Gaby Schumacher

Eine Note findet ihr Glück (Weihnachtsmärchen)

Die Geschichte nimmt ihren Anfang in einer kleinen verträumten Stadt mitten auf dem Lande. Es ist Adventszeit. Die Unruhe des Tages ist verflogen und Stille in den Straßen eingekehrt. Die Laternen brennen schon.

Dieser Abend ist ein außergewöhnlicher Abend. Unter verhangenem Himmel liegt die Welt von einer dicken Schneedecke verhüllt friedlich da. Unaufhörlich segeln Flocken gleich weißen Bällen zu Boden. Sie funkeln im Laternenlicht wie kleine Diamanten, ehe sie sich niederfallend zu dem weißen Teppich vereinen. Vor dem Auge des späten Spaziergängers liegt eine Märchenlandschaft, bei deren Anblick er unwillkürlich ins Träumen gerät.

Alles, was normalerweise nüchtern, gewöhnlich oder vielleicht sogar abstoßend wirkt, verzaubert nun ein blütenweißer Mantel. Nichts erscheint mehr, wie es ist. Beim Anblick der unberührten, stillen Schneelandschaft kann ein mit Sorgen und Problemen belasteter, deshalb nervöser Mensch seine bedrückenden Überlegungen sogar für wenige Minuten verdrängen und sich froheren Gedanken hingeben. Die Seele atmet auf. Welch ein oft heilsamer Frieden!

In den vorweihnachtlich geschmückten Straßen hängen Lichterketten. Doch noch weitaus verträumter wirken die bunt dekorierten Fenster, in denen viele, viele Kerzen brennen. Bei diesem Anblick wird es einem richtig sentimental zumute.

Schaut der wandernde Mensch an der Häuserfront entlang, entdeckt er auch im Fenster einer bestimmten kleinen Dachwohnung solch ein Wärme und Gemütlichkeit spendendes Licht. Dort wohnt Herr Sänger, ein junger Musiker, der die stillen Abendstunden für seine Arbeit nutzt. Er ist Romantiker, hat überall in seiner Wohnung Kerzen in jeglicher Größe und Farbe aufgestellt und sie liebevoll mit Tannenzweigen dekoriert. Auf dem Wohnzimmertisch, auf sämtlichen Bücherborden und auch auf dem großen Schreibtisch flackern solche Flammen vor sich hin.

Herr Sänger sitzt am Schreibtisch und starrt auf ein vor ihm liegendes, leeres Notenblatt. Dessen Linien sehen den Künstler herausfordernd an. Ihn drängt es sehr, eine verträumte Melodie zu komponieren. Nachdenklich stützt er den Kopf in die Hand und möchte etwas auf die Notenlinien bannen, das es wert ist, den Menschen zur Freude bewahrt zu werden.

Aber trotz intensiven Grübelns fällt ihm so gar nichts ein. Warum nur nicht? Er spürt das Lied doch in seinem Innern. Enttäuscht schaut er ins tröstende Kerzenlicht. Sich nach einer Eingebung sehnend, nimmt er ganz bewusst dessen Strahlen in sich auf. In seine Überlegungen versunken, malt er eine Note auf die Linie. Sie ist wunderschön gezeichnet mit einem sorgfältig gespitzten Bleistift. Es ist ein ´E`, das er dann versonnen betrachtet. Er hofft vergeblich, dass nun weitere Noten folgen werden. Es will ihm einfach nicht gelingen!
Seufzend legt er schließlich den Stift beiseite und entschließt sich, erst einmal eine Nacht darüber verstreichen zu lassen.
"Vielleicht bringt mir der morgige Tag ja die zündende Idee!"
Mit sich recht unzufrieden, begibt er sich zu Bett und sinkt in einen unruhigen Traum.


Einsam und verloren steht die kleine Note da auf dem ach so großen Blatt. sie ist alles andere als glücklich, denn sie weiß, dass sie, das kleine ´E`, als Einzelnote dem jungen Künstler kaum wird helfen können- höchstens einmal beim Stimmen seines Instrumentes. Aber sogar dazu nehmen die Menschen in der Regel mehrere Töne. Wäre sie dazu in der Lage, beugte sie jetzt traurig ihren wunderschönen, schlanken Notenhals. Doch, wie es sich eben für Noten geziemt, bewahrt sie Haltung und steht weiterhin wie eine Eins auf der ihr zugewiesenen Linie.

Aber trotz der ihr aufgezwungenen Unbeweglichkeit bleibt sie nicht untätig. Wofür hat der Meister ihr denn ein so bildschönes, akkurat gezeichnetes Köpfchen geschenkt? Natürlich, damit sie es einsetzen kann! Die Gedanken beginnen nur so durcheinander zu purzeln in diesem dicken Notenkopf. Es muss doch einen Weg geben, ihrer  Einsamkeit zu entfliehen und gleichzeitig ihrem Schöpfer zu der gewünschten Melodie zu verhelfen!!

