Nase an Nase, Stirn an Stirn. Nur die Scheibe trennt die Beiden. Ihre
Wimpern schlagen dagegen, ihr Atem haucht einen großen, weißen Kreis darauf.
Sie sehen sich in den Augen des Anderen. Sie können sich nur sehen. Sie
können sich nicht spüren. Nicht riechen. Nicht hören. Sie sprechen nicht
dieselbe Sprache. Aber sie können sich verstehen.
Der Mensch hat beide Hände neben sein Gesicht an die Scheibe gelegt. Seine
Haut ist blaß und sein Blick ist starr. Er sieht traurig aus. Er spürt
Tränen in seinen Augen, während er in dieses Gesicht starrt, das seinem
eigenen so ähnlich ist. Es scheint ihm unverständlich, daß dieses Gesicht,
mit dem verständigen Blick durch eine Glasscheibe von seiner Welt getrennt
ist. Der Raum in dem er sich befindet ist klein und grün. Er ist dunkel und
wirkt nicht besonders freundlich. Er verbreitet eine bedrückende, seltsame
Stimmung und der Mensch ist sich nicht sicher, ob das schmerzliche Gefühl in
seiner Brust und in seinem Kehlkopf nicht doch davon ausgelöst wird. Doch
dann sieht er für einen Augenblick sich selbst auf der anderen Seite der
Scheibe und ihm wird so schwindelig, daß er sich auf dem gekachelten Sims
vor sich abstützen muß.
Der Affe ist groß und rot. Er hat ein flaches, breites Gesicht und ein
struppiges Fell. Er sieht traurig aus. Sein einer Arm hängt schlaff
herunter, der Andere trägt eine Hand, deren Zeigefinder auf die Wange gelegt
in Richtung seines Auges zeigt. Was er damit sagen will? Man weiß es nicht.
Er bewegt sich nicht. Nur manchmal hebt sich seine Bauchdecke zu einem
tiefen Seufzer.
Der Raum hinter ihm ist grün gekachelt. Nicht sehr groß und nicht sehr
klein. Es ist kein Raum in dem man sich wohl fühlt , kein Raum in dem man
bleiben will. Nicht zuletzt, wenn man in Augen blicken muß, die wie diese
leer und starr sind. Feuchte, kleine Augen, die einen unverwandt anstarren.
Und in ein Gesicht, daß dem eigenen so ähnlich ist.
Beide sind wie gelähmt. Für einige Minuten scheint die Zeit still zu stehen
und alles um sie herum zu verschwimmen.
Bis die Frau des Affen von hinten an diesen herantritt und ihn behutsam an
der Hand nimmt. Sie zieht ihn weg von der Glasscheibe, und flüstert: „
Quäl dich doch nicht. Ich finde es auch nicht richtig, diese armen Geschöpfe
einzusperren, aber es liegt nicht in unserer Macht, das zu ändern.“
So gehen sie beide zurück in ihr Leben, wandern umher in ihren gekachelten
Räumen und erinnern sich schließlich nicht mehr an den gemeinsamen Moment,
als sie sich an der Scheibe begegneten.
© Claudia Lichtenwald, 05.01. 2002
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.01.2002.
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