Anne C. Erbacher

Die Taverne von Tortuga

Es war später Abend in Tortuga und die Straßen und Gassen füllten sich mit Piraten. Es waren die übelsten Kerle darunter, hartgesotten und abgebrüht, nur auf der Suche nach dem letzten, dem neuesten Höhepunkt von Vergnügen. Branntwein allein genügte ihnen nicht mehr, es musste schon so viel sein, dass sie Delirien bekamen und bewusstlos zusammenbrachen. Eine Stunde bei einer Hafendirne hatte längst ihren Reiz verloren, die Huren musste schon außergewöhnliche Künste auf Lager haben, wenn sie einen dieser Männer zum Kunden wollten, und viele Bukanier sahen sich nicht einmal mehr nach ihnen um, sondern suchten sich etwas anderes, etwas was ihnen noch liederlicher und sündhafter erschien: junge Männer, noch jüngere Sklavinnen, als letzten Höhepunkt Schiffsjungen oder Söhne von Tavernenwirten, möglichst unberührt und selten älter als dreizehn oder vierzehn, die in irgendeinen ungestörten Winkel gezerrt wurden und dort der Gier und der Geilheit der Bukanier ausgeliefert waren. Die verzweifelten Schreie und das schmerzerfüllte Weinen der hilflosen Jungen war inzwischen fast schon ein vertrautes Geräusch und ihr grenzenloses Leid regte niemanden mehr sonderlich auf. Und immer noch war das vielen zu wenig, je länger sich die Leute von Tortuga daran gewöhnten, umso gieriger suchte man nach einem Ersatz, nach dem letzten, dämonischen, ungezügelten und barbarischen Höhepunkt, nach dem Abgründigsten, nach dem Höchstmaß, das noch nicht zur Gewohnheit gehörte, das einen noch mit dem Reiz des Verbotenen kitzelte. Als eines Tages unter der Hand das Gerücht aufgekommen war, dass in einer Taverne am Hafen ein junger Matrose getötet und als Leckerbissen zubereitet worden sei, war diese Spelunke über Nacht zum beliebtesten Treff der einschlägigen Banden geworden. Endlich hatte man gefunden, was alle gesucht hatten, auch wenn es nicht zu bekannt werden durfte. Es gab genug Piraten, die sich trotz aller Härte vor dieser neuesten Entwicklung ekelten und die mit den Tavernenwirten kurzen Prozess gemacht hätten. Nein, die Spelunken, die unter der Hand als Geheimtipp gehandelt wurden, waren nur etwas für harte Kerle, für echte Bukanier! Für solche wie die, die an diesem heißen und schwülen Abend durch die verfallenen Gassen im Hafenviertel schlenderten. Niemand beachtete sie und kaum jemandem fiel der etwa elfjährige Junge auf, den sie zwischen sich führten. Hübsche junge Beute, die man gut in einem einschlägigen Haus loswurde, vielleicht auch nur ein Liebchen für ein paar Stunden, irgendwann am nächsten Tag würde dann jemand den Kleinen in einem Winkel zwischen ein paar Kisten finden, besinnungslos, halbtot, wie andere schon vor ihm. Irgendwer würde sich seiner dann schon annehmen, würde ihm vielleicht sogar ein Dach über dem Kopf und ein paar Kunden für die nächste Nacht verschaffen, wer sollte also heute nach dem Kleinen fragen!
Die drei Bukanier bogen in eine Seitenstraße ab und hielten schließlich vor einem alten, windschiefen Haus, dessen Türschild besagte, dass es sich bei ihm um die Taverne zum einarmigen Mann handelte. Einer der Männer öffnete die Tür und betrat mit den anderen die Schankstube. Es war ein düsterer, schäbiger Raum mit fleckigem Fußboden und abgestoßenen, groben Möbeln. Hinter dem Schanktisch stand ein massiger, plumper Mann mit einer speckigen Schürze und musterte die Ankömmlinge von oben bis unten.