Noten tun ja das Ihre dazu, dass die Menschen sich an immer wieder neuen Melodien erfreuen können.
´Leider, überlegt sie, „gibt es auch eine Unmenge an Missklängen auf dieser Welt; nicht nur im wörtlichen, sondern auch im übertragenem Sinne!“ Doch sie möchte nicht noch zusätzlich betrübter werden wegen all des Hungers, der Krankheiten, der Kriege und des Todes auf dieser Welt. Deshalb reißt sie sich gewaltig am Riemen und denkt lieber an etwas Schönes. Denn ihr Musiker hat sie als Anfang einer leichten, lieblichen Melodie erschaffen. Also sollte sie sich auch allein fröhlichen Überlegungen hingeben.

Kurz danach kommt ihr schon die richtige Idee: Da Noten dazu beitragen, Menschen glücklich zu machen, sind sie etwas Liebenswertes und etwas Liebenswertes ist immer etwas Gutes. Und etwas Gutes hat selbstverständlich einen prima Draht zum Himmel, der Heimat alles Reinen und Schönen. Ihr Gefühl sagt ihr – bekanntlich sind Noten äußerst sensible Geschöpfe – dass dort Engel in alle Ewigkeit zu Ehren des Heilandes musizieren. Singen die nicht den ganzen Tag ´Halleluja`? Um so singen zu können, brauchen sie Melodien. Eine Melodie aber setzt sich aus Noten zusammen!

Die kleine Note entscheidet, von daher habe sie das Recht, im Himmel um Hilfe zu bitten. Menschen schließlich haben dort oben ihren Engel, der ihnen in schlimmen Situationen zur Seite steht. Warum also nicht auch eine kleine Note, die jamit ihrem Ton die Menschen erfreuen will??

Gedacht, getan! Das ´E` schickt ein flehentliches Stoßgebet zum Himmel. Obwohl die Engel dort in der Vorweihnachtszeit mit Arbeit reichlich überlastet sind, ist sein persönlicher Schutzengel ein sehr zuverlässiger Kamerad,  an dem diese Bitte um Hilfe nicht ungehört vorbeirauscht. Schnellstens reist er in die gemütliche Dachwohnung. Dort erscheint er seiner Schutzbefohlenen in einem wunderschönen Licht, das die ganze Wohnung mit seinen Strahlen erwärmt.
„Hab` nur keine Angst, kleine Note“, sagt der Engel zu ihr. „Ich will dir helfen, damit dein Wunsch in Erfüllung geht!“
Das ´E` hat sich furchtbar erschrocken, doch bei diesen Worten beruhigt es sich wieder. Es fasst Mut und fragt seinen Engel:
„Was kann denn ich schon ausrichten? Ich bin doch an diese doofe Linie auf meinem Notenblatt gefesselt!“
„Nicht mehr lange!", lächelt der Engel und fährt fort: „Für diese einzige Nacht wird es dir gewährt, dein Blatt zu verlassen, um dir auf einer Reise durch die Welt eine zu dir passende Melodie zu suchen!!“
Schon verschwindet das Himmelswesen - und mit ihm das wundersame Licht.
Wie betäubt sitzt die kleine Note auf ihrer Linie und versucht, zu begreifen, was ihr da widerfahren ist.
„Wenn das stimmt – und da Engel nicht lügen, ist das so – ach, was ist das schön!“

Eine einzige Nacht in Freiheit, hat der Engel gesagt! Da ist jetzt aber wirklich keine Zeit zu verlieren. Zwar ist der Note völlig schleierhaft, wie sie sich wohl ihr Blatt verlassen, aber das wird sicher gleich zeigen. Plötzlich spürt sie ein eigenartiges Kribbeln zuerst in ihrem Kopf, dann im Notenhals und somit in ihrem ganzen zarten Körper. Huch, was ist denn mit ihr los? Fast schwindelt es ihr, so heftig ruckt ihr Kopf hin und her! Immer stärker wird das Rucken, owohl sie selber überhaupt nichts dazu beiträgt.

Als sie die Überraschung deswegen überwunden hat, freut sie sich sehr:
„Toll, ich kann mich ja von der Stelle rühren!“
Selig probiert sie aus, welche Möglichkeiten ihr nun offen stehen. Nicht nur ihren Kopf kann sie drehen. Nein, auch ihr Hals neigt sich bei jeder noch so kleinen Bewegung leicht zur Seite. Da geschieht es: Urplötzlich hopst sie von ihrer Linie und bewegt sich frei nach eigenem Willen. Ihren dicken Kopf nutzt sie dabei als ein Rad und rollt vorsichtig herum. In den ersten Sekunden fühlt sie sich so völlig ohne den Halt an ihrer Notenlinie noch etwas unsicher.

Aber, da sie eine sehr intelligente Note ist - sie ist schließlich von einem sehr klugen Mann erschaffen worden -entdeckt sie überall im Raume Ersatznotenlinien. Zuerst kullert sie die Kante der breiten Schreibtischplatte entlang, dann seitlich am Schreibtisch herunter. Als nächstes nutzt sie die lange Seitenkante des großen Teppichs als Hilfslinie. Die leitet sie bis kurz vor die Zimmertür. Keck erhöht die kleine Note ihre Geschwindigkeit. Husch, da rollt sie auch schon längs der Türkante bis zum Treppengeländer, setzt sich auf dessen Brüstung und rutscht in rasantem Tempo bis nach unten ins Erdgeschoss. Heißa, macht das Spaß! Alle Unsicherheit ist verflogen.

