Manfred Gries

Vom Verzeihen - Das fünfte Vaterunser

Geprägt von der christlichen Grundhaltung unseres Abendlandes war Pierre Horatius mit dem Begriff ´Vergebung´ seit frühester Kindheit vertraut. Vergebung bedeutet “fünf Vater unser beten“ - so sagte der Pfarrer nach der Beichte und Pierre kniete nieder auf jener harten Holzbank und tat seine Pflicht. Das erste war für die gestohlenen Äpfel des Nachbarn - “...und vergib uns unseres Schuld“, gestand Pierre einsichtig. Dass er seinen Freund als Idioten bezeichnet hatte, war ihm weniger einsichtig und er betete weiter “...wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“. Die Fünf in Religion war wieder einsichtig verdient und Pierre gestand “... und führe uns nicht in Versuchung.“ Pierre begann zum vierten Mal “Vater unser...“. Diesmal ging es um die Eltern. So recht einsehen konnte er ihre Maßnahmen manchmal nicht. Zugegeben, Gehorsam war ein Wort, das er nur mit Vorsicht genoss. “Unser täglich Brot gib uns heute...“ verknüpfte Pierre die Eltern mit seinem Versagen - das passte noch am besten. Denn, wie Vater immer zu sagen pflegte: “Solange du deine Füße unter meinen Tisch steckst...“ - er sagte ´meinen´, nicht ´unsern´. Mutter spielte für Vater in diesem Moment keine Rolle - sie stand auf Pierres Seite. So endete das vierte Vaterunser mit dem Gedanken Pierres, dass Vater ein Chauvinist sei. Lächelnd sprach er den Satz: “Denn dein ist das Reich und die Macht und die Herrlichkeit“, während sein Grinsen unverkennbar chauvinistische Züge annahm.

In diesen Gedanken erwischt, begann Pierre sein fünftes Vaterunser konzeptlos. Er hatte vergessen, für welche Sünde es eigentlich stand. Zurück in den Beichtstuhl konnte er nicht mehr - da kniete schon der nächste reuige Sünder. Und Vergebung hatte er ja schon ausgesprochen bekommen, also. Also begann Pierre zum fünften Mal, “Vater unser, der du bist im Himmel...“. Sorgfältig untersuchte er den gesprochenen Text, der leise durch die Kirche schlich, auf irgendeinen Hinweis, der ihm seine Sünde ins Gedächtnis rufen könnte. So gelangte er Stück für Stück zum abschließenden Bekenntnis. “Denn dein ist das Reich und die Macht und die Herrlichkeit, in Ewigkeit, Amen“. Das Grinsen war der offenen Frage gewichen, die Pierre mit sich ins Leben nahm. Wozu war dieses fünfte Vaterunser gut gewesen?

Jahre später, Vater war verstorben und Mutter alt geworden, kniete Pierre Horatius auf einer Bank in einer kleinen Kapelle. Erinnerungen tanzten im Licht der zahlreichen Kerzen, die die Besucher des Gotteshauses angezündet hatten. Pierre betrachtete jede einzelne nacheinander. Ganz vorne links entdeckte er seinen Vater im Kerzenschein, der jetzt im Himmel war. Sicher, er war ein Chauvinist gewesen, und doch war es sein Vater. Kerze für Kerze wanderte durch Pierres Seele. Die Unachtsamkeiten, Lieblosigkeiten, Beleidigungen - alles, was Pierre gesammelt hatte im Laufe der Jahre . erschienen im Kerzenschein vor seinen Augen. Eine große Last, die andere auf in gelegt hatten und die er den anderen nicht verzeihen konnte. Er war im Recht und selbst die Kerzen stimmten ihm zu. Sie fuhren fort, Bilder in die Stille zu malen, Bilder aus dem Leben Pierres. Und mit den Bildern erschien die Wut vor seinen Augen - Wut gegen all diese Frevler, die sein Leben bestimmt hatten. Wer hatte ihnen das Recht dazu gegeben?

Pierre verließ nach der 25. Kerze die Kapelle. Am liebsten hätte er sie alle ausgeblasen - so wütend war er in diesem Moment. Aber was hätte es geholfen? Die Last wäre nicht von ihm gewichen - sie hätte sich nur im Dunkel seiner Seele versteckt. Und so schloss Pierre die kleine Pforte der Kapelle hinter sich. Noch einmal zurückblickend schaute er auf die Inschrift über dem Eingang. “Pater noster...“ stand dort geschrieben - “Vater unser...“. An diesem Abend fand Pierre den Grund für das fünfte Vaterunser. Es war die Last, die er in der Zukunft auf sich laden würde bis zu jenem Abend, den er gerade erlebt hatte. Noch einmal versuchte er die kleine Pforte zu öffnen, die er gerade verschlossen hatte. Aber sie blieb verschlossen. Er hatte sich selbst verzeihen können.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.05.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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