Adolf Wagner

Erinnerungen an die Großeltern

Erinnerungen an die Grosseltern Peter Wagner und Susanna, geb. Mayer.

von Adolf Wagner


Beim Nachdenken erscheint mir die Gestalt des Grossvaters als gross und schlank mit einem guten, gütigen Gesicht. Es war wohl eine Berufung für ihn, Landwirt und Winzer zu sein. Fortschrittliches Denken hat er als Mitbegründer der Winzergenossenschaft Dolgesheim bewiesen. Stolz war er auf die Nr. 7 im Traubenlieferungs-Kontobuch. Die erste Eintragung nennt den 10. Oktober 1911 mit einem abgelieferten Weisswein von 90 Grad Öchsle und einem Literpreis von 43 Pfennig. Wohlgemerkt, man rechnete in Goldmark.Die Zeit vor dem ersten Weltkrieg war auch für die Leute auf dem Lande kein Zuckerschlecken.

Erst 1911 wurde das elektrische Licht eingeführt. Wasserleitungen waren in den meisten Haushalten unbekannt. Gute nachbarschaftliche Verhältnisse waren einfach ein Muss. Oft waren die Erntearbeiten durch nasse Herbste, aufgeweichte Feldwege und Felder sehr erschwert. Man half sich gegenseitig aus, indem der Nachbar ein Pferd vorspannte. Nach getaner Arbeit sass man oft abends beim Licht einer Petroleumlampe mit zünftiger Hausmannskost und einigen Gläsern Wein, vielleicht auch pfeiferauchend noch lange zufrieden nach einem gelungenen Arbeitstage zusammen. Das lebensnotwendige Wasser für Mensch und Tier wurde aus einem tiefen Brunnen, der sich unmittelbar neben der Haustüre befand, entnommen. Einige Meter entfernt stand eine grosse gusseiserne Pumpe, die mit einem dicken Bleirohr die Verbindung herstellte. Der Pumpenschwengel war an einer Stelle dünner und silbrig blank. Regelmässiges Wasserpumpen seit Generationen war die Ursache dafür. Man hat das Brunnenwasser verwendet zum Kaffee- oder Suppekochen, zum Durstlöschen, zum Waschen, einfach für alles. Dieser Brunnen war bis heute noch nie ohne Wasser. Alle Vorfahren, die seit dem Jahre 1563 auf dem Anwesen ihr Leben verbrachten, wären ohne diese Wasserstelle nicht lebensfähig gewesen. Ein lustiger Vergleich mit der heutigen Zeit ist die natürliche Unkompliziertheit unserer Vorfahren. Bei einer Inspektion des Brunnens stellte man so nebenbei fest, daß im Brunnenschacht auch Nacktschnecken und Kröten ihre Anwesenheit demonstrierten. Das störte überhaupt niemanden. Das Wasser war ein köstliches Nass und alle die davon genossen hatten, erreichten ein hohes Alter und den Arzt kannte man nur vom Hören und Sagen. Die Getreideernte wurde mit der Sense bewältigt, gedroschen wurde mit dem Dreschflegel. Die Körner trennte man mit einer von Hand betriebenen Windmühle von der Spreu. Diese Arbeiten begann man oft im Winter bereits morgens um vier Uhr. Diese Tätigkeiten verlangten eine für heutige Verhältnisse unvorstellbare Kraft und Ausdauer. Modern ausgedrückt waren die meisten Landleute durch diese, ein Leben lang begleitenden Anforderungen an den Körper, durchtrainierte, gesunde Menschen. Auf dem Hofe lebten zeitweise drei Generationen unter einem Dach. Alle Arten von Viehzeug füllten alle möglichen Ställe, Ecken und Räume mit Leben. Selbst Mücken, Eulen, Mäuse und Ratten waren nichts besonderes. Eine beneidenswerte Zeit, so dicht mit allem Natürlichen leben zu können. Das Wort "Urlaub" war in dieser Zeit unbekannt.