Sie genießt ihr neues Leben in vollen Zügen.
´Mich müssten meine Freundinnen in all den Notenheften jetzt beobachten können. Die würden blass vor Neid!` sagt sie sich stolz.
Schon rollt sie nach draußen. Froh verhält sie einen Moment, um Atem zu schöpfen und alles um sie her richtig in ihr Notenherz aufzunehmen. Wie benommen vor Freude über die noch ungewohnte Freiheit achtet sie überhaupt nicht darauf, ob vielleicht doch ein spätes Auto sich in ihre Straße verirrt hat und hüpft auf ihrer weiteren Wanderung munter den Bordstein rauf und runter. Gottlob ist kein Fahrzeug unterwegs. Verkehrsregeln zu beachten gehört nämlich nicht zu den Stärken kleiner Noten, erst recht dann nicht, wenn sie, wie dieses übermütige Geschöpf, zum ersten Male etwas anderes sehen als ihr eigenes Notenblatt!

Beim Anblick der vielen bunten Fenster jubelte sie am liebsten spontan laut los. Aber das ist ihr ja noch verwehrt. In ihrer augenblicklichen Euphorie ist sie felsenfest davon überzeugt, so durch die Gegend kullernd bestimmt rasch die ganze Welt zu erobern. Nur schade, dass sie keine Gesellschaft hat. Na ja, vielleicht findet sie ja  während ihrer langen Reise noch eine Kameradin!

Sie setzt sie ihren Weg quer durch die Stadt fort. Alles ist neu für sie und versetzt sie in immer größeres Staunen. „Was mir als braver Blattnote alles entgangen ist ... Am liebsten würde ich ewig so durch die Welt gondeln!“, murmelt sie. 
Sie erinnert sich, was ihr der Engel gesagt hat:
„Nur für die Dauer einer einzigen Nacht!“

Morgen wird sie wieder brav und unbeweglich auf ihrem Notenblatt stehen und geduldig darauf warten, ob und wann sie in einer Melodie vielleicht einmal, mit größerem Glück öfter und mit sehr viel Glück Jahrhunderte lang gespielt wird. Da aber ihr Schöpfer schwungvolle Melodien liebt, wird sie sicherlich keine Wagnernote werden, was sie allerdings kein bisschen tragisch findet. Denn die sind nämlich oft schrecklich versnobte Artgenossen. Irgendwie ist dies ja sogar zu verstehen. Immerhin sind sie in berühmte, oft jahrhundertealte Weisen eingebunden und von begnadeten Komponisten geschaffen, die ihretwegen zu Weltruhm gelangt sind. Solche Geschöpfe geben sich nicht mit simplen Straßennoten wie ihr ab. Das ist unter deren Würde.

Unsere kleine Note wandert dahin. Längst hat sie die vertraute Heimatstadt hinter sich gelassen. Erstmals kann sie schneebedeckte Felder bewundern.
´Wie schön doch die Welt ist!`, denkt sie. 
Von weitem erspäht sie den Kirchturm einer sehr großen Stadt. Ein wenig verwirrt betrachtet sie das Häusermeer. So viele Häuser auf einmal hat sie noch nie gesehen. Sie entdeckt einen zweiten Kirchturm, dann noch einen:
„Wo bin ich denn hier bloß?“

Da vernimmt sie leises Wellengemurmel. Wo es plätschert, ist Wasser. Das hat sie schon als gerade gezeichnetes Notenbaby gelernt. In ihrer Heimatwohnung plätschert manchmal der Wasserhahn über dem Spülbecken lustig vor sich hin. Dies hier ist allerdings ein sehr viel kräftigeres Wasserrauschen.
„Wie groß dieses Gewässer wohl ist, bestimmt riesig?!“
Neugierig rollt sie in dessen Richtung, dreht in eine Kurve und bleibt staunend wie angewurzelt stehen. Ein  breites Gewässer liegt da vor ihr; in seinem Verlauf langgezogen wie der Schal, den ihr Musiker sich an kalten Tagen um den Hals bindet. Jedoch ähnelt dieser eher einem Dinosaurierschal. Er ist nämlich dermaßen lang, dass die kleine Note seine Enden überhaupt nicht ausmachen kann.

