Werner Kistler

Der Onkel Josef

Schon wieder quoll mein Briefkasten über. Alles nur Werbeprospekte. Plötzlich fiel ein weißer Brief-
umschlag aus dem wüsten Haufen bunter Prospekte heraus. Aber wer sollte mir schon schreiben. Bestimmt wieder nur eine Rechnung. Alle wollten sie nur immer Geld haben. Ich hob das Schriftstück auf und las den Absender. Seit wann schreibt mir ein Notar? Nachdem ich den Umschlag geöffnet hatte, steigerte sich mein Unverständnis noch mehr.Zu einer Testamentseröffung wurde ich eingeladen. Wer war denn da gestorben? Auf Anhieb fiel mir niemand ein, der etwas zu vererben hatte. Sie waren alle arme Schlucker, die liebe Verwandschaft. Niemals hätte ich an Onkel Josef gedacht. Galt er doch in unserer Verwandschaft als etwas kauzig und bettelarm.
Zum Termin hatte ich meinen besten Anzug angezogen und nun betrat ich die Kanzlei. Da war ja auch Onkel Albert und Tante Klara. Wir begrüßten uns herzlich. Hatten wir uns doch schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.
Nun begann der Notar mit der Eröffnung des Testamentes. Onkel Albert sollte das Bargeld erhalten, dass in einer Tonne lag, die auf dem Speicher des Hofes von Onkel Josef stand. Und ich sollte die ganze Behausung erben. Einen Bauernhof, Vieh und Ländereien. Als ausgewachsener Städter einen Hof. Mir wurde es ganz schwarz vor den Augen.Den ganzen Heimweg versuchte ich das Erlebte zu verarbeiten.Da gab es meine gut bezahlte Arbeitsstelle, meine Ehefrau, die eine ausgesprochene Stadtpflanze ist.Kinder die zur Schule gehen. Dagegen stand ein Hof mit Kühen, die gemolken und gefüttert werden müssen und Feldern die bestellt und abgeerntet werden. Daheim hielt ich den Ball flach und unterrichtete meine Familie ganz behutsam. Die Kinder waren sofort Feuer und Flamme. Meine Frau war anderer Meinung. Man könnte den Hof ja verpachten oder das Erbe ablehnen. Nach zähen Ringen entschlossen wir uns dann doch, den Hof einmal zu besichtigen. Die Versorgung der Tiere hatte ein freundlicher Nachbar übernommen.
Nun standen wir vor der Adresse und keiner sprach ein Wort. Die armselige Hütte konnten wir nicht finden. Wir standen vor einem Agrarbetrieb. Große Hallen säumten links und rechts der Straße, den Weg. Einen vorbeikommenden Mann fragten wir verdutzt nach dem bäuerlichen Anwesen unseres Onkels. Der Angesprochene schaute uns an und fing an zu lachen und meinte, wir würden schon auf dem Gut unseres Verwandten stehen.“Haben wir nicht vorgestern zusammen telefoniert? Der Betrieb hat sich schon etwas vergrößert!“ Er reichte uns seine Hand und führte uns durch die Hallen. Unsere Kinder hatten Spass.
“Hier muss eine richtige Hand das Unternehmen führen. Ich bin nicht nur der Nachbar, sondern auch
der Verwalter. Einer muss sich um das kaufmännische Geschäft kümmern.“ Da war ich als gelernter Kaufmann ja an der richtigen Stelle. “Natürlich- und den Rest lernen sie bei mir.“ Der
Verwalter war jetzt so richtig im Element. “Übrigens ihr Onkel Albert hat gestern seine Geldtonne
abgeholt. Hatte ganz schön zu schleppen an dem Ding. Er hat gemeint da wäre Gold drinnen. Aber der
Onkel Josef hat gerne die Leute über das Ohr gehauen und hat dann alle Mehrerträge in die Tonne ge-
steckt. Sie wäre bald voll gewesen. Er war halt ein lustiger Vogel, der Josef!“
Werner Kistler








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