Gaby Schumacher

Die Regenbogenleiter

An jenem schicksalhaften Tag spazierte Silvi am Feld entlang. Ihr Weg führte sie nach Hause. Doch sie wanderte ihn nicht, wie man an diesem herrlichen Sommertage erwartet hätte, fröhlichen Herzens. Nein, es waren düstere, niederpressende Überlegungen, die sie gefangen hielten. Ihr Gesicht: Verkrampftes Mienenspiel, eine Maske. Deutete jemand mit etwas psychologischem Einfühlungsvermögen ihre Mimik, so entdeckte er hinter jener Maske die todunglückliche Seele eines 15jährigen Mädchens. Eine Seele am Abgrund, die lautlos um Hilfe schrie. „Warum ich? Helft mir, ich weiß nicht mehr ein noch aus!“Heimlich war Silvi zum Arzt gegangen. Niemanden hatte sie eingeweiht, nicht einmal ihre Eltern. Ihre Eltern am allerwenigsten. Vorausahnend, dass dieser Besuch in der Arztpraxis ihr Leben für immer grundlegend drastisch veränderte. Mutter und Vater wollte sie so lange als möglich eine schlimme Wahrheit ersparen. Vielleicht erntete sie dafür in späteren Tagen Lob von Bekannten und Freunden.

Doch diese Bewunderung wäre keineswegs gerechtfertigt, wie sie sich kleinlaut eingestand. Es war nicht an dem, dass sie etwa aus Rücksichtsnahme und sogar Mitleid mit ihrer nächsten Umgebung schwiege. Das junge Mädchen sah darin die absolut einzige Chance, dem auf sie zukommenden Schicksal eine kurze Galgenfrist lang noch nicht ins Auge sehen zu müssen. Ja, nur ein Selbstbetrug könnte ihr helfen, das niederschmetternde Wissen um ihre Krankheit aus ihren Gedanken zu verbannen. Gefühle der Verzweiflung und der drohenden Resignation nicht die Oberhand gewinnen zu lassen, sondern sie stattdessen als Reaktionen auf ja doch nur einen Albtraum hin energisch zu verdrängen. Sie müsste das fortan über ihr schwebende Damoklesschwert mit all ihrer psychischen Energie ignorieren. Sie war jung. Sie wollte leben! Wie alle Jugendlichen unbeschwert die Vorrechte dieser Altersstufe auskosten. Eine gewisse Leichtigkeit, wie das Recht, Träumereien nachzuhängen, genießen. Wäre sie stark genug, alle Anderen und sogar sich selbst über einen längeren Zeitraum hinweg zu täuschen? Es kostete immens viel an Durchhaltevermögen. Kraft aus Angst vor abgrundtiefer Verzweiflung und auch aber auch in gleichem Maße der Liebe zum Leben heraus, um über Wochen, Monate, vielleicht auch Jahre nicht allein geliebte Mitmenschen in „Normalität“ zu wiegen, sondern erst recht die eigene Psyche über einen solch ausgedehnten Zeitraum aufs Penibelste zu kontrollieren und zu manipulieren.

Ein Roboterleben erwartete sie. Ein Leben in absoluter Disziplin. „Für wie lange??“ Starkes Herzklopfen. Ein Kälteschauer jagte ihr über den Rücken: „Breche ich eines Tages dann unter dieser seelischen Last zusammen?“ In ihrem Kopf drehte sich ein Mühlrad an Fragen. Fragen, entsprungen der eigenen Panik, ihrer Hilflosigkeit der Situation gegenüber und den sie plagenden Gewissenbissen. Gewissensbisse der Lüge wegen, die sie von diesem Tage an leitete. Wie sollte sie ihrer Mutter noch klar ins Auge sehen? Wie mit ihrem Vater, zu dem sie ein besonders inniges Verhältnis hatte, unbeschwert fröhlich lachen?

