Thomas Schäfer

Der Ohrwurm

Heute fuhr ich seit langem mal wieder Fahrrad. Die Dinger machen mir einfach Angst, nicht unbegründet, wie ich betonen möchte. Jedoch war das Wetter die letzten Tage so schön, dass ich nicht umhin kam, eine gewisse Sehnsucht nach diesen Teufelsdingern zu entwickeln. Fahrtwind, der einem um die Nase weht, und diese kleinen Fliegeviehcher mit unaussprechlichen Namen, die es trotz aller Gegenmaßnahmen immer wieder schaffen, sich ihren grausamen Weg in die Öffnungen des menschlichen Körpers zu bahnen und dazu auch noch furchtbar in den Augen brennen, haben schon einen gewissen Reiz, dem sich einfach kein Mann entziehen kann.
Also machte ich mich an die Arbeit, und grub meinen alten Esel unter Tonnen von Unrat aus der hintersten Ecke der Garage. Schrecklich lange hatte er dort unbeachtet sein Dasein gefristet. Ich überwand meine innere Abneigung, putzte ihn, das heisst, eigentlich nur den mittlerweile knochenharten Sattel, leidlich sauber, und begab mich wie ein Irrer radelnd vor die Grenzen der Stadt. Keuchend, meines Alters und der Schmerzen in der Schrittgegend langsam bewusst werdend, geschah es dann.
Ich weiß nicht wie, ich weiß nicht warum, aber plötzlich lichtete sich der Schleier der Vergangenheit, und mir wurde eine schmerzhafte Erinnerung allzu bildhaft bewusst. Nun wusste ich wieder genau, warum ich so ungern Fahrrad fuhr.
Ich muss wohl 14 oder 15 gewesen sein, ein Alter, in dem die anderen schon ihre erste Freundin hatten. Oder auch die zweite, was weiß ich. Ich hatte mein Fahrrad, das war mir genug. Mein Fahrrad und ich, wir waren schon zwei dicke Kumpel. Bis zu jenem Tag.
Ich war gerade auf dem Rückweg vom See. Die Sonne brannte wie verrückt und ich schwitzte, dass es nicht mehr feierlich war. Ich hatte gerade einmal die Hälfte der 15 Kilometer Heimweg geschafft. 15 Kilometer! Wie debil muss man eigentlich sein, wärend des absoluten Hochsommers und in einer unerträglichen Gluthitze freiwillig soweit Fahrrad zu fahren?
Jedenfalls lief zu dieser Zeit wohl auf jedem verdammten Fernsehsender “Flipper“. Wie ich diese Serie hasste, ich war eh der Meinung, die Menscheit wäre schon ein großes Stück weiter, wenn sich dieser Delfin, so wie viele seiner Artgenossen, mal anständig in einem Thunfischnetz verfangen würde. Dann wäre endlich Schluss gewesen mit diesem Spuk. Aber nein, Tag ein Tag aus lief “Flipper“. Hoch und runter, von morgens bis abends. Immer dieser mir verhasste Delfin.
Und dieses Titellied! Kaum machte man den Fernseher an, hatte man einen Tinitus. Gegen den Komponisten wollte ich, sobald ich Volljährig wäre, eine Klage einreichen. Wegen seelischer Grausamkeit, versteht sich. Und der arme Kinderchor! Die konnten doch sicher nur unter Einfluss stärkster Drogen so abartig hoch einen solchen Schwachsinn von sich geben.
Wie auch immer, ich saß da auf meinem Fahrrad, war körperlich am Ende und völlig dehydriert. Meine Knochen taten mir weh, ich schwitze in stömen und die Sonne brannte mir das letzte Stückchen Verstand aus dem Schädel. Plötzlich kam mir dieses Flipperlied in den Sinn. Und ich sang es. Erst leise und vorsichtig, doch dann ohne Rücksicht auf Verluste. Ich schrie es hinaus.
“Flipper, Flipper, Freund aller Kinder. Ich hasse ihn, den schwulen Delfin!“
Ich fuhr weiter, immer den Damm entlang. Ich schrie weiter.
“Flipper, Flipper, frisst kleine Kinder. Er nimmt Heroin, der blöde Delfin!“
Mein Stimme übrschlug sich. Nun wieherte ich regelrecht und erklomm ein ungeahntes Knabenfalsett.
“Flipper, Flipper, du alter Schinder. Schwimm in Benzin, du brennend Delfin!“
Ich war wie von Sinnen und völlig in meinem Wahn gefangen. Immer wieder und wieder brüllte ich es hinaus. Hätte ich doch nur nicht nach rechts geschaut.
Inzwischen war ich an einer dem Damm angrenzenden Gartenanlage angelangt. Das abartige Lied lauthals kreischend schaute ich nach rechts hinüber. Mir etwa zehn Meter entfernt, stand dort ein Mann. Fassungslos starrte er mich an und machte diese allzu typische Handbewegung vor seinem Gesicht, die man gemeinhin nur wirklich Hilflosen und geistig Abwesenden zugedenkt. Mir verschlug es die Sprache, und ein gerade im höchsten Ton angesetzter neuer Versuch blieb mir regelrecht im Halse stecken. Das Rot meines Kopfes war sicher einige Kilometer weit zu sehen.
Ich rutschte mit dem rechten Fuß vom Pedal, kam ins Strudeln und fuhr Kopf vorraus den Damm hinuter. Mit den, zugegeben, damals noch nicht voll entwickelten Kronjuwelen, die aber dennoch nicht minder schmerzempfindlich waren, knallte ich derart hart auf die Mittelstange des Fahrrads, dass ich tagelang nicht gerade laufen konnte. Direkt vor dem, noch immer diese typische Handbewegung machenden, Mann, kam ich zum Liegen. Den Rest des Weges lief ich, unsagbar peinlich berührt und schmerzgepeinigt.
So auch heute, ich stieg ab und lief. Sicher ist sicher.
Den alten Esel knallte ich in die Ecke der Garage. Sorgsam stapelte ich den ganzen Müll wieder darauf. Dann schloss ich ab und trällerte ein altes wohlbekanntes Lied, während ich auf dem Handy die Nummer meines Anwalts wählte.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.07.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Die Autorin, geboren 1960, wohnt im Dreiländereck Nordrhein-Westfalen/Hessen/Rheinland-Pfalz. Erst spät hat sie ihr Talent zum Dichten entdeckt und ihre Gedanken und Erfahrungen zusammengetragen. So entstand eine Gedichtsammlung, an der die Autorin gerne andere Menschen teilhaben lassen möchte, und daher wurde der vorliegende Band zusammengestellt.

Das Leben ist zu kurz, um es mit Nichtigkeiten zu vergeuden oder um sich über die Schlechtigkeit der Welt allzu viele Gedanken zu machen. Wichtig ist, dass man sich selbst nicht vergiften lässt und so lebt, dass man jederzeit in den Spiegel schauen kann.

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