Suchend blickt sie um sich nach einer Hinweistafel, wie das sich vor ihr durch die Stadt schlängelnde Gewässer denn heißt. Dort steht es ja, auf einem schönen weißen Schild: ´Rhein!` Das also ist der Rhein. Die Note überlegt:
„An einem so langen Wasser (Menschen sagen: ´Fluss`) gibt es bestimmt nicht nur diese eine Stadt, sondern  viele solcher Ortschaften und in solch großen Orten gibt es bestimmt viele Häuser, in denen Menschen Musikklängen aller Art lauschen. diese Stadt sehe ich mir einmal genauer an!"
Auf einem zweiten großen Schild am Straßenrand findet sie kurz darauf auch den Namen dieser Stadt: ´Düsseldorf!`
 
Einen Moment mal, den hat sie schon einmal vernommen, als sich Herr Sänger zu hause mit einem Bekannten unterhalten hat. Es gehörte sich ja eigentlich nicht, aber da hat dieses sich so allein langweilende Notenkind dem Gespräch gelauscht. (Mit irgendetwas muss man sich doch die schier endlosen Stunden vertreiben!). Regelrecht begeistert ist sie gewesen, als sie erfahren hat, dass es in Düsseldorf nicht nur gute Theater, sondern sogar eine Oper gibt, in der jeden Tag nachmittags und vor allem abends herrliche Melodien gespielt werden. Auch ganz viel Romantisches ist dabei!

Nach einer Weile erreicht die kleine Note die Düsseldorfer Altstadt mit ihren vielen Restaurants und Bars. Überall hört sie Musik. Mal ist es romantische, mal eher poppige (rums, knall, bums, peng), auch Jazz und Beat. Ohne sich beirren zu lassen, eilt sie hurtig weiter. Denn ihr Ziel sind die Theater Düsseldorfs. Nach einigen wenigen Minuten steht sie endlich vor der Oper. Vor dieser recht bekannten Kulturstätte hat sich eine kleine Menschenmenge versammelt, die ungeduldig auf Einlass wartet. In den Schaukästen ist auf Plakaten nachzulesen:
„Heute wird ´Wagner gegeben!“
„Nein, das ist nicht mein Stil! Ich suche eine leichtfüßige Musik!“
 
Also pendelt sie weiter durch die laternenerleuchteten Gassen. Von all den neuen, auf sie einstürmenden Eindrücken ungemein gefesselt, achtet sie nicht auf den Straßenverkehr, was aber einer so unerfahrenen Musiknote wie ihr selbstverständlich keiner verübeln darf. Denn normalerweise klebt die ja eigentlich still und starr auf ihrem Blatt. Unvorsichtig ist sie auf ihrem Kopf ein wenig zu weit auf die Straße gerollt. Plötzlich kreischt es schrill hinter ihr. Es ist ein Wagen, der ihr in der Dunkelheit ausweichen will! Wer überfährt auch schon gerne eine so niedliche kleine Note wie diese!

Bei seinem Bremsmanöver hat er ein anderes Fahrzeug gerammt, das auf der Gegenseite parkt. Fluchend steht der junge Fahrer dann neben seinem ebenfalls beschädigten Auto, wütend auf die kleine Note, wütend auf sich selber und ebenfalls wütend auf den ihm unbekannten Fahrer, weil der seinen Pkw auch unbedingt da hat parken müssen.
„Entschuldigung!“, stottert die kleine Note völlig eingeschüchtert und fügt unter Schock stehend hinzu:
„Darf ich ihnen zum Trost etwas vortönen?“
Komisch, der Mann findet diese Bemerkung nicht etwa nicht nur nicht nett, sondern sein Gesicht läuft vor Wut rot an. Hat sie den etwa beleidigt, oder - fühlt der sich einfach veräppelt?
„Deinetwegen komme ich jetzt viel zu spät zur Party!“, bullert der Mann los.
Die kleine Note weiß darauf nicht viel, um ehrlich zu sein, gar nichts zu ihrer Entlastung zu sagen, murmelt nur etwas Undefinierbares vor sich hin und verdrückt sich schnell. Bloß weg hier! Das Ganze ist für sie ja noch einmal glatt gegangen.

Da hört sie neben sich eine piepsige Stimme:
„Na, so ´was! Ich wandere schon seit mehreren Stunden hier durch die Gegend, suche Gesellschaft und treffe jetzt dich! Aber unter solchen Umständen! Bist du denn das erste Mal ohne dein Notenblatt unterwegs? Weißt du, dass das für uns Noten nicht so ganz ungefährlich ist ?! Sei froh, dass du dir gerade eben nicht den Notenhals gebrochen hast!“

Verblüfft dreht sich die kleine Note in Richtung der feinen Stimme. Ja, so ein Zufall! Wer da auf sie einredet, ist tatsächlich eine andere Note, die ebenfalls allein unterwegs ist.
"Nach dem zu urteilen, was du gerade erzählt hast, reist du aber im Gegensatz zu mir bestimmt nicht den ersten Tag selbstständig durch die Welt!"
„Stimmt!“, bestätigt ihr die Andere. „Ich bin meinem Schöpfer für seine Kompositionen unpassend erschienen. Deshalb hat er mich vor einer Woche einfach aus dem Notenblatt herausgerissen! - Nun suche ich nicht nur eine Kameradin, sondern auch ein für mich passendes Notenblatt."
„Lass uns gemeinsam herumziehen. Wir sind dann beide nicht allein und können aufeinander aufpassen“, schlägt die kleine Note vor.
„Ich bin übrigens ein ´A` “, stellt die Andere sich vor.
"Und ich heiße ´E`", antwortet das ´E`.

