Klaus-D. Heid

American Lifestyle

Das Fenster ist speerangelweit geöffnet. Ich liege bewegungslos auf dem Boden meiner Wohnung und sehe, wie der Wind dicke Schneeflocken in das Zimmer bläst. Mit jedem Atemzug tanzt die Luft wie ein lebendiger Nebel vor meinen Augen und lässt mich fast vergessen, wie ernst meine Lage ist. Ich weiß, dass ich auf gar keinen Fall einschlafen darf! Sobald ich mich in den verlockend drängenden Schlaf fallen lasse, sterbe ich. Mein Unterbewusstsein suggeriert mir, dass es ein wunderschöner Tod wäre. Es redet mir immer intensiver ein, dass ohnehin jede Hoffnung erloschen sei. Warum sollte ich also nicht die Augen schließen, um mich in eine bessere Welt treiben zu lassen? Meine Wohnung ist im vierten Stock dieses Hauses, in dem niemand bemerken wird, was gerade mit mir geschieht. Wer weiß, wann mich findet? Es können Wochen vergehen, bis mich irgendjemand vermisst. Und? Ist es dann nicht besser, wenn man diese Situation sanft und schmerzlos bereinigt? Es ist so einfach! Die Augen schließen – und friedlich einschlafen...

Aber noch ist es nicht soweit, dass ich mich aufgebe! Wenn ich mich nur ein wenig bewegen könnte! Nur ein kleines bisschen! Zumindest soviel, dass ich die wärmende Decke greifen kann, die nur zwei Meter von mir entfernt auf der Couch liegt – aber trotzdem unerreichbar weit weg ist. Meine Gliedmaßen ignorieren den Befehl des Gehirns. Längst hat die Kälte dafür gesorgt, dass meine Arme und Finger nichts anderes sind, als tiefgefrorene Fleischstücke.

Eigentlich habe ich mir mein Ende schon etwas anders vorgestellt. Ich habe immer gedacht, dass ich eines Tages an Krebs, einem Herzanfall oder einem Schlaganfall sterben werde. Irgendwie habe ich ganz fest damit gerechnet, einmal im Bett zu sterben. Dass es nun der Fußboden meiner Wohnung ist, auf dem ich meine letzten Gedanken denke, irritiert mich. Mit siebenundzwanzig Jahren erfriert man nicht in seiner Wohnung! So etwas gehört sich nicht! Wenn man schon so früh abtreten muss, dann soll gefälligst ein Autounfall daran schuld sein.

Obwohl es eine vollkommen verrückte Überlegung ist, freue ich mich darüber, dass ich keine Schmerzen mehr verspüre. Dieses grausame Brennen, das sich wie Feuer auf meine Haut gelegt hat, ist verschwunden. Natürlich weiß ich, dass es die Erfrierungen sind, die mir Erleichterung vorgaukeln. Ich habe schon oft gelesen, was es bedeutet, wenn der Schmerz des Erfrierens nachlässt. Ich weiß, dass es nur noch Minuten sein werden, die ich lebe. Nur noch wenige Minuten trennen mich davon, das Geheimnis des Todes zu lüften. Was wird kommen? Nichts? Eine andere, vielleicht bessere Welt? Irgendeine Form von Himmel und Hölle? Eine andere Dimension? Eine Parallelwelt, in der ich einfach weiterleben werde, als hätte es diesen Moment des Sterbens nie gegeben?

Noch bis vor ein paar Minuten habe ich geglaubt, dass die Kälte meine Lungenflügel zerreißt! Ich konnte spüren, wie sich mein Brustkorb mit jedem Atemzug hob und senkte. Entweder atme ich mittlerweile dermaßen flach, dass ich nichts mehr davon wahrnahm – oder ich wahr bereits tot! Ich konnte aber noch nicht tot sein, weil noch immer Schneeflocken vor meinem Gesicht tanzen.

Wie kalt mochte es draußen und hier drinnen sein? Minus zwanzig Grad? Kälter? Wie lange hielt ich es schon in dieser verdammten Kälte aus, ohne mich dem Drängen meines Unterbewusstseins zu ergeben? Warum stelle ich mir diese Frage überhaupt? Ist es nicht egal? Die einzige Frage, die mich zu interessieren hat, lautet doch wohl: wie lange werde ich noch am Leben sein? Was kann ich tun, um nicht kampflos zu sterben?

Vielleicht schaffe ich es zumindest, mich Millimeter für Millimeter in Richtung Couch zu bewegen. Wenn ich mich anstrenge, habe ich unter umständen noch den Hauch einer Chance, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen...

Da ist der Schmerz wieder! Verdammter Schmerz! Schon der Versuch, mich zu bewegen, hat den Schmerz geweckt, der mich längst im Reich der Toten glaubte. Erzürnt, mich noch immer unter den Lebenden zu finden, kehrt er nun mit monströser Intensität zurück, um mich für das Nichttodsein zu strafen. Und wie er mich straft! Meine Glieder scheinen auseinander zu reißen. Meine Haut verwandelt sich in einen Kriegsschauplatz, auf dem Bomben und Handgranaten explodieren. Es ist ein Gefühl, als würden Abermillionen winziger Glasscherben auf die Haut niederprasseln, die sich fest vorgenommen haben, mich in unzählige Einzelteile zu zerschneiden.

