Daniel Lohmeyer

Soldatenbrief

XXXXXXX, XXXXXXX
Divisionsarzt Reckmacher
XXXXXX, Russland
Feldpostnr. XXXXXX
Feldlazarett XX
Uhrzeit: 17:15

Mein Führer,

Ich hoffe, dass Sie dieser Brief erreicht. Sobald ich dieses Papier einem Meldegänger übergeben habe, werde ich meinem Leben mit der letzten Patrone in meiner Pistole ein Ende setzen. Ja, sie haben richtig gelesen. Lieber tot, als in russischer Kriegsgefangenschaft.

Was sie nicht sehen können, mein Führer, ist der Ort um mich herum. Diesen Brief zum Beispiel schreibe ich gerade auf einem Gefechtshelm eines mir unbekannten Landsers. Vor nicht mal einer Stunde ist er auf die Knie gegangen und vor meinen Augen gestorben. Es war keine Kugel oder ein gegnerisches Bajonett was seinem Leben ein jähes Ende gab. Er ist schlicht weg verhungert. VERHUNGERT!!! EIN DEUTSCHER SOLDAT!!! Sie waren es, der gesagt hatte, dass es keinen Soldaten geben wird, der an einer Front hungert. Goebbels predigt es jede Woche nach. Halten sie der deutschen Bevölkerung den Spiegel vor, mein Führer. GEBEN SIE ZU, DASS DER KRIEG IN RUSSLAND VERLOREN IST!!! Holen sie die noch verbliebenen Einheiten raus. Unsere Division war fünftausend Mann stark. Jetzt sind es gerade mal runde hundert. Und jede Stunde nimmt die Zahl weiter ab. Sei es durch feindliches oder eigenes Feuer. Die Leute sind so geschwächt, dass sie Freund und Feind nicht mehr unterscheiden können.

General Uhrmann ist mitsamt seinem Stab letzte Woche gefallen. Leutnant Hansen und ich führen den Haufen, der sich noch Deutsche Wehrmacht nennt. Um die Moral aufrechtzuerhalten, haben wir den Tod des Generals verheimlicht. Aber wie kann man was aufrechterhalten, das die Soldaten seit mehreren Monaten nicht mehr besitzen? Goebbels redet von ruhmreichen Kämpfen und Schlachten. Hier reden die Leute von Tod und Verderben. Wir möchten alle nach Hause, mein Führer. UNS REICHT ES!!! Gestern bin ich die HKL* abgeschritten. Ein schreckliches Bild, was seines gleichen sucht. Brennende Panzer, russische wie deutsche. Der Gestank der Leichen ist trotz der Kälte unerträglich. Armselige bleiche Gestalten in Lumpen gehüllt frieren in ihren Unterständen und warten auf den nächsten, vielleicht alles zu Ende bringenden Angriff. Keiner kann mehr ein volles Magazin sein eigen nennen. Viele Landser haben sich aus ihren toten Kameraden Sicherheitswälle gegen die Geschoße der Russen gebaut. Ist das richtig, mein Führer? Leichen statt Sandsäcke? Wenn ja, habe ich bei der Ausbildung nicht richtig aufgepasst.

Die Versorgung wird auch immer schlechter. Vorgestern musste ich einen Soldaten sterben lassen, weil mir die nötigen Mittel zur Behandlung fehlten. Er hatte nur einen einfachen Durchschuss an der Schulter – trotzdem konnte ich ihm nicht helfen. Über die Hälfte der Soldaten hat Erfrierungen an Händen und Füßen. Manche bekommen nach einer eiskalten Nacht die Augen nicht mehr auf. Vor einer Woche roch es nach einem Angriff der Russen nach gebratenem Fleisch. Ein Panzer war nach Beschuss in Brand geraten und zwei Leute der Bedienmannschaft konnten sich ins Freie retten – nur um im Schnee elendig zu verbrennen. Ich schickte mehrere Leute hin um die Leichen zu holen und würdevoll zu bestatten. Als nach dreißig Minuten keine Rückmeldung kam, gingen der Leutnant und ich hin um nachzuschauen. Einer der Landser sah uns kommen und rannte auf uns zu. Nach einem Gruß, der jeden anderen in Rage gebracht hätte, meldete er mir das die Leichen noch zu heiß seien. Sie müssten noch warten. Nach einem kurzen Moment nickte ich. Es erschien naheliegend zu warten. Der Leutnant bot sich an, den anderen zu helfen. Ich stimmte ihm zu. Der Landser war unsicher, willigte aber ein. Ich ging wieder in den Schutz meines Lazarettzeltes und setzte mich an einen Bericht für das Oberkommando. Kurze Zeit später hörte ich Pistolenschüsse. Ohne darüber nachzudenken rannte ich ins Freie und sah den Leutnant wankend auf mich zu kommen. Der Arm, der die Pistole hielt, hing schlaff herunter. Wütend fragte ich ihn, was die Schüsse sollten. Er antwortete mit zitternder Stimme: „Kannibalismus, Reckmacher. Ich habe sie alle erschossen.“ Meine Knie gaben nach und ich fiel in den Schnee. In was für einer Welt leben wir, mein Führer? Soldaten essen Soldaten. Soweit ist es schon mit uns gekommen?

Ich könnte dies noch ewig weiter führen, mein Führer. Aber wie so oft, werden sie wohl an die deutsche Stärke appellieren und uns kämpfend untergehen lassen. Aber nicht mit mir mein Führer. Ich habe genug vom Tod gesehen um sagen zu können, dass er mich willkommen heißen wird. Einer mehr oder weniger, mein Führer, was macht das schon? Als letzte Amtshandlung als Divisionsarzt schicke ich ihnen anbei den Verlustbericht für den letzten Monat...

Heil Hitler

Gez. Divisionsarzt Otto Reckmacher

24 November 1943

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HKL - Hauptkampflinie


Anmerkung d. Autors:

Dieser Brief ist frei erfunden. Ich stütze mich auf Erzählungen aus Briefen meines Großvaters der am Russlandfeldzug beteiligt war.

Kannibalismus stand zwar nicht an der Tagesordnung in Russland, aber es ist dennoch passiert. Hunger und Leid haben aus Menschen Tiere gemacht

© 2002 by Daniel Lohmeyer

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.07.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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