Gemeinsam schlendern sie an den Bars vorbei. Unsere kleine Note hat ja noch nie eine von innen gesehen. So überredet sie ihre neue Freundin, kurz eines dieser Lokale zu besuchen. Das hätten sie sich doch besser ersparen sollen! Zu dumm, dass die kleine Note sich ihre Ohren ja nicht zuhalten kann! So furchtbar hat sie sich den Krach und das Getümmel nicht vorgestellt.
´Warum können die Menschen sich denn nicht so vornehm und zivilisiert benehmen wie wir Noten auf unseren Blättern?`, fragt sie sich.
Das sollte doch nicht etwa Musik sein:
„Peng, peng, peng – rums; peng, peng, peng – rums!“
Dazu die verrückten Verrenkungen der Leute auf der dafür viel zu kleinen Tanzfläche - einfach unmöglich.
„Die landen doch sicherlich nach Ende der Party alle im Krankenhaus oder sogar in der Klapsmühle!?“, meint sie zu ihrer Freundin.

Die steht neben ihr, biegt sich halb den Notenhals weg vor lauter Lachen und schlägt ihr tatsächlich vor: „Du, sollen wir auch mal?“
Empört schaut die kleine Note sie an:
„Von wegen! Ich benehme mich doch nicht dermaßen daneben!“, hält sie ihrer Freundin vor. „Außerdem fehlt mir wirklich jede Lust, mir bei dem Gedränge von den Menschen auf dem Kopf herumtreten zu lassen. Der tut mir bei dem Gedröhne sowieso schon weh genug!“
Das fehlte gerade noch! Eine kleine Note mit in einer Menschendiskothek gebrochenem Hals... Nein, danke vielmals! Danach würde sie in einem der Menschenkrankenhäuser landen und ob die dort überhaupt Ahnung von der Behandlung beschädigter Notenhälse haben, ist sie sich nun wahrlich nicht sicher. Hinterher würden sie ihr den noch falsch herum eingipsen und sie könnte eine spätere Karriere dann endgültig vergessen.

Nach etwa fünf Minuten reicht es unseren zwei wohlerzogenen Noten in diesem Hexenkessel. Fix rollen sie nach draußen, um sich dort von dem Krach zu erholen. Was nun? Bei einem suchenden Blick über die Straße fällt beiden gleichzeitig ein bestimmtes Geschäft ins Auge:
„Sieh doch! Ein großes Musikgeschäft. Da gehen wir hin. Dort finden wir bestimmt in den Regalen dutzendweise Notenhefte mit ganz vielen, ebenfalls so guterzogenen Noten, wie wir es sind!“, schlägt das ´E`vor.

Wo findet man in Düsseldorf wohl solch` exklusive Geschäfte? Natürlich an der berühmten Düsseldorfer Königsallee! Wer glaubt, zuviel Geld zu haben, der sollte nur einmal dort entlang schlendern. Auch unsere beiden Noten wandern längs der ´Kö`. Vorsichtshalber stehen an den in den Schaufenstern ausgestellten Artikeln keine Preise. Sonst würden manche der Kunden schleunigst abwandern. Die Preise erfährt man erst, wenn man schon im Ladeninnern gelandet und damit ziemlich fest beziehungsweise unlösbar an der Verkaufsangel hängt und hinterher das total leere Geldtäschchen des Prestige wegen anschließend notgedrungen in Kauf nimmt! Darum sind die beiden Noten froh, gar keine Geldmittel zu haben und somit heile - in ihrem Falle ungekürzt - von der Königsallee wieder runterzukommen!

Doch das Musikgeschäft wollen sie nicht auslassen. Irgendwie haben beide das Gefühl, bald am Ziel ihrer Reise zu sein. An einem solchen Abend wie diesem sind Dinge möglich, die normalerweise unmöglich sind. So spazieren die kleinen Abenteurer durch die verschlossene Ladentür ins Innere. Sie landen in einer völlig anderen Welt und kommen aus dem Staunen und Bewundern nicht mehr raus! Fasziniert betrachten sie die kunstvoll gearbeiteten, blitenden Musikinstrumente, die dort an der Wänden stehen. Es sind Geigen, Posaunen und Gitarren. Im zweiten großen Raum des Geschäftes aber beginnen die kleinen Notenherzen dann heftig zu klopfen.

An der einen Längsseite des hohen Raumes stehen dicht an dicht Zimmerdecken hone Regale, auf denen Hunderte wertvoller Notenhefte lagern. Auf der gegenüberliegenden Seite aber sehen sie wahrhaftig Klaviere und sogar einen riesigen, weißen Flügel. Die beiden Noten stehen sprachlos vor Ehrfurcht davor. Was kann es aber auch für sie Schöneres geben als sich vorzustellen, auf dem Notenhalter eines solchen Instrumentes auf einem wertvollen Notenblatt zu stehen und dann von begnadeter Pianistenhand in einen jubilierenden Ton verwandelt zu werden?