Aber gleichzeitig ist es eben ein Gefühl...

Solange ich fühle, lebe ich! Solange ich Schmerz empfinde, bin ich nicht tot. Wenn ich noch nicht tot bin, habe ich die verdammte Pflicht, zu hoffen! Wenn ich hoffe, muss ich kämpfen! Wenn ich kämpfe, ist das Ende offen, du beschissenes verfluchtes Unterbewusstsein! Du freust dich zu früh! Einen kleinen Moment wirst du dich noch gedulden müssen, bis du mich eingelullt hast. Wenn nur dieser wahnsinnige Schmerz nicht wäre. Wenn ich meine verbliebene Energie nur nutzen könnte, um irgendwie diese lächerlichen zwei Meter bis zur Decke zu erreichen! Mit der Decke hatte ich zumindest eine kleine Chance, das Erfrieren um einige Minuten herauszuzögern. Nun kämpf schon, Du Bastard! Wenn du aufgibst, hast Du verloren. Du bist zu jung. Du bist einfach noch nicht an der Reihe, abzutreten! Also reiß Dich gefälligst zusammen – und zeig Deinem Körper, wer das Sagen hat. Wenn Du ein paar Jahrzehnte älter wärst, könntest Du vielleicht auf ein erfülltes Leben zurückblicken. Dein Abschied vom Leben wäre dann nicht so ungerecht und überraschend, wie bei einem Mann, der den Großteil seines Lebens noch vor sich haben müsste.

Kämpfe, Du Schlappschwanz! Kämpfe, wenn Du nicht in ein paar Augenblicken so hartgefroren sein willst, wie ein Eiswürfel! Wenn Du es nicht schaffst, muss man Dich erst auftauen, bevor Du in einen Sarg passt! Oder man wird dir die gefrorenen Knochen brechen, damit die Leichenträger Dich verstauen können. Hörst du schon, wie die Knochen brechen? Hörst Du das Geräusch? Ja? Es ist ein gnadenloses Krachen und Knirschen, nicht wahr?

Kann es sein? Höre ich jetzt schon das Auseinanderbrechen meiner Knochen und Gelenke?

„Das war gar nicht mal schlecht, Mr. Fisher! Aber ich denke, wir sollten nun wirklich Schluss machen! George? Sorg bitte dafür, dass Mr. Fisher reanimiert wird, ja? Ich fürchte, wir haben eventuell ein paar Sekunden zu lange gewartet! George? Ist mein Gesicht in Ordnung? Ja? Gut. Dann können wir jetzt auf Sendung gehen. Ich will aber, dass die Reanimation life gesendet wird; ist das klar?“

„Klar, Chef! Sie sind jetzt auf Sendung. Drei, Zwei, Eins... und los!“

„Hallo, meine lieben Zuschauer! Hier ist wieder Ihr Karl W. Burns. Nach der Werbung melden wir uns nun wieder zurück mit ‚Adventure Home Games’, dem Spiel um Leben und Tod, bei dem Sie life erleben können, zu was normale Bürger wie Sie und ich, fähig sind. Und? Hat es Mr. Michael Fisher geschafft? Hat er den Einzug in die nächste Runde erreicht? Zur Zeit wird Mr. Fisher noch wiederbelebt – aber schon in ein paar Sekunden werden wir alle wissen, ob er in der nächsten Woche die Chance bekommt, um eine Million Dollar spielen zu können! Fragen wir also ganz schnell unseren guten George, ob Mr. Fisher in die Favoritenrunde einziehen wird. Na, George? So, wie es aussieht, sieht’s aber gar nicht gut für unseren Mr. Fisher aus, oder? Hat die Reanimation nichts gebracht?“

„Wir haben echt alles versucht, Mr. Burns. Ich kann also feststellen, dass Mr. Fisher hiermit das Spiel verloren hat. Er wird nicht in die Favoritenrunde einziehen, da er mausetot ist!“

„Ladies und Gentleman!

Sie alle haben es gehört und gesehen! Nächste Woche bekommt also wieder ein neuer Kandidat bei ‚Adventure Home Games’ die Gelegenheit, eine Million Dollar einzustreichen! Schalten sie wieder ein, wenn einer von Ihnen das Glück herausfordert! Und was wird in der nächsten Woche passieren? Nun, liebe Zuschauer, in der nächsten Woche wird sich ein ganz normaler Bürger so lange wie möglich gegen ausströmendes Gas zur Wehr setzen. Wieder wird unser Kandidat gefesselt werden, um jedes Schummeln und Mogeln zu unterbinden. Bis dahin wünschen wir Ihnen viel Vergnügen bei der nun folgenden Show ‚Ich trau mich was! Ich hacke mir vor laufender Kamera einen Finger ab!’ mit meinem geschätzten Kollegen Nigel Myers!

Tschüß!“

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