"Zimmer oder Küche?" fragte er schließlich leise.
"Was?"
"Wollt ihr ein Zimmer um euch den Kleinen mal so richtig ungestört vorzunehmen oder wollt ihr ihn bei mir versilbern?"
"Wir hatten eine schlechte Fahrt und brauchen Geld. Der Käpt'n hat bestimmt, dass wir alles verkaufen, was sich entbehren lässt. Der Kleine hier ist gesund und gut gehalten, der Sohn vom Steuermann, kein halb verhungerter Schiffsjunge. Wie viel würdet Ihr für ihn zahlen, Wirt?"
"Was sagt sein Vater zu dem Verkauf?"
"Wen interessiert das? Der Kleine ist zuviel an Bord und wir brauchen Geld, keine unnötigen Esser. Das Wohl der Mannschaft geht vor, das ist die Order vom Käpt'n. Also: wie viel ist Euch der Kleine wert?"
Der Wirt musterte den Jungen gründlich, streckte seine Hand aus, riss das Hemd ein Stück weit auf, fühlte ihm abschätzend über Brust und Arme.
"Nicht viel dran an ihm. Wie alt ist er?"
"Elf Jahre und ein paar Monate, Wirt!"
"Elf erst? Nun gut, wenigstens noch ganz jung; die Jüngsten haben immer noch ganz zartes Fleisch! Also gut: ein Goldstück - höchstens!"
Einer der Bukanier streckte die Hand aus.
"Her damit!"
Eine Münze blitzte kurz im schwachen Schein der Laterne auf, als sie ihren Besitzer wechselte. Dann drehte sich der Wirt halb um und rief einen Befehl über die Schulter. Kurze Zeit später erschien ein hochgewachsener, breitschultriger Mann in einer blutig bespritzten Schürze und abgetragenen Kleidern.
"Ihr habt gerufen, Herr?"
Der Wirt nickte und deutete auf den Jungen.
"Elf Jahre alt, gut gewachsen, kaum Fett. Los, nimm ihn mit, Behandlung wie üblich!"
Der Mann, offensichtlich der Knecht oder der Koch, nickte nur, packte den totenblassen, vor Entsetzen stummen Jungen am Arm und zerrte ihn hinter sich her. Irgendwo im Hintergrund schlug eine Tür mit einem dumpfen Krachen zu. Die Bukanier verließen das Wirtshaus und hatten den Jungen schon auf halbem Weg vergessen. Der Wirt drehte sich um und ging seinem Hausknecht hinterher.
Er schloss die Tür und zog den Jungen hinter sich her, durch einen düsteren, halb verfallenen Durchgang in eine kleine Kammer und deutete auf einen Holzzuber, der in einer Ecke stand und zur Hälfte mit Wasser gefüllt war.
"Zieh' dich aus und steig ´rein!" befahl er knapp. Der Junge zögerte einen Moment, bevor er sein eingerissenes Hemd öffnete und es sich über den Kopf streifte.
"Die Hosen auch!"
Der Junge wurde blutrot und nestelte verlegen an seiner Hose. Der Wirt schüttelte den Kopf.
"Brauchst dich nicht zu schämen, du bist nicht der erste Junge, den ich ohne Hosen sehe. Los, rein in den Zuber, oder muss ich nachhelfen?"
Der Kleine senkte den Kopf und stieg in die Wanne. Das Wasser war warm und der Junge wehrte sich nicht mehr gegen den festen Griff des Mannes, der seinen Körper gleichgültig abseifte und abtrocknete und ihm schließlich eine Hose und einen Kittel aus dünnem Leinen reichte.
"Hier, Junge, zieh' das an! Jetzt schau' mich nicht so an, verdammt, du brauchst dich nicht fürchten, ich werde dir nicht weh tun, wenn's so weit ist! Schau' nicht so, Kleiner - hast du überhaupt einen Namen?"
Der Junge nickte leicht.