Auch Grossmutter Susanna wird wohl nicht aus der Erinnerung weichen, zu leidvoll war ihr Lebensweg. Sie entstammte einer christlich geprägten Niersteiner Bauern- und Winzerfamilie. Die in der Kindheit und Jugend angenommene Lebensart hatte sie bis zu ihrem Lebensende beibehalten. Den ersten Schicksalsschlag musste sie erleiden, als ihr einziger Bruder im Alter von fünfzehn Jahren beim Schwimmen im Rhein ertrank. Der Ehe mit Grossvater Peter Wagner entsprossen vier Kinder. Ein Mädchen verstarb im Säuglingsalter an Diphterie. Drei gesunde stramme Jungen waren der Mittelpunkt und die Freude der Familie. Mein Vater Karl erzählte manchmal Episoden aus dieser Zeit, als sie einen Wettkampf austrugen, indem sie Tomaten über das Scheunendach warfen. Damals wusste man nicht, dass man diese auch essen konnte.

Die Söhne wurden erwachsen und widmeten sich der Landwirtschaft. Sehr vielseitig interessiert war Johann, genannt Jean, der älteste. Er zeigte fast professionelle handwerkliche Fähigkeiten als er ein Bienenhaus baute, mit einer grossen Zahl von sehr modern und praktisch eingerichteten Bienenkästen. Er befasste sich intensiv mit der Imkerei und züchtete Bienen. Nur einmal stand er mit seinen Schützlingen, auf Kriegsfuss, als sie ihm so viele Stiche verpassten, dass er bewusstlos am Boden lag. Dann kam die Zeit, in der nicht nach Familien und Menschen gefragt wurde, die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Alle drei Söhne hatten eine zweijährige, sehr harte militärische Ausbildung hinter sich gebracht, als der Krieg ausbrach. Ludwig, genannt Lui, und Johann wurden als Infanteristen zusammen mit Karl, der auf einer Artillerieschule in Berlin ausgebildet war, gleichzeitig an die Westfront abkommandiert. Für die Grosseltern bedeutete dies eine kaum zu bewältigende Situation. Sie ahnten schon, was kommen sollte.

Als erstes sei das Schicksal von Sohn Johann herausgegriffen. Die Stellungskriege und Materialschlachten an der Westfront wurden mit einer bis heute nicht erreichten Härte und Grausamkeit geführt. Bei einem Feuerüberfall der französischen Artillerie, erlitt Johann Wagner eine lebensbedrohliche Verletzung. Er war verschüttet und wurde mit schwersten Kopfverletzungen vom Schlachtfeld getragen. Von seinen Kameraden als tot angesehen, erwachte er nach wochenlangem Koma, als ein Mensch ohne Gedächtnis, das er bis zu seinem Tode nicht wieder erlangte.

Ludwig Wagner, ein sehr aufgeschlossener, sportlicher junger Mann, war bei seinen Kameraden ein überaus beliebter, weil umsichtiger Freund und Vorgesetzter. Durch langjährige Fronterfahrung geprägt, hat er so manchem Kameraden das Schlimmste erspart. Nach Monaten grausamster Grabenkämpfe, in französische Kriegsgefangenschaft geraten, wurde er kurze Zeit später von einer deutschen Granate in Stücke gerissen. Gerade 27 Jahre alt ist er geworden. Niemand konnte ihn zur letzten Ruhe betten, es gab ihn nicht mehr. Sohn Karl hatte schlimme Zeiten an der Westfront erlebt und wurde dann in den Osten abkommandiert. Immer wieder hat er von der Kurischen Nehrung erzählt und von der Zeit, als er auf einem Kanonenboot Dienst tun musste, das den Pregel befuhr.

Noch einmal davon gekommen, bekam er einige Zeit nach dem Ersten Weltkrieg eine Anstellung als Volontär auf dem landwirtschaftlichen Gut der Stadt Frankfurt in Goldstein. Der verlorene Krieg zog auch eine Besatzungszeit durch die Franzosen nach sich. Das Gut Goldstein war besetzt. Es waren durchweg farbige Soldaten, die in der französischen Kolonialarmee ihren Wehrdienst ableisten mussten. In diesem Fall waren es Senegalesen. Gern erinnerte sich Sohn Karl an diese Zeit, an die Soldaten, denen er jeden Tag begegnete, an die Spässe, die sie zusammen machten und an manchen feinen Kerl, der darunter war. Jetzt stand wieder eine tiefgreifende Änderung bevor. Grossvater konnte die Arbeiten in der Landwirtschaft nicht alleine bewältigen und bat seinen Sohn Karl, nach Hause zu kommen.