Seit nun fast zwei Stunden gehörte sie zu einer Minderheit in der weltweiten Familie der Menschen. Minderheiten haben Ablehnung oder auch sogar Hass zu ertragen. Bliebe ihr wenigstens das Letztere erspart? Wie käme sie mit diesem anderen Leben klar?“ Zwei Stunden trug sie nun diese sie seelisch niederschmetternde Bürde, die so gar nicht in das Leben eines Teenagers passte. Vor 120 Minuten hatte Prof. Jahn ihr auf möglichst behutsame Weise die Diagnose mitgeteilt: Ein gutartiger Tumor hinter den Augen. Sie war die Tochter seines besten Freundes. Umso mehr litt er mit. Er hatte sie von Babybeinen an aufwachsen sehen. Hatte seine helle Freude an dem hübschen Mädchen mit den braunen Augen gehabt. Augen voller Charme, deren strahlender Blick überall menschliche Wärme und Fröhlichkeit verschenkte. „Erfahren Vater und Mutter davon, bricht für sie eine Welt zusammen. Es darf einfach noch nicht sein! Ich muss erst einmal für mich selbst damit fertig werden. Bitte, bitte sagen sie ihnen noch nichts! Wenigstens so lange nicht, bis ich meine Gefühle wieder besser unter Kontrolle, den ersten Schock überwunden habe. Sie sind mein einziger Vertrauter, mein Arzt. Mit Ihnen kann ich darüber reden. Aber vor der Reaktion meiner Familie habe ich schreckliche Angst!“

Ganz zaghaft war ihre Stimme geworden. Silvi verbarg den Kopf in ihren Händen und schluchzte leise auf. Still hatte Prof. Jahn ihr zugehört, sie nicht unterbrochen. Der erfahrenen Mediziner hatte klar gesehen, dass diese flehentlich vorgetragene Bitte der Griff zu einem Strohhalm war. Einem Strohhalm, an den sich das junge Mädchen in dem doch sicheren, beinahe unerträglichen Bewusstsein klammerte, dass er nach kurzer Zeit des Haltbietens zu brechen hätte. Dass all das nur einen Aufschub bedeutete! Die Hand hatte er ihr auf die Schulter gelegt, bis sie sich wieder gefangen hatte. „Silvi“, hatte er gemahnt, „du warst schon als Kind recht willensstark. Du bist jetzt als Teenager ein sehr selbstbewusstes Mädchen. Gib Dich nicht auf, genieße jeden Tag, der dir in Gesundheit geschenkt wird!“

„Gesund?“, grübelte Silvi im Gedenken an jene Worte vor sich hin, während sie dahin wanderte. “Mein Leben wird einen verkrampften, künstlichen Lauf nehmen. Nichts wird so sein wie bisher. Was soll ich bloß tun? Werde ich es meistern, dieses innere Gefängnis ertragen?“ Ihre Überlegungen zeugten von einer aus ihrer Not heraus verständlichen tiefen Resignation. Die Furcht vor dem, was unweigerlich auf sie zukäme. Früher oder später. Die Furcht, in Zukunft nicht mehr als vollwertiger Mensch angesehen zu werden,  als Mensch mit einer Behinderung eingestuft zu werden, deren endgültiger Schweregrad bereits vorgezeichnet war. „Allerhöchstens zwei Jahre!“, hatte Prof. Jahn ihr eröffnet. Auf ihr Flehen hin hatte er ihr schließlich versprochen, ihren Eltern gegenüber noch Stillschweigen zu bewahren. So lange, bis sie gefestigt genug wäre, mitmenschliche Reaktionen welcher Art auch immer verkraften zu können und allen zukünftig unausweichlichen Veränderungen ihres alltäglichen Lebens gefasst entgegen zu treten. „Warum ich?“, fragte sich Silvi verzweifelt wohl zum x-ten Male. „Ich lebe doch erst so kurz, hatte mir so Vieles vorgenommen: Mein Abi zu machen, dann eventuell Sprachen oder Literatur zu studieren...!“ Sie seufzte. All dieses müsste sie zu Wunschträumen erklären, die niemals mehr in Erfüllung gingen.

Erst 15 Jahre alt, war dem hübschen, blonden Mädchen mit den warm strahlenden braunen Augen mit einem einzigen, von seiner Aussage her bleischwerem Satz die Jugend gestohlen, unwiederbringlich vernichtet worden. Wenn sie sich daran erinnerte, wie sich alles in ihr zusammen gekrampft hatte! Wie gelähmt, fast wie tot hatte sie dem Arzt gegenüber gesessen, sich dagegen gesträubt, zu akzeptieren, was ihre Ohren vernahmen. Sie hatte zugehört, nichts wissen wollen und doch alles gewusst! Prof. Jahn hatte noch so manche Dinge mit ihr besprochen. Sie mochte diesen Freund ihres Vaters sehr und hatte sich deswegen mit aller ihr verbliebenen Willenskraft auf ihre Unterhaltung konzentriert und versucht, seine Ratschläge zu verinnerlichen. Aber in ihrer tiefen Verzweiflung war größtenteils alles an ihr vorbeigerauscht. So, als ob es nicht um ihre Person ginge, sondern um eine Fremde, deren Schicksal sie dann nicht hätte in diesem Maße tangieren können.