"Ich heiß' Johnny." erwiderte er tonlos, "Johnny Mulholland." Der Wirt legte ihm eine Hand auf die Schulter.
"Komm jetzt mit! Ich bring' dich zu den anderen!"
Sie gingen den Flur zurück und der Wirt öffnete die Tür zu einer anderen Kammer. Johnny wich erschrocken zurück und presste mit einem unterdrückten Aufschrei eine Hand auf den Mund. Der Raum war nicht groß und nur sehr spärlich eingerichtet. Auf den groben Holzbänken, die sich die Wände entlang zogen, saßen etwa zwölf Jungen im Alter von etwa zehn bis vierzehn Jahren. Sie trugen alle Kittel in der Art wie Johnnys, ihre Füße waren mit Eisenringen an die Mauer gekettet und fast alle schauten bleich und gefasst vor sich hin. Einer hatte sein Gesicht an der Wand verborgen und seine Schultern zuckten, als würde er weinen, ein zweiter bewegte lautlos die Lippen: anscheinend betete er. Der Wirt bedeutete Johnny, sich ebenfalls zu setzen und schloss ihn mit einem der Fußringe an der Mauer fest. Johnny biss sich auf die Lippen um nicht laut aufzuschreien. Die Tür fiel krachend ins Schloss, die Jungen waren wieder allein.
Johnny warf einen Blick in die Runde und wandte sich schließlich an den Jungen neben sich.
"Was geschieht jetzt mit uns?"
Der Junge zuckte die Schultern.
"Wir warten. Irgendwann wird einer der Kunden dein Fleisch begutachten, wird dich auswählen und der Knecht bringt dich fort. Das ist alles, was wir wissen. Doch nun schweig, wir mögen nicht darüber nachdenken, bevor es geschieht!"
Johnny nickte stumm. Er versuchte, die Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen, doch es gelang ihm nicht. Auf einmal packte ihn das Grauen und er biss sich auf die Fingerknöchel, um nicht laut zu schreien. Dann lehnte er seinen Kopf an die kalte Wand und begann, lautlos zu schluchzen...

"Wie alt ist der Junge?"
Johnny schrak hoch. Ein massiger, brutal aussehender Bukanier stand im Raum und deutete auf den Jungen neben ihm.
"Dreizehn," erwiderte der Wirt, "aber gut gehalten."
Der Bukanier befühlte prüfend einen der Arme und nickte dann.
"Hm. Wenig Fett, fühlt sich eher an wie gutes Fleisch. Könnte wohl mein Geschmack sein!"
"Wie wollt Ihr ihn?"
"Gebraten und schön saftig. Und als Vorspeise Zunge in einer würzigen Soße!"
Johnny blickte scheu hinüber, das Gesicht des ausgewählten Jungen war bleich und starr, in den entsetzt aufgerissenen Augen standen Tränen, die ihm jetzt langsam über die Wangen liefen und der Mund war zum stummen Schrei geöffnet. Der Kunde achtete nicht darauf, er kratzte sich nur nachlässig über seinen speckigen Schmerbauch und verließ die Kammer wieder. Kurze Zeit später kam der Knecht durch die Tür und schloss den Jungen los.
"Wehr' dich nicht!" sagte er leise dazu, "Es hilft dir nichts, es macht dir alles nur schwerer!"
Er legte dem Jungen eine Hand auf den Rücken und schlug die Tür hinter sich zu.
Johnny konnte nicht sagen, wie lange er dort gesessen und geweint hatte. Erst jetzt begriff er, was ihm geschah und was ihm noch geschehen würde. Irgendwann war er so erschöpft, dass er in einen unruhigen Halbschlaf sank.
"Der Kleine da sieht gut aus!"
Eine rauhe, mitleidlose Stimme riss ihn aus seiner Dämmerung. Vor ihm stand ein hochgewachsener Pirat mit hartem Blick und musterte ihn prüfend, streckte seine grobe Hand aus und befühlte prüfend den Arm des Jungen.