Sohn Johann, der nach einiger Zeit körperlich in der Lage war, in seinem Elternhaus zu leben, konnte nicht mehr betreut werden. Er hatte zu sich und der Umwelt keine Beziehung mehr, er hatte sein Gedächtnis verloren. Es war selbstverständlich, dass er als Schwerkriegsgeschädigter vom Staat auch als solcher geführt wurde. Während der NS-Zeit wurden ihm alle Rechte aberkannt und sein Vermögen von fünfzehn Morgen Ackerland eingezogen. Eine Himmelschreiende Demütigung.

Eine starke Erinnerung an meine Kindheit sind die Gedanken an die Sonntage, an denen mein Vater Akten wälzte, Schreiben an die Behörden schickte oder beantwortete. Es gab Gerichtsverhandlungen ohne Ende. Hochachtung gegenüber den ehemaligen Regimentskameraden, Ludwig Kleinkauf und Georg Weiss, die freiwillig vor Gericht und unter Eid aussagten, Augenzeugen gewesen zu sein, als Johann Wagner als tot angesehen vom Schlachtfeld getragen wurde! Aus einem frohen und gesunden jungen Menschen war ein Wrack geworden. Mein Vater konnte diese Ungerechtigkeit nicht zulassen und hat die fünfzehn Morgen Ackerland zurückgekauft. Die zusätzliche finanzielle Belastung hat er versucht zu verkraften, indem er neun Jahre lang zusammen mit dem Nachbarn die Milch abfuhr.

Nicht vergessen sind auch die Tage, an denen mich Grossmutter mitnahm, ihren Sohn zu besuchen, der in der Heil- und Pflegeanstalt in Goddelau lebte. Es ist schwer nachzuvollziehen, was eine Mutter fühlt, die nur stumm ihrem Sohn gegenüber sitzt. Er starb im hohen Alter in Heidesheim, von Gott und der Welt verlassen. Die einzige Erinnerung an einen liebenswerten Menschen, der nichts wollte, als zu leben, steht im Garten seines Elternhauses. Es ist eine fast hundertjährige Linde, die er in der Blüte seiner Jahre für seine Bienen pflanzte.


Die Büste des ehemaligen Präsidenten Abraham Lincoln im Weissen Haus ist das Werk von dem deutsch-amerikanischen Bildhauer und Freund Albert Schweitzers, Lui Mayer. 1957 wurde Lui Mayer in der evangelischen Kirche zu Dolgesheim von Dr. Albert Schweitzer getraut. An diesem Tage wurde mein Vater an seinen gefallenen Bruder Ludwig Wagner erinnert. Lui Mayer war es, der ihn über die Taufe hob.

Grossmutter lebte nach dem Tode ihres Mannes, der Mitte der dreißiger Jahre starb, ein ruhiges, stilles Leben. Sie hielt sich hauptsächlich in ihrem Zimmer auf. In klarer Erinnerung sehe ich auf der Fensterbank eine abgegriffene Bibel liegen. Obenauf ein Buch des berühmten Fliegerpioniers Charles Lindbergh. Es lässt sich nur vermuten, wie oft sie dieses Buch gelesen hat. Die Leistung dieses Mannes kann wahrscheinlich nur ein stark vom Glauben geprägter Mensch vollbringen. Dies war wahrscheinlich der Hauptgrund der Ehrfurcht und Hochachtung, die sie diesem Mann zollte.

Auch ein Portrait einer hübschen jungen Frau an der Wand hat seinen Ehrenplatz. Die Gesichtszüge, die unglaublich dunklen Augen, lassen eine verblüffende Ähnlichkeit mit Grossmutter erkennen. Das Kleid ist geziert von einem grossen weissen Kragen, der eine Menge kunstvoll gestickter chinesischer Schriftzeichen beinhaltet. Es war ihre Patin Susanne Walldorf, die vor dem politischen Umschwung in China als Missionarin tätig war. Mit Bewunderung erzählte sie mir von den Reisen ihrer Patin nach China über den Landweg mit dem Trans-Sibirien-Express und deren Erlebnissen unterwegs. Susanna Wagner starb gegen Ende des zweiten Weltkrieges im Alter von achtzig Jahren.