Fast vergessen die Zwei, weshalb sie hier sind: Sie haben ja vor, die vornehmen Klassiknoten in jenen Heften um einen Tipp zu bitten,  wie sie endlich "ihre" Melodie finden können.
Ein wenig schüchtern rollen sie an der senkrechten Wand des ersten Regals herauf bis hin zu den Heften mit dem edelsten Äußeren. Mit geschwungener Goldschrift tragen diese stolz den Namen des Komponisten zur Schau, dessen Werke sie mit ihren festen Deckeln vor Beschädigung bewahren, als ob sie wüssten, wie sehr diese Melodien von vielen Generationen der Klassikliebhaber unter den Menschen geliebt werden.

Entsprechend hochmütig linsen sie auch auf diese heranrollenden Noten herab, die den Mut haben, in diese hochvornehme Gesellschaft vorzudringen.
„Die wagen es doch tatsächlich, hier aufzukreuzen, ohne wenigstens auf einem halbwegs anständigen Notenblatt ihre Aufwartung zu machen! Was suchen denn solche ordinären Straßennoten in unserem exklusiven Zuhause? Eine Unverschämtheit, uns in solch` einem baren Aufzuge überhaupt ansprechen zu wollen!!“
Die meisten dieser Snobs flattern noch nicht einmal, der geringsten Höflichkeit wegen, mit ihrem Deckblatt für ein zurückhaltendes´Guten Tag!` Nein, still und abweisend liegen sie völlig starr da in ihrem Regalfach und behandeln die armen, kleinen Noten wie Luft. Mit so etwas würden sie doch nicht kommunizieren!

Aber nicht jeder in der High Society vertritt diese Einstellung. Zum Glück lassen sich einige nicht von solchen Vorurteilen leiten, sondern sind bereit, ihr Herz für Angehörige anderer Schichten zu öffnen. So auch manche Klassiknoten. Sie sind selbstbewusst genug, um auch nett zu Straßennoten zu sein, haben es nicht nötig, die trotz des eigenen Erscheinungsbildes bestehenden Komplexe hinter einem ostentativen Snobismus zu verstecken.

Auf dem dritten Regal von links treffen unsere Zwei genau auf ein solches Heft. Bereitwillig blättert es sich nach einem freundlichen Grußwort auf, damit die kleinen Straßennoten ein wenig mit ihren edlen Artgenossinnen reden können.

Es wird ein großes Staunen auf beiden Seiten. Die vornehmen Noten in dem Heft lassen sich von den beiden „ärmeren“ Freundinnen über die Welt da draußen erzählen, von der sie ja nur, auf ihr Notenblatt gebannt, einige, wenn auch sehr bedeutende Konzertsäle und Theaterbühnen kennen. Sie berichten den kleinen Noten von berühmten und berühmtesten Dirigenten, die mit ihrem Taktstock die Weise bestimmen, in denen die ihnen zugehörigen Töne gespielt werden. Sie erzählen von nicht enden wollenden Beifallsstürmen des Publikums, das dann nach der Vorstellung in einer fast feierlichen Stimmung wieder nach Hause fährt. Bei diesen Schilderungen fällt es den kleinen Noten schwer, nicht vor Aufregung ein wenig hin- und herzurollen, obwohl sie eigentlich guterzogen ganz still auf der Stelle stehen möchten. Diese Klassiknoten beschreiben ihre Welt so lebendig, dass sich ihre kleinen Zuhörerinnen alles wunderbar bildhaft vorstellen können.

Hinterher bedanken sich unsere kleinen Noten mit einer zarten Beugung ihres zierlichen Halses. Nun beginnen sie ihrerseits, ihre bisherigen Abenteuer zu schildern. Sie erwähnen die fast unendlich vielen, verschiedenen Straßengeräusche, teils angenehmer, teils unangenehmer Natur bis hin zu denen, die kaum zu ertragen sind. Sie schwärmen von den phantasievoll geschmückten Straßen mit all dem Tannengrün jetzt in der Weihnachtszeit und dem warmem Schein von Hunderten von Kerzen in den Wohnungen der Menschen. Sie erwähnen die herrliche Schneedecke, die alles so märchenhaft schön erscheinen lässt.

Nicht vergessen sie ihr kleines Abenteuer in der verrückten Diskothek. Allein bei dem Gedanken an jenen scheußlichen Lärm vor wenigen Minuten wird ihnen fast ein wenig mulmig. Eine besonders nette Klassiknote hält mit ihrer Meinung darüber nicht hinter den Berg:
„Und da habt ihr euch hineingewagt!? Ich wäre vor Schreck auf meinen Hals gefallen – oh Gott, wie furchtbar!“ Die kleinen Noten freuen sich über diese sie ein wenig bewundernde Bemerkung der Klassiknote, verlieren dann gänzlich alle Scheu. Sie nehmen ihren ganzen Mut zusammen und stellen die für sie wichtigste Frage aller Fragen auf dieser aufregenden, langen Reise:
„Kannst du uns einen Rat geben? Wir pendeln schon fast die ganze Nacht durch die Gegend, um eine passende Melodie für uns zu finden. Sie soll leicht-beschwingt sein. Denn die Künstler, die uns geschaffen haben, lieben besonders romantische Weisen. Spielen sie diese dann auf ihren Instrumenten, geraten die Menschen ins Träumen.“