"Ich hab ´n Blick dafür: bestimmt nicht älter als elf Jahre und der Kleine hat zartes, gutes Fleisch, ein hübscher Leckerbissen, wenn man wochenlang nur Schiffszwieback und Trockenfleisch gehabt hat! Los, Wirt, fangt an, ich will fein geröstetes, zartes Fleisch, ohne Sehnen und ohne Knochen, und ich will es bald!"
Der Wirt nickte dienstfertig.
"Setzt Euch nur in die Schankstube, ich werde sofort an die Arbeit gehen!"
Kurz darauf kam der Hausknecht wieder in den Raum und öffnete den schweren Eisenring um Johnnys Fuß.
"Komm jetzt!" ordnete er an, "Und schau nicht so, Junge, es geht rasch und tut nicht weh!"
Johnny wimmerte nur leise.
"Warum habt Ihr kein Mitleid mit mir?" fragte er heiser, "Laßt mich doch laufen, bitte..."
Der Knecht schwieg, zerrte ihn nur auf den düsteren Gang. Jetzt schluchzte der Junge auf, begann zu weinen, umklammerte den harten Arm, flehte um Erbarmen. Der Wirt kam aus der Küche, ging an ihnen vorbei zur Schankstube, warf nur kurz einen Blick auf die beiden.
"Nimm ein wenig Chloroform," wandte er sich an den Knecht, "und betäube den Jungen etwas, bevor du beginnst. Sonst schreit er am Ende noch die Nachbarn herbei!"
Der Knecht nickte und stieß Johnny grob vor sich her in die Küche. Mit einem lauten Krachen fiel die schwere Tür ins Schloß...

Der Bukanier saß in der verlotterten Schankstube vor einem Becher Portwein und blickte um sich. Sein Blick streifte das löcherige Papier, das statt einer Gardine vor die Fensterscheiben geheftet war, die Flecken von Fett und Wein auf dem Tisch, die Gäste, die sich an der Theke und an den Tischen drängten. Zwei von ihnen trugen gerade ein Saufduell aus, ein paar würfelten, einer hatte den etwa dreizehnjährigen Sohn vom Wirt auf seine Knie gezogen und strich jetzt kosend über die schmale Hüfte. Der Junge lächelte nur; ein oberflächliches, achtloses Lächeln, das nicht verriet, ob ihm diese Berührung angenehm war oder nicht. Der Bukanier am Tisch beobachtete seinen Berufsgenossen mit einem Anflug von Interesse, sah zu, wie er vorsichtig seine Hand unter das abgetragene Hemd des Jungen schob und die weiche junge Haut darunter berührte, sah zu, wie der Junge seinem Kunden einen koketten Blick zuwarf und sich auch diese Berührung ohne Aufbegehren gefallen ließ. Irgendwann standen die beiden auf, der Bukanier drückte dem Wirt verstohlen etwas golden Schimmerndes in die Hand und der Wirt deutete auf eine Stiege im Hintergrund. Einer der Männer an der Theke lachte auf.
"Ich wette, der Kleine da ist da unten noch so glatt wie ein Babyhintern!" rief er dem Kunden lachend zu, "Eine Guinee, gilt die Wette?" Der Kunde lachte jetzt ebenfalls.
"Meinetwegen! Du siehst aus, als könntest du eine Guinee verschmerzen!" Seine Hand zwängte sich in die Hose und strich begutachtend über das schmale Hinterteil des Jungen.
"Na los, Kleiner," fuhr er mit gesenkter Stimme fort, "Mal sehen, was du so kannst!"
Der Bukanier am Tisch kicherte mitleidlos in sich hinein. Der Kunde schien heute wirklich keinen guten Tag zu haben! Die Wette hatte er zumindest schon verloren, soviel war mal klar; der Bukanier wußte es aus eigener Erfahrung. Und normalerweise waren die Söhne von Tavernenwirten so zimperlich wie alte Jungfern. Wußten, daß ihr Vater Hausrecht hatte und jeden Kunden, der nicht nach ihrem Geschmack war, allemal auf die Straße werfen konnte, wenn sie laut genug schrieen.
