Mike Arnold

Aufstieg



Mit jedem seiner schweren Schritte, die ihn den steilen Hügel hinauf führten, schnitt die eiskalte Luft in seine Lunge. Stoßweise ging sein Atem und die weißen Wolken vor seinem Mund wurden von dem Wind weggeweht. Er quälte sich, keine Frage. Doch dachte er an das Ziel, so wurde alles ganz klar, alles richtig und jede Strapaze würde er willig aufnehmen. Kurz hielt er an, richtete seinen vom Rucksack gebeugten Rücken auf und blickte in das weite Tal unter ihm. Fast friedlich floss der Fluss und ward doch nur ein Blinken in der Ferne. Seine Blicke verließen das Tal und wanderten die Gipfel nach oben. Dort wurden Kristalle vom schneidenden Wind weggerissen und fielen nach kurzem Flug dem Boden entgegen. Sie enthüllten dadurch das kalte, steinerne Geheimnis dieser ehernen Gipfel. Wie das Schicksal manchmal die in langen Jahren aufgebaute Hülle eines Menschen verweht und darunter die Seele als steinerner Gipfel dem Lebenshauch nun hilflos ausgeliefert ist. Diesen Panzer, diesen Schutz trug auch er mit sich herum. Gebildet aus langen Jahren des Suchens, der Verzweiflung und der Zwietracht, die er sich selbst ins Herz gepflanzt hatte. Diese Gipfel um ihn herum bildeten einen Kessel, indem er im Mittelpunkt stand. Hier draußen fühlte er sich nackt, ausgesetzt, den Dingen schutzlos ausgeliefert. Dies atmete er ein, dehnte seinen schmerzenden Rücken und begann wieder zu laufen. In seinem inneren brachen Schollen aus Fragen aus dem Gletscher des Selbstmitleids und trieben auf das Zentrum seines Willens zu. Fragen, die er nie gestellt hatte, nie gewagt hatte zu stellen oder durch die eiserne Disziplin des Leidens belanglos wurden. Jeder mühselige Schritt, jeder Meter dem er diese Gipfel abringen konnte, brachte ihn dem tosendem Abgrund näher, den er in der Ferne seines Geistes immer wahrgenommen hatte und den Namen Wahrheit trug. Sein Leben, manche hätten ihn beneidet, ward hundertfach geprüft durch Verlust, Angst und Not.

Ein Stein löste sich unter seinen Füßen und rollte, sich überschlagend in das Tal hinab. Wie dieser Stein nun haltlos war, so war er auch haltlos seit seiner Jugend. Als seine Mutter ihren letzten Atemzug nahm, verzerrte sich ihr Gesicht und er konnte sehen, wie widerwillig sie ging. Nahm sie doch auch seine Seele mit, was ihren Abschied doppelt schwer machte. Sie hatte gewusst, was es für ihn bedeuten würde und in dem Moment ihres Todes, wusste er es auch. Kindheit, im Wald tollend den Stämmen Geschichten erzählend, spielte und lachte er sich durch die Tränen der Nacht. Mit keinem Gedanken, mit keiner Geste hatte ihn das Leben darauf vorbereitet, allein zu sein, allein mit sich selbst und vergessen von der Zeit. Doch Abschied wurde Gefährte, wurde Freund und eine Konstante, auf die er immer zählen konnte. Zu viele Menschen gingen nahm sich ein Stück von ihm, brachen es direkt aus seinem Herz und verschwanden als Schemen in seinen Augenwinkeln.

Endlich erreichte er die Kuppe des Hügels und auch nur dieser kleine Erfolg bedeutete ihm so viel, wie anderen ein erfülltes Leben. Ward er doch nun dem Ziele noch näher. Wie oft er zu den Füßen seines Großvaters gesessen hatte, wusste er nicht mehr. Es war auch nicht wirklich wichtig, sondern die Stunden des Erzählens, des Lauschens und Verstehens hatten sich in seinen Geist ein Refugium geschaffen, aus dem er manchmal seine Kraft nahm, wenn Kraft nur noch ein Wort ward. Am Wegesrand kam der letzte Baum, der letzte Wille der Natur der Höhe ihren Stempel aufzudrücken und dort rastete er einen Moment. In seinen Ohren waren die Worte seines Großvaters, der ihm mit vom Alter gebleichten blauen Augen in die Seele redete. Leben heißt Leiden und der Ursprung des Leidens ist Verlangen. Oh, er hatte viel verlangt, von sich, von anderen, von dem Schicksal. Was er erhielt, war oftmals nur ein Fragment dessen was er wünschte, doch allzu oft musste es genügen. Sein Rücken lehnte gegen die dürre Rinde des ausgelagerten Bäumchens, die so wenig Schutz gegen die Witterung brachte. Seine Rast sollte nicht lang sein, sie durfte nicht lang sein. Dort oben, irgendwo dort oben, war sein Ziel. Dieses Ziel sollte wie ein Schnitt durch Sein Leben gehen. Dort oben, dort oben war Verheißung. Stöhnend und ächzend quälte er sich auf die Füße und begann seinen Marsch erneut. Die kargen Felsen um ihn herum, die scharfen Klüfte und der unsägliche Wind beugten seinen Willen, versuchten ihn klein zu machen, doch dort oben, dort oben war Friede.

Niemals in seinem Leben hatte er Ziele konsequent verfolgt, sondern streifte immer von ihnen weg. Streifte in Träumen, in unerfüllte Hoffnungen und großartigen Siegen, ohne jemals etwas dafür zu tun. Was das Leben verlangte, als Tribut, als Preis, wollte er nie bezahlen. Den bitteren Trunk nie bis zur Gänze in sich aufnehmen, sondern tanzend, auf Sonnenstrahlen reitend, dem Glück entfliehen. Nun war alles anders. Dort oben.

Schritte zählen, atmen, funktionieren. Endlich trinken. Nach langer Zeit, er wusste nicht wie lange, drehte sich der schmale Pfad um einen Grat und dort war sie. Als stille Oase, in den Hang hineingebaut, trotzig und stark. Endlich stehen und seine Augen blickten voll Sehnsucht auf das goldene Licht, das sich auf der Schneefläche brach. Im Westen, dort drohten dunkle Wolken schon Schnee, im taumelnden Gewand des eisig Windes Freund an. Sollte er die letzten Schritte gehen? Sollte all sein Leiden nun ein Ende haben? Furcht kroch ins Gemüt, Furcht vor dem Ende eines Seins. Es wurde so kalt, dass er seinen Mantel enger um sich wickeln musste, um nicht mit den Zähnen zu klappern. Eine Bewegung. Sein Herz, so aufgebrochen, sooft geprüft schlug stark und heftig. Mut sei mein, betete er und ging die letzten Schritte. Als er die Hütte erreichte, klopfte er fast zaghaft an die schwere Tür und doch verrieten Schritte im inneren, dass er gehört worden war. Warmes, wunderbares Licht strömte in die beginnende Dunkelheit und als Silhouette sei er sie. Dort stand sie und wie in seinen Träumen, blickte sie ihn mit ruhigen, festen, unverzagten Blick in die wunden Augen. So bist du doch gekommen, ich wartete schon lang. Nimm dies, um Kälte auszutreiben. Sie machte ein Schritt auf ihn zu, nahm sein Gesicht in ihre Hände und küsste ihn. Mit einem leisen Klick schloss sich die Tür hinter ihnen, er war Zuhause.
Dort oben.
Am Ende des Aufstiegs.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.04.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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