„Gerne helfe ich euch“, antwortete die Klassiknote: „Ihr seid nämlich fast am Ziel eurer Wünsche! - Guckt doch nicht so ungläubig!“

Dann beschreibt ihnen die nette Note den Weg zu einem besonders gemütlichem Tanzlokal, das ganz in der Nähe in einer Seitenstraße der Königsallee liegt. Aufgeregt lauschen die kleinen Noten ihren Worten. Soll ihr sehnlichster Wunsch tatsächlich in Erfüllung gehen? Aber die Klassiknote redet so überzeugend, dass die beiden Abenteurerinnen langsam, ganz langsam an ihr baldiges Glück zu glauben beginnen.
„Denk´ nur!“, sagt die kleine Note zu ihrer Freundin, „ich hab` das Gefühl, ich träume!“
Begeistert verabschieden sich die Noten von ihrer netten Ratgeberin mit vor Freude tiefschwarz blinkenden Köpfen, wünschen ihr und all den anderen Noten ein Jahrhunderte langes, ruhmvolles Leben und enteilen, um möglichst rasch die Königsallee zu überqueren und mit Spitzengeschwindigkeit in die dritte Seitenstraße links einzubiegen.

In ihrer ja verständlichen Aufregung beachten sie keinerlei Geschwindigkeitsbeschränkungen, die zu befolgen jedoch der Sicherheit wegen erst recht für so zarte Wesen wie Noten dringendst anzuraten wäre. Die Beiden rollen viel zu schnell auf die andere Seitenstraße zu. Gut nur, dass das É` ja seine Kameradin zur Seite hat, mit viel mehr Erfahrung in der Menschenwelt und somit auch mit den Gepflogenheiten im Straßenverkehr. Nach wenigen Minuten des Dahinrasens siegt bei dieser die Vernunft. Erschrocken hält sie schnellstens unser leichtsinniges Notenkind zurück.
„Bist du verrückt geworden? Bei dem Tempo kriegst du doch gleich die Kurve nicht und saust vor den nächsten Baum!“
Beschämt bremst die kleine Note ab, indem sie mit der Spitze ihres Notenhalses über das Straßenpflaster kratzt. Na, noch einmal Glück gehabt! 

Bedächtig rollt sie weiter, stets nach dem besagten Lokal Ausschau haltend.
„Da ist es!“, ruft sie und deutet mit ihrem Hals auf ein hellerleuchtetes Haus.
Trotz der noch größeren Entfernung klingt ihnen bereits Musik entgegen. Was unsere beiden Reisenden da vernehmen, lässt ihr Notenherz höher schlagen. Diese Weisen haben keinerlei Ähnlichkeit mit dem Geheule in der Bar vorhin. Sanft und verspielt sind die Melodien, mit deutlich erkennbarem Takt vorgetragen. Denn in einem Tanzlokal bewegen sich die Menschen auf dem Parkett genau im Rhythmus der Musik.

Neugierig durchrollen die kleinen Noten die große Eingangstür, die Garderobenecke und durch die Tür des Tanzsaales. Staunend betrachten sie alles. Er ist sehr groß. Rundum laden gemütliche Sitzecken zum Platz nehmen ein. Vor den hochlehnigen Sofas stehen rechteckige und auch runde Tische, die echte Kerzen in  hübschen Messingständern zieren. 
"Wie nett das aussieht!", flüstern sich die Noten zu.
Ganz besonders aber gefällt ihnen die Tanzfläche in der Mitte des Saales. Mit der Enge in den Jugendbars ist dies alles hier wirklich nicht zu vergleichen, sondern eher mit den schicken eingerichteten Räumen einer Tanzschule. In der einen Ecke am Rande der Tanzfläche spielt ein Disjockey Cd`s ab.

Hier fühlen sich die Noten gleich wohl und heimisch. Jedes Mal, wenn ein neues Lied erklingt, stürmen viele Paare auf das Parkett. Es ist eine Freude, den elegant gekleideten Leuten zuzusehen, die sich im Einklang mit der Musik im Kreise drehen. Manche von ihnen tanzen besonders gut. Stolz zeigen sie ihr Können mit komplizierten Figuren und genießen die bewundernden Blicke der Umsitzenden. Zu denen zählen auch die beiden kleinen Noten, denen vor Stauenen fast die Augen aus dem Kopf fallen.

Nach einer kurzen Pause setzt erneut die Musik ein. Auf einmal horchen das Á`und das´E`auf. Ihnen wird warm ums Herz. Bei diesem Lied hält sie nichts mehr auf ihrem Platz. Sie spüren beide:
„Soo zart soll unsere Melodie klingen. Ganz ähnlich soll sie sein!“
Die Musik durchdringt ihre Körper. Zuerst zittern ihre Hälse zögernd hin und her, dann rucken sogar ihre Köpfe zur Seite.