Mit der Anschaffung eines leistungsfähigen Motorrades im Jahre 1955 hatte ich endlich die Möglichkeit, auch meine Interessen wahrzunehmen. Mit meiner Frau als Sozia unternahm ich eine Tour nach Frankreich. Eine schon immer vorhandene Schwäche für dieses einmalige Land mit seinen Menschen war der Antrieb. Zudem hatten wir Briefkontakt mit einem französischen Lehrerehepaar in Paris. Ausser Paris und Versailles stand auch Reims auf dem Programm. Verdun lag sowieso auf dieser Strecke und war eigentlich der wichtigste Punkt auf dieser Reise. Die Fernverkehrsstrasse über Chalon sur Marne durch das Pariser Becken kam uns endlos vor. Ungewöhnlich starke Seitenwinde und Regenschauer machten ein Weiterfahren unmöglich. Zum Glück schafften wir es bis zu einem einsamen, grossen Bauernhof und stellten uns dort unter ein Dach. Nach kurzer Zeit entdeckte uns der Hofbesitzer und wir hatten beide viel zu berichten. Er erzählte von seiner Zeit als französischer Kriegsgefangener in Deutschland und stolz war er auf seinen 600 Morgen grossen Hof mit modernen Freiluftställen. Für den Eigenverbrauch hatte man 90 Kaninchen. Sehr freundschaftlich verabschiedeten wir uns und ich höre noch heute seine Stimme als er uns lachend nachrief, nicht gegen einen Baum zu fahren. Am Abend kamen wir - das Regenwasser stand uns in den Schuhen - in Paris an. Wieder hatten wir Glück. Eine Seitenstrasse mit mehreren Hotels war der Anlass abzusteigen. Ich bat meine Frau wegen Üernachtungsmöglichkeiten nachzufragen. Aus Sicherheitsgründen blieb ich bei dem Motorrad. Kurz darauf wurde ich von einem jungen Mann angesprochen, weil er an Hand des Nummernschildes meine Herkunft erkannte. Nach kurzem Gespräch erklärte ich ihm, warum ich hier wartete. Seine erste Reaktion war, dass er sich halb tot lachte. Ich hatte meine Frau in ein gewisses Etablissement geschickt. Auf schnellstem Wege wurde die Angelegenheit bereinigt. Der junge Mann stammte aus Köln und studierte in Paris. Er wohnte bei einer älteren Dame, die ein kleines Hotel betrieb, wo wir unterkamen.

Die Erinnerungen der Kriegsveteranen 1914-1918 waren so gravierend, dass es für mich fast ein Muss war, mich näher damit zu befassen. Wenn man Fort Duamont mit dem Beinhaus besucht hat, kann man nur ahnen welche Tragödien damit verbunden waren. Der Bayonettgraben, im Original erhalten, zeigt Infanteristen mit aufgepflanztem Seitengewehr und zum Sturmangriff bereit. Von einem Granatvolltreffer verschüttet, in der Körperhaltung, in der sie vom Tode ereilt wurden. Nur die Bayonette ragen aus der Erde. Die Schlachtfelder von Verdun und an der Somme werden wohl ewig mahnen. Es gibt Gebiete, in denen bis heute nicht einmal Gras wächst. Erich Maria Remarque beschreibt in seinem weltbekannten Buch ,.Im Westen nichts Neues" drastisch Szenen, in denen hunderte zerfetzter Leiber in der Sonne liegen, die Luft voller Mücken und Verwesungsgeruch. Beide Seiten errechneten bis zu 18 Granateinschläge pro Quadratmeter. Man hatte den Toten keine Ruhe gelassen. Wochenlang, monatelang wurden die Schlachtfelder immer wieder von Granaten umgewühlt. Man verlässt diese Stätten des Grauens mit einem leeren Kopf und findet keine Worte. Was übrig bleibt, ist ein abgrundtiefer Hass auf die Hauptverantwortlichen, die sich anmassten, aus sicherer Entfernung millionen junger Menschen in den Tod zu schicken.

Ich habe diese nicht gerade erfreulichen Schilderungen eingeflochten, weil ich glaube, es meinen Vorfahren schuldig zu sein.

Die Anregung zum Aufschreiben und Festhalten dieser Geschichten bekam ich beim Betrachten alter Fotos.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.01.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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