Der Hausknecht kam. Stellte einen Teller vor ihn hin und wischte sich die fettigen Finger in seiner blutbespritzten Schürze ab. Ein köstlicher Geruch stieg von dem Teller auf: helle, fein gebratene Fleischstücke lagen in einer duftenden Soße vor dem Bukanier. Daneben eine gebackene Batate. Er schnitt ein Stück von dem Fleisch ab und kostete. Es war ganz jung, ganz zart, innen weiß, außen gut zubereitet. Der Pirat dachte an die schlanken und doch angenehm gerundeten Arme des Jungen, den er ausgewählt hatte, und nahm noch ein Stück Fleisch. ,Höchstens elf', dachte er; wenn sie erst begannen, heranzuwachsen, verlor ihr Fleisch bald an Zartheit! Wie schade, daß er nicht dabeigewesen war, als der Knecht den Kleinen geschlachtet hatte... Es war etwas, was man nicht alle Tage gesehen hätte, und er hätte es seinen Kameraden in allen Einzelheiten schildern können, hätte Beifall und Bewunderung geerntet: ein echter Kerl, der sich traut, dabei zuzusehen, ein richtiger Bukanier, gnadenlos und kalt, kein Salonpirat! Er stellte sich die Küche vor, das Feuer, das schon auf dem Herd prasselte, das blasse ängstliche Gesicht des Jungen, als der Knecht zu ihm kam und seinen Kopf etwas zurückbog, das breite Messer, das mühelos durch den weichen Hals drang, das warme Blut, das auf den Boden spritzte und dort eine Lache bildete, dunkelrot wie verschütteter Port... Das letzte Wimmern, das letzte Ringen nach Luft, den Knecht, der das Fleisch abbalgt, von den Knochen löst, fein würzt und über das Feuer hängt - nichts für zarte Gemüter, nichts für Feiglinge, nur etwas für echte Kerle! Er aß weiter, spülte mit Portwein nach. Hinterher würde er sich den Schankjungen auf eine Stunde kaufen, dachte er, der Kleine hatte anscheinend nichts zu tun, lief nur mit einem nassen Lappen herum und versuchte, die Tische etwas sauberer zu kriegen. Aber noch war es nicht so weit, erst war das Essen dran! Ein so zarter Junge wurde nur selten angeboten, man mußte sein Fleisch genießen! Der Bukanier tunkte noch einen Bissen in die Soße und ließ seine Blicke dabei wohlgefällig über den hübschen Schankjungen gleiten.
Der Hausknecht stand an der Tür und tat so, als würde er sich umsehen. Seine Gedanken wanderten zurück, überdachten die letzte Stunde...

Die Küchentür fiel ins Schloß und Johnny wischte sich verstohlen über das nasse Gesicht. Er spürte die breite Hand, die auf seinem Nacken lag und jetzt leicht darüber strich. Wenn es doch nur schnell ging, dachte er, wenn doch nur einer Mitleid mit ihm hätte und es rasch zum Ende brachte, dafür sorgte, daß er sich nicht länger als nötig quälen müßte! Sein Blick fiel auf die Küchengeräte, auf das schwere Beil, das im Holzbock steckte, auf das scharfe und breite Messer neben dem Schleifstein. Wie würde der Knecht es tun? Würde er ihm den Kopf abhauen, würde er ihm die Kehle durchschneiden, würde das Messer ihm ins Herz dringen? Er wollte schreien, wollte sein Entsetzen und seine Todesangst hinausschreien - doch das Grauen lähmte ihm die Stimme, er brachte nichts heraus, als ein hilfloses Wimmern, ein winziger Laut, kaum mehr als ein angsterfülltes Aufseufzen. Er spürte, wie der Mann, der dazu bestimmt war, ihm das Leben zu nehmen, stehenblieb.