Was hatte er ihr eindringlichst geraten? Jedoch, wie konnte er nur? War ihm nicht klar gewesen, dass sie diesen seinen Rat, dessen sie sich dunkel erinnerte, nicht befolgen könnte? Jedenfalls augenblicklich noch nicht... Wie waren seine Worte gewesen: „Du bist stark, Silvi. Selbst, wenn es Dir jetzt schier unmöglich erscheint. Du musst lernen, mit dieser Gewissheit zu leben. Doch gib Dich nicht auf! Genieße jeden Tag, solange du es noch kannst. Speichere alles in deinem Gedächtnis. Das wird dir später eine große Hilfe sein!“ Sie gab ihm in Gedanken recht. Ja, es stimmte. Aus ihr, einem sehr selbstbewussten Kind war ein ebenso von sich überzeugter Teenager geworden. Aus wohlhabendem Hause, als Einzelkind von den Eltern maßlos verwöhnt, hatte sie so grundlegende Sorgen wie Armut oder schwere Krankheit bisher nie gekannt. Sie schreckte auf. „Jetzt heißt es für mich „bisher“!“ Um ihr Herz schloss sich eine schwere, eiskalte Kette.

Die Angst vor der drohenden Isolation, vor dem Leben in innerer Einsamkeit würden ihr die nächsten Tage, Wochen und Monate zu einer einzigen Qual werden lassen. „Wann bewahrheiteten sich Professor Jahn´s Voraussagen, in ein paar Wochen, oder wirklich erst in zwei Jahren??“ Ein Kälteschauer lief ihr über den Rücken. Die aufkommende hilflose Furcht schnürte ihr die Kehle zu.

Nein, sie dürfte sich nicht in Depressionen verlieren! Noch war es ja nicht soweit. Noch fühlte sie sich gesund wie alle Anderen. Kopf hoch! Weder saß sie im Rollstuhl, noch wütete in ihr eine tödliche Krankheit! Wie jeder gesunde Mensch hatte sie Augen, um zu sehen. Ohren, um zu hören und einen Mund, mit dem zu reden vermochte. Und sie besaß die große Freiheit der Gedanken, all der Wünsche und Vorstellungen eines jungen Menschen, der sein ganzes Leben noch vor sich hat. Was wollte sie noch mehr?

Ihr Blick glitt über das von der Sonne in gelbliches Strahlen getauchte Feld. Ihr Auge hielt sich an diesem zauberhaften Bild fest, wanderte von Ähre zu Ähre. Ab und an hob sich ein Vogel in die Lüfte. Im Winde segelnd, wurde er für sie zu einem Bild der überschäumenden Lebensfreude, des Glückes, auf Erden zu sein. Dieses kleine Wesen dort am Himmel holte sie aus ihrer Depression wieder zurück ins normale Leben. Machte aus ihr wieder das strahlende, selbstsichere Mädchen, das sie immer gewesen war. Nein, dies alles, was sie umgab, war zu wertvoll, zu liebenswert, als dass es eine negative Einstellung zum eigenen Sein erlaubte. Ihr Entschluss stand fest: Sie gäbe nicht auf, nein, sie kämpfte, solange die Kraft reichte! Ein Monat war eine lange Zeit. Sechs bzw. zwölf Monate waren 6x bzw.12x ein solch langer Monat. Plötzlich erschienen ihr die tristen Gedanken, die sie soeben noch im Kopf gewälzt hatte, fast wie eine Sünde gegen alles, was es auf dieser Welt an Gutem und Schönen gab. Ihr stünde eine ausreichende Zeitspanne zur Verfügung, um sich auf alles einstellen bzw. vorbeireiten zu können, was sie in der Zukunft noch würde bewältigen und aushalten müssen.

