Werner Kistler

Die Rettung eines Engel

Noch zwei Haltestellen, dann war ich endlich daheim. Ratternd fuhr die alte Straßenbahn, auch
“Feuriger Elias“ von den Menschen hier in der Gegend genannt, in den kleinen Bahnhof ein.
Ein fürchterlicher Schlag warf die Bahn fast aus den Gleisen und ein Kreischen ließ die
Fahrgäste fast zu Tode erschrecken. Wir hatten an diesem unbeschrankten Bahnübergang ein Auto erfasst.
Gerade dort vorne wo ich saß und bis dahin so vor mich hin döste, schleifte die Tram ein Auto vor sich über die Gleise. Noch immer war dieses schleifende- und kreischende Blechgeräusch zu hören. Der schwere und alte Zug hielt einfach nicht. Nun war es plötzlich still - ganz still! Nach einer
ganzen Weile öffneten sich die Türen und jeder wollte aus diesem eiserner Kasten fliehen. Draussen
konnte man nun das ganze Ausmaß der Katastrophe überblicken. Ein Puffer der Bahn hatte sich von der
Fahrerseite bis fast auf den Beifahrersitz des PKW durch gedrückt. Auf dem Beifahrersitz sah ich nur
blonde, wirre Locken, die wohl zu der Unglücksfahrerin gehörten.
Wie ich die steile Böschung herunter gekommen war, wuste ich nicht mehr. Aber nun stand ich vor diesem gespenstigen Blechhaufen und bekam die verbeulte Tür nicht auf.Hundert Augenpaare glotzen auf das Geschehen und keiner tat etwas. Ich brüllte die stierende Masse an, aber keiner bewegte sich.
Das kleine Seitenfenster konnte ich nach außen biegen. Somit war die Fensteröffnung breiter. Das Fenster war eh schon zerstört.Ich konnte die Verletzte fassen und versuchte die Frau durch das ver-
breiterte Fenster zu ziehen. Aber meine Kräfte reichten nicht aus. Noch einmal brüllte ich die gaffende Meute an. Ein junger Mann löste sich aus der Gruppe, sprang auf die Gleise und gemeinsam
zogen wir die Fahrerin aus dem Blechhaufen. Helfende Hände streckten sich uns entgegen und gemeinsam
brachten wir die Verletzte auf sicheren Boden. Die Unglückliche sah auf der einen Seite wie ein Engel
mit goldenen Locken aus, aber die andere Gesichtshälfte bot ein schreckliches Bild. Tiefe Schnitte und
Furchen durchzogen die Haut.
Jeden Tag besuchte ich die Kranke im Krankenhaus. Half ihr über ihre Depressionen hinweg und verhalf
ihr wieder den Glauben an das Leben. Nur noch kleine Pigmentveränderungen erinnern an den Tag. Heute
sind wir längst verheiratet und wir feiern jetzt dreimal im Jahr Geburtstag.
Werner Kistler

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