ihm vorbei.
Die anderen Kinder gucken.
Langsam geht sie auf ihren Platz zu. Mit gesenktem Kopf. Ihr Herz klopft.
Die Aida stubst ihre Nachbarin an und kichert.
Ein Junge bläst seine Backen auf und grunzt wie ein Schwein.
„Fette Sau!“ ruft er.
Die anderen lachen.

Sie setzt sich auf ihren Platz. Stellt die Schultasche neben den Stuhl, faltet die Hände im Schoss. Bewegt sich nicht mehr. Bleibt einfach nur sitzen und starrt auf die leere braune Platte. Was sollte sie sonst tun.
Ein paar Mädchen tuscheln.
Der Junge vor ihr dreht sich plötzlich um und spuckt sein zerkautes Stück Brot auf ihren Tisch.
„Hier, Walfisch, haste noch was zu fressen. Kriegst ja eh nie genug!“
Der Junge lacht. Die Aida wiehert vor Freude und hält sich den Bauch. Die anderen grölen.
Tasha schaut nicht auf. Ihr Kopf hämmert. Aber sie schaut nicht auf. Bleibt sitzen und starrt auf den Tisch. Starrt auf das rotzige Stück Brot. Sagt nichts. Starrt nur. In ihrem Hals ein dicker Kloß. Sie könnte heulen.
Der Florian setzt sich neben sie. Groß und erhaben. Grinst noch immer und legt seinen Arm um ihre Schulter.
Tasha zuckt leicht zusammen.
Die Aida schüttelt angewidert ihre schönen langen Zöpfe und verzieht das Gesicht.
„Ih, was fässt’n die an? Das ist ja eklig.“
„Pass auf, sonst wirste noch krank!“ ruft ein Junge von vorne.
Tasha rührt sich nicht.
Der Florian grinst.
Seine Hand gleitet nach unten.
Dann schnappt er sich plötzlich den Saum ihres Pullovers und zieht ihn mit einem Ruck nach oben über Tashas Kopf.
Sie weiß gar nicht wie ihr geschieht.
Ihr ist schwindelig. Ihr Kopf ganz heiß.
Hört nur wie die Klasse vor Freude grölt. Irgendjemand klatscht Beifall.
„Guck dir an wie fett die ist!“
„Ih, ist die abstoßend!“
„Und so kleine Titten!“

Es klingelt.
Tasha zieht den Pullover wieder zurecht. Ihr Gesicht ist dunkelrot. Ihr Kopf pocht unaufhörlich. Vor ihren Augen ein Schleier. Sie möchte heulen. Nur noch heulen. Sie schämt sich so sehr.
Die Lehrerin betritt die Klasse.
Die Kinder hören auf zu lachen. Sehen nach vorne. Nicht mehr zu Tasha. Als wäre nichts geschehen.
Die Lehrerin blickt in die Runde. Für einen Moment ruht ihr Blick auf Tashas rotem Gesicht. Tasha senkt ihren Kopf. Sie schämt sich so sehr.
Die Lehrerin setzt sich.
Sagt nichts.
Schlägt ihr Buch auf. Als wäre nichts geschehen.
Tasha starrt auf den Tisch. Starrt auf das rotzige Brot. Ein paar Tränen kullern ihre heiße Wangen hinab. Fünfundvierzig Minuten Ruhe, denkt sie. Zeit zum Heulen, denkt sie.
In der Pause haut sie hier ab.
Vielleicht kommt sie morgen wieder.
Vielleicht wird alles anders.
Tasha weint.







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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.03.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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