Viele Menschen hatten mit einer Behinderung ihr Leben zu meistern. So oft war sie Behinderten begegnet. Nicht vergrämten Gesichtsausdruckes, sondern mit einem lebensbejahenden Lächeln in den Augen. Damals erschien ihr das unverständlich und unerklärlich. wie Menschen, die zeitlebens im Rollstuhl saßen, überhaupt Fröhlichkeit nach außen tragen konnten. Wie sie mit den mit ihrer Krankheit verbundenen Schmerzen, ihrem Leid und der oftmaligen Einsamkeit, fertig wurden. Was hielt diese Menschen am Leben? Man hätte meinen sollen, sie sehnten oft den Tod herbei, um endlich frei zu sein. Frei von ihren Schmerzen. Frei von dem Mitleid oder auch in extremen Fällen sogar Hohn der Umwelt. Entkommen aus dem eigenen Gefängnis der Isolationshaft. Das, was Silvi erwartete, war dagegen leicht zu ertragen. Bedeutete im Grunde genommen nur eine Verinnerlichung des sinnlichen Erlebens.

Es war Sommer, die Luft flirrte. Am wolkenlosen Himmel segelten die Vögel im Wind, jagten sich und zogen flatternde Kreise um einander. Es war die Jahreszeit des Übermutes und der Lebensfreude. In den Feldern und Wäldern tobten die Jungtiere in wildem Spiel, sich sicher und geborgen fühlend unter der Obhut der Alten. In der Menschenwelt war es nicht anders. Kindergekreische, Kinderlachen. Ab und zu traf sie auf ihrem Spaziergang sogar auf welche, die noch die alten Weisen sangen, die schon sie in der Grundschule gelernt hatte. Aber auch die Erwachsenen hatten ihre mürrische Miene abgelegt und gingen eher heiter ihrer jeweiligen Beschäftigung nach. Silvi beobachtete dies alles. Für ein paar Minuten vergaß sie die Bedrohung, unter der ab jetzt ihr Leben stand. Es war, als ob alles nur ein böser Traum gewesen wäre. Sie fühlte sich erleichtert, herausgerissen aus dem dunklen Tunnel der Verzweiflung. Für wie lange??

Ihr Blick glitt über das in sattem Gelb des Weizens stehende Feld. Der Wind wiegte die zierlichen Halme zärtlich hin und her. Kerzengerade gewachsen waren sie und streckten ihre Ähren der Leben spendenden Sonne entgegen. „Wie schön die Welt ist!“, kam es dem jungen Mädchen in den Sinn. „Wie jubiliert alles in Gottes Natur!“ Selbst ihr schlich sich ein glückliches Lächeln ins Gesicht. Die Panik, aus dramatischer Lage heraus geboren, war verdrängt. Das bedrohliche Wissen in ihrem Unterbewusstsein verlor an Einfluss. Es hatte der Lebensfreude und Dankbarkeit all des Schönen wegen zu weichen, das sie hier umgab.

Beim Anblick der Natur, all diesen Lebens und der gleißend hell strahlenden Sonne vergaß sie tatsächlich. Ihr Schritt wurde leichter, ihre Gedanken optimistischer. Übermütig nahm sie Anlauf und schoss mit der rechten Fußspitze einen im Wege liegenden, etwas größeren Kieselstein wie einen kleinen Fußball in ein imaginäres Tor. Lachte auf, als er diagonal über den Weg kullerte und letztendlich, von einem vorwitzig am Rande stehenden Grasbüschel aufgehalten, dort liegen blieb. Na ja, so sehr gut war sie ja in Sport nie gewesen! Wenn sie an die Reckübungen dachte...Oh Gott, oh Gott!

Aus dem schwarzen Tunnel abgrundtiefer Furcht entflohen, kam die Lebensfreude zurück. In Gedanken an Verabredungen mit Freundinnen und Freunden, schossen ihr vielfältige Pläne für Unternehmungen durch den Kopf. „Ach ja, richtig!“, murmelte sie vor sich hin, „Karen wollte ich anrufen, ob sie am Freitag mit ins Kino kommt.“ Die schwärmte doch für Krimis. Und da lief ein Hitchcock. So ein Film war immer seine Euro wert. Heiter lief sie auf ihr Elternhaus zu. Zwar spürte sie doch noch eine leichte Bedrückung, als sie von weitem ihre Mutter im Garten erblickte. Jedoch zwang sie mit eisernem Willen die furchtbaren Empfindungen nieder, die in ihr erneut hochsteigen wollten: „Nein, ich will euch nicht! Ihr werdet mich nicht fertig machen. Ich kämpfe!“ Sie atmete betont tief durch: “Noch bin ich gesund. Noch kann ich genießen!“ Mit hocherhobenem Kopf und fröhlicher Miene rief sie im Vorübergehen ihrer Mutter zu: “Am Freitag gehe ich mit Karen ins Kino. Ich rufe sie gleich ´mal an!“ „Mach das!“, erwiderte die Mutter, stolz ihre hübsche Tochter betrachtend. Sie musste daran denken, wie viel Freude ihr Kind ihr bisher beschert hatte.