"Was ist denn?" fragte der Knecht jetzt leise. "Fürchtest du dich so sehr?"
Johnny antwortete nicht, schluchzte nur hilflos.
"Ich mag nicht sterben!" flüsterte er schließlich, "Es ist so schrecklich schwer..."
Der Hausknecht beugte sich über ihn.
"Du hast es wirklich geglaubt." stellte er ruhig fest, "So wie die meisten anderen Jungen auch. Du armer Kleiner! Hab jetzt keine Angst mehr - es geschieht dir nichts!"
Johnny blickte erstaunt hoch.
"Weder der Wirt noch ich bringen es über uns, einen wehrlosen und unschuldigen Jungen zu schlachten," erklärte der Knecht sanft, "und wir tun es auch nicht. Es gibt auch andere Wege, die Kunden zufrieden zu stellen. Nein, nicht mehr fürchten, mein kleiner Junge, ganz ruhig! Wir haben es einmal versucht - der Wirt und ich - ganz zu Anfang. Ich sollte es tun, aber ich habe es nicht über mich gebracht, der Junge war noch so klein und hat mir so schrecklich leid getan und ich hab geflennt wie ein Baby. Da wollte es der Wirt tun, er hat den Kleinen mitgenommen in die Küche und ich bin fortgelaufen und hab mich in einem Winkel verkrochen und mir die Ohren zugehalten wie ein kleines Kind. Nach einer Weile, als ich dachte, es sei alles vorüber, bin ich in die Küche gegangen. Der Wirt saß auf einer Bank und er hatte den Kleinen im Arm, diese kleine, zitternde, verängstigte Handvoll Leben, und strich ihm tröstend über das Haar, hielt ihn an sich gedrückt, sprach beruhigend auf ihn ein - wir haben ihn laufen lassen, am nächsten Morgen, was sollten wir auch anderes tun... Komm schon, mein kleiner Junge, nicht mehr fürchten, es ist ja schon gut, es geschieht dir nichts..."
Der Knecht beugte sich über Johnny und zog ihn behutsam an sich, strich ihm sanft über die verweinten Augen und Wangen.
"Trink etwas," bat er sanft, "und iss ein wenig, dann kannst du dich schlafen legen. Ich gebe dir gleich ein Hemd für die Nacht - und sieh her, dort liegen deine Kleider. Du kannst sie morgen wieder tragen." Er nahm einen Napf aus dem Regal, füllte ihn mit Suppe und stellte ihn auf den Tisch. Dann holte er einen Becher mit frischem Wasser und stellte ihn dazu. Johnny senkte den Kopf und nahm zögernd ein paar Löffel Suppe. Plötzlich wurde er kreidebleich.
"Mir's übel!" flüsterte er. Der Hausknecht griff rasch nach einer Schüssel und hielt ihm den Kopf darüber. Er wartete geduldig, bis Johnny sich übergeben hatte, wischte ihm das kleine, feuchte Gesicht und den Mund ab, setzte ihm den Becher mit dem Wasser an die Lippen und gab ihm zu trinken.
"Ist dir jetzt besser?" fragte er. Der Junge nickte zögernd.
"Bleib noch etwas sitzen, wenn du magst, du kannst mir zusehen, bis du müde wirst. Ich lasse dir die Suppe stehen, vielleicht bekommst du doch noch Hunger..."