Silvi hopste die Treppe hoch und verschwand in ihrem Zimmer. Für ein paar Sekunden kam die innere Dunkelheit zurück, griff nach ihr, um sie hinab zu ziehen in das Tal des Entsetzens. Doch die Widerstandskraft des jungen Mädchens war geweckt. Sie gab diesem Gefühl der Ausweglosigkeit nicht nach, drängte es zurück. Stattdessen fischte sie sich ihr Handy vom Nachttisch und wählte Karens Nummer. Nach dem dritten Freiton meldete sich ihre Freundin. „Natürlich komme ich mit. Freitag um sechs Uhr, einverstanden?“ Silvis Herz machte einen kleinen Sprung. Das war das normale Leben, alles Andere nur ein Albtraum.

Bis zum Freitag waren es nur noch wenige Tage. Sie nahm sich ein volles Programm an Unternehmungen vor, um ja nicht ans Nachdenken zu kommen. Am Besten, sie träfe sich jeden Tag mit ihrer Clique. Es war eine sehr lustige, flotte Freundesschar. Immer voller Ideen und zu jedem Blödsinn aufgelegt. Sie käme gar nicht dazu, depressiv zu werden. Und außerdem: Hatte es in der Medizin nicht schon zahlreiche Fehldiagnosen gegeben? Vielleicht wäre es doch in ihrem Falle auch so? „Ich werde mir das einfach einreden. Dann komme ich besser klar!“, ermunterte sie sich. Also, all die trüben Gedanken beiseite schieben und sich lieber auf das Zusammensein mit den anderen Jugendlichen freuen!

Von Tag zu Tag fiel Silvi der Selbstbetrug leichter. Von Tag zu Tag verschwand dieses Gespenst der Gewissheit eines zukünftig grausamen Schicksals mehr ins Unterbewusstsein. Silvis Frohsinn kehrte zurück. Sie war wieder der Ausbund an temperamentvoller Heiterkeit, der sie immer gewesen war. Das Leben ging seinen normalen Gang. Mit all den kleineren und größeren alltäglichen Problemen, aber auch den Stunden voller Freude. Die Wochen und Monate verstrichen. Es ereignete sich nichts Ungewöhnliches. Alles blieb, wie es war. Fast war in Vergessenheit geraten, was Silvi bedrohte.

Doch es war nur eine trügerische Galgenfrist, die dem jungen Mädchen vergönnt war. Nach etwa einem halben Jahr sollte sich alles ändern.
An einem Morgen im Frühherbst geschah es. Der Blick nach draußen ließ keinen Zweifel zu, dass sich der Sommer endgültig verabschiedete. An allen Bäumen hatte sich das Laub in die unterschiedlichsten Rottöne gekleidet. Auf der Erde überall Blätter. Teilweise leicht gelblich, dazwischen in kräftigem Rot wie an den Ästen. Viele schon zusammen gekringelt, da vertrocknet. Und trotzdem: Wunderschön hob sich dieses bunte Laubwerk gegen den nur mit vereinzelten Wolken bedeckten blauen Himmel ab. Die Sonnenstrahlen verstärkten die Lebendigkeit des herbstlichen Farbenspiels. Silvi liebte diesen Anblick. Sie beobachtete das Laub, dass vom leichten Winde hin und her geweht wurde, sich zu immer neuen Blatthügeln anhäufte. „Irgendwie ein beruhigendes Bild!“, dachte sie gerade, als sie plötzlich ein eigenartiges Gefühl beschlich. Die Erinnerung, so energisch verdrängt, bemächtigte sich ihrer. Einen Moment lang fröstelte sie. „Schon ein halbes Jahr!“, flüsterte sie halblaut vor sich hin. Ein beinahe angstfreies halbes Jahr ohne jegliche gesundheitliche Schwierigkeiten. Eine Zeit, in der sie selbst in den wachsamen Augen ihres Vaters das Mädchen gewesen war, wie es alle liebten. Fröhlich, temperamentvoll und sehr warmherzig. Niemand hatte die seelischen Durchhänger bemerkt, die Silvi von Zeit zu Zeit heimsuchten. Nicht einmal ihre Eltern, die vertrautesten Menschen in ihrer Umgebung.

Wenn sie so nach draußen schaute, war es für sie kaum vorstellbar, dass der Wetterbericht Recht behielte. Angeblich sollten sich Sonnenschein und Regen abwechseln. „Hm! Vielleicht ja gegen Nachmittag!“ Im Moment jedenfalls sah es absolut nicht danach aus. Aber es sollte sich bewahrheiten. Im Laufe des Vormittags verdichteten sich die Wolken. Doch noch blitzte die Sonne zwischen ihnen hervor. Eigentlich hatte Silvi für den Tag nichts Bestimmtes geplant. Für die Schule brauchte sie nicht zu büffeln. Im Moment waren Ferien. Zwar nur zwei Wochen, aber immerhin. Ihre engsten Freunde waren verreist. Sie fehlten ihr sehr. Na ja, in ungefähr einer Woche wären sie alle zurück. Was mit dem Tag anfangen? Nur zu Hause zu sitzen, entsprach überhaupt nicht Silvis Art. Auch ohne Gesellschaft Anderer hielt sie sich am liebsten an der frischen Luft auf. Noch war der Himmel heiter. So entschloss sie sich zu einem ausgiebigen Spaziergang.

Fix griff sie sich ihre Jeansjacke vom Haken, hing sie sich locker über und marschierte nach draußen. Sie würde an dem Feld entlang wandern. Sie liebte den Blick in die Ferne, bei dem sie so gerne vor sich hinträumte. Nur wenige Leute waren unterwegs. Die Meisten hatten es sich in Erwartung des Regens zuhause gemütlich gemacht. Da ihr keine Bekannten oder Nachbarn begegneten, hing sie in Ruhe ihren Gedanken nach. Still war es um sie her. Der Alltag mit seinem Menschenlärm blieb hinter ihr zurück. Welch eine Erholung! Nur Vogelgezwitscher und ab und zu ein leichtes Grasrascheln, wenn ein Igel oder eine Katze auf Mäusefang über die Wiese schlichen.

Für Silvi würde es keine gesunde Ruhe. Doch das ahnte sie nicht. Frohgemut schlenderte sie am Feld ihres Weges, durch ein kleines Wäldchen bis zu einer großen Lichtung. Schon eine halbe Stunde war sie jetzt unterwegs. Die Wolken am Himmel hingen schwerer, teilten ihn in Sommer und Herbst. Da, ein erster Tropfen! Noch störte das Silvi nicht. Sie empfand es sogar als romantisch. Das Mädchen ließ seinen Blick bis hin zu einem zweiten Wäldchen schweifen. Und dann, es geschah innerhalb von Bruchteilen von Sekunden, war es wieder um sie. Das Grauen, die Angst...die Verzweiflung und das Bewusstsein, ihrem Schicksal hilflos ausgeliefert zu sein. Wie war es möglich, in dieser zauberhaften Umgebung, dass es sie einholte, von ihr Besitz nahm mit all seiner Kraft? Sie hatte es doch so erfolgreich verdrängt, auch vor ihrer Umgebung verborgen. Weshalb hier, weshalb jetzt??

Ihr Inneres war aufgewühlt. Sie versuchte sich zu wehren, ein zweites Mal die drohende Dunkelheit nieder zu kämpfen. Es schien, als wäre ihre Kraft aufgebraucht. Es gäbe kein Entrinnen mehr. „Vater...Mutter, wenn ihr wüsstet!“, schrie es in ihrem Herzen. Gewissensbisse des bewussten, aus nicht bezähmbarer, panischer Angst geborenen Vertrauensbruches wegen diesen geliebtesten ihrer Mitmenschen gegenüber, nahmen von ihr Besitz. Zerschmetterten den künstlich aufgebauten Schutzwall der letzten Monate und liessen sie als ein Häufchen Elend zurück. Silvi schaffte es nicht mehr, ihre Tränen zurück zu halten. Sie war ja allein. Sie durfte sich zum ersten Male seit einem halben Jahre ihren Gefühlen ungehemmt überlassen. Niemand erführe es je!