Johnny antwortete nicht, sah nur apathisch zu, wie der Knecht ein frisches, ausgenommenes Hühnchen von einem Haken an der Decke nahm und mit kundiger Hand zerteilte. Ein Hühnchen... nur ein Hühnchen...- Erst jetzt begriff er, daß er wirklich gerettet war, daß er nicht sterben brauchte, daß er am Leben bleiben würde, statt gespießt über dem Feuer zu rösten - Johnny ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken und schluchzte hemmungslos und erleichtert, weinte, bis der Knecht zu ihm trat und ihm einen Becher Branntwein an die Lippen setzte. Der scharfe Fusel verwirrte ihm die Sinne, nur noch aus weiter Ferne nahm er es wahr, daß der Knecht ihn in ein weiches Leinenhemd hüllte, ihn eine Stiege hinauftrug, ihn schließlich behutsam auf einen Strohsack sinken ließ und ihm eine warme Decke über die Schultern breitete...
Es war mitten in der Nacht, als Johnny erwachte, schreiend, angsterfüllt und mit heftig schlagendem Herzen. Was für ein schrecklicher Traum! Ein Traum von rohem Fleisch, von Blut und von Jungenkörpern, die an einem Spieß über dem Feuer rösteten... Das Entsetzen schüttelte ihn. Um ihn her schmale Lagerstätten mit reglosen Körpern - schliefen sie oder waren sie tot...? Die Tür öffnete sich, zwei Hände griffen nach ihm und erstickten die Entsetzensschreie.
"Kleiner..." flüsterte eine ruhige Stimme, "Was ist denn... nicht fürchten, es ist ja schon gut..."
Die Hände strichen ihm beruhigend durch das Haar, über den Nacken, ein ums andere Mal. Johnny weinte wieder, hemmungslos, erleichtert und verzweifelt zugleich.
"Vater!" stieß er zwischen den Tränen hervor, "Ich will zu meinem Vater! Ich will zurück aufs Schiff! Ich will heim - bitte, laßt mich gehen! Ich fürchte mich so sehr, ich fürchte mich, bitte zwingt mich nicht, hierzubleiben!"
Er schluchzte wie ein kleines Kind, klammerte sich wie ein Ertrinkender an den Mann, der ihn hielt, redete zusammenhanglos auf ihn ein, bat, flehte, beschwor ihn. Endlich hörte er den Mann in der Dunkelheit seufzen und spürte, wie er versuchte, ihm aufzuhelfen.
"Ja, mein Junge, ja," flüsterte der Mann und Johnny erkannte jetzt die Stimme vom Hausknecht, "du hast ja recht! Ja, du sollst nicht hier bleiben. Komm jetzt mit mir, das Weitere findet sich dann!"
Der Knecht führte Johnny hinunter in die Küche, wo das Feuer fast gänzlich heruntergebrannt war. Er wies den Jungen an, sich auf die Bank neben dem Herd zu setzen, dann holte er eine Flasche aus der Speisekammer und goß ein wenig von dem Inhalt in einen Becher.
"Trink jetzt erst einmal!" forderte er den Jungen auf, "Es ist ein Rest guter Port, der wird dich etwas kräftigen und beruhigen. So - und jetzt sage mir, wohin du willst, dann bringe ich dich bei Tagesanbruch dorthin."
Johnny trank gehorsam, dann sah er hoch.
"Mein Vater ist Steuermann auf der ,Lazare', sie liegt im Osthafen. Übermorgen wollen sie die Anker lichten und wieder auf Kaper fahren."
Der Knecht nickte.
"Dann bringe ich dich morgen zur ,Lazare'. Magst du noch etwas schlafen? Du mußt morgen früh aufstehen und bis zum Osthafen ist es ein ziemliches Stück zu laufen!"
Johnny schwieg.
"Du kannst in meiner Kammer auf der Bank schlafen, wenn du dich dort oben fürchtest!" beruhigte ihn der Knecht. Der Junge nickte nur stumm, der Port und die große Aufregung davor hatten ihn müde gemacht. Er spürte kaum noch, wie ihn der Knecht hochhob und in die Kammer trug, irgendwo hinlegte und eine Decke über ihn breitete. Und schon bald war er in einen ruhigen Schlaf gefallen.

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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Anne C. Erbacher).
Der Beitrag wurde von Anne C. Erbacher auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.04.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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