Der Regen war stärker geworden. Doch davon liess sich die Sonne nicht beeindrucken. Jede Wolkenlücke nutzte sie dazu, Mensch und Tier über die einsetzende Nässe hinweg zu täuschen. Durch den Tränenschleier vor ihren Augen blickte Silvi zum Himmel empor. „Lieber Gott...wann? Wie wird es dann sein?“ Sie fühlte das Verlangen, die Realität abzuschütteln und ins Reich der Phantasie einzutauchen, um das „Ungeheuer Schicksal“ von sich zu drängen, vor ihm zu fliehen. Per Blick suchte sie verzweifelt einen Fixpunkt in der Natur. Irgendetwas, was ihr Trost und Halt sein könnte.

Nochmals schaute sie gen Himmel, wie, um Hilfe zu erflehen. Im nächsten Augenblick blieb ihr Blick gebannt an einem Lichtstreifen hängen, der sich in weitem Bogen übers Feld spannte. Ein Lichtstreifen, bestehend aus mehreren zarten Farbtönen, die sanft miteinander verschmolzen. Dieser zauberhafte Anblick entrückte Silvi der harten Wirklichkeit, ließ sie den Regen ignorieren. Sie erinnerte sich der Worte ihres Arztes: „Speichere alles in Deinem Gedächtnis. Das wird Dir eine große Hilfe sein!“ Sie brauchte diese Ermahnung nicht mehr. Der Eindruck des wunderbaren Regenbogens vor dem teilweise dunklen, teilweise grell, fast gewittrig durch die Sonne erhellten Himmels fesselte sie so sehr, dass sie ihre Augen schloss, um diesen gewaltigen Eindruck ganz in ihrem Herzen zu verschließen. Sie sah nicht und sah doch. Ihr Inneres fing an zu jubeln ob dieses Naturschauspiels. Das Glück des Augenblicks verwandelte den Himmel in einen einzigen Regenbogen aus Sanftmut und Farbe. Ach, wie gerne verließe sie die Erde, um in diese Welt der Farben und Vorstellungen einzugehen. Sich ihr selbst zu Hilfe eine andere, eigene Welt des Sehens zu erschaffen.

Der Wunsch in ihr wurde übermächtig. Sie presste die Augenlieder ganz fest zusammen, um sich ihrer nun eigenen Welt hinzugeben. Einer Welt, die Anderen verborgen bliebe. Die nur sehen, die in der Welt der Vorstellung leben. „Ich möchte diesen Regenbogen hinaufklettern. Hinauf bis ins unendlich warme Licht.“, flüsterte sie inbrünstig vor sich hin. Ohne es eigentlich beabsichtigt zu haben, blinzelte sie noch einmal in die Helligkeit. Aber das Licht der Sehenden existierte für sie nicht mehr. Dunkel umgab sie. Ein kurzer Moment des Erschreckens. Ja, es war soweit. Das Schicksal hatte sie eingeholt: Sie war für immer erblindet!

Schnell senkte sie die Lider über ihre jetzt toten Augen, um sich, von einem der wärmenden Lichtstrahlen geleitet, auf die schwebende Reise zu ihrem ureigenen Regenbogen zu machen. Sie wandelte über seine Straße aus Farben in eine zweite Welt neben unserer Welt. In die unendlich weite Welt der blinden Phantasie. Jubelnden Herzens erklomm sie jenen farbenprächtigen Reifen, um zu einem Wesen des verinnerlichten Lebens zu werden. „Ja, ich komme!“, murmelte sie. Silvi empfand eine ungekannte Leichtigkeit, ein sie erfüllendes, unsagbares Glücksgefühl.
Von nun an gehörten ihr beide Welten. Sie lebte ein zweites, ein unendlich farbenfrohes Leben. Ein Leben aus Vorstellungen und Träumen -  das Leben des Regenbogens!

.

Während meiner Jugendzeit hatte ich Kontakt zu einem blinden Mädchen.
Dadurch lernte ich sehr viel über die Gefühls- und Erlebniswelt blinder Menschen. Die Erinnerung an diese Begegnung leitete mich beim Schreiben dieser Geschichte.
Über eine Beurteilung würde ich mich sehr freuen.

Gaby Schumacher
P.S.: Kritik ist erwünscht!
Gaby Schumacher, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.07.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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