„Sollen wir nicht auch...?“, drängt das ´A`.
Schon zieht es das ´E`auf das Parkett. Liebend gern folgt die kleine Note. Langsam drehen sie sich im Kreise. Sie neigen beim Tanzen die hübschen Notenhälse und lassen sich einfach von der zarten Melodie ins Traumland tragen. Mit leuchtenden Gesichtern, von der melodie verzaubert, wirbeln die Paare immer schneller im Kreise. Wie dann auch unsere Noten. sie spüren kaum noch den Boden unter ihren Füßen und bilden sich nur zu gerne ein, sie würden schweben. Sie schlingen ihre Notenhälse umeinander und geben sich ihren Träumereien hin.
„Wenn dieser Tanz doch niemals endete ...“ seufzt die kleine Note.
Beide schließen die Augen und sind eins mit der Musik.
Als es wieder ´Pause!` heißt, wissen sie, dass sie ihre Melodie gespürt haben. Nur komponiert werden muss sie noch - genau so leicht und verträumt!

Wird wohl ihrem Meister mrogen die passende Idee dazu einfallen?
"Ob ich mich vielleicht noch ein zweites Mal um Hilfe an den Engel wenden darf ... ?", überlegt das ´E`.
Nach kurzem Zögern kommen das „E“ und das „A“ überein, es einfach zu wagen. Etwas Schlimmeres als eine Absage kann ihnen nicht blühen. Also Mut!
Das ´E` denkt innig an seinen Kameraden im Himmel, der ihm doch auf so wunderbare Weise schon einmal geholfen hat. Ob er es auch diesmal tut? Nach einem sehnsüchtig vorgetragenem Gebet wartet es gemeinsam mit seiner Freundin auf ein Zeichen von dort oben. Ganz gerade und still stehen die beiden Noten auf ihrem Platz.

Sie müssen sich nur kurz gedulden! Der Engel des kleinen ´E`s` hat die Bitte vernommen und die Weihnachtsbäckerei unterbrochen. Ein zweites Mal tritt er die Reise zu seiner kleinen Freundin an. Gar nicht lange dauert es, dann leuchtet diesmal vor dem Tanzlokal auf der dunklen Straße wieder dieses wundersame, wärmende Licht. In dessen Strahlenkranz steht der Engel. Liebevoll spricht er die kleine Note an:
„Da du eine besonders liebe Note bist, will ich dir nochmals helfen! Ein Musiker, der seine Noten so zärtlich akkurat aufs Papier bannt, ist ein sehr sensibler Mensch, der auch mit allem Anderen behutsam umgeht. Zudem ist es sehr lobenswert, dass du nicht nur an dein eigenes Glück denkst, sondern, während du deine eigene Freude genießt, auch noch überlegst, wie du deinem Künstler dafür danken kannst, dass es dich gibt. - Deshalb will ich auch deiner Freundin helfen.  Hört zu: Eure Freundschaft wird nach dieser Traumnacht nicht vergehen. Euch wird es beschieden sein, in einer gemeinsamen Melodie euer Glück zu finden. Morgen wird dein Musiker eine Weise komponieren, die noch tausendmal schöner ist als alles, was ihr je in eurem Notenleben gehört habt! Sie wird ihm und euch zu Ruhm und Ehre gereichen!“
Der Engel spricht`s und ist verschwunden und mit ihm jenes wundersame Licht.

Die beiden Noten sehen sich an. Einen Augenblick lang fehlt es ihnen an Worten. Als sie sich wieder gefasst haben, strahlt nicht nur ihr nun tiefschwarzes Notenkopf vor Glück ... Nein, sie zittern am ganzen Körper vor Freude!
„Wir werden auf ewig zusammensein!“, jubeln sie. „Nicht nur die Straßen, sondern auch die großen und berühmten Theater dieser Welt werden wir erobern!"
Während sie solchen Gedanken nachhängen, geschieht etwas mit ihnen. Wunderlich wird ihnen zumute. sie fühlen sich fast schwerelos. Da erklingt eine liebliche Melodie. Als unsere Abenteurerinnen einen Blick zurück auf das Tanzlokal werfen, stutzen sie. Es erscheint ihnen viel kleiner als vor wenigen Minuten. Eigenartig – was ist denn mit ihnen los? Verunsichert halten sich die Noten umklammert.
„Bei diesen zarten Klängen kann uns nichts Böses widerfahren!“, beruhigen sich die da etwas ängstlichen Zwei gegenseitig. Das Gefühl der Leichtigkeit, dass sie empfinden, ist keine Einbildung. Nein, die Noten haben sich nämlich vom Boden gelöst, sind hoch in die Luft gestiegen und sausen als winzige Flugzeuge am Himmel dahin. Die Häuser unten bleiben wie Playmobilspielzeuge zurück, die Autos wie bunte Stecknadelknöpfe. Die Menschen können sie schon gar nicht mehr erkennen. So weit haben sie sich emporgeschwungen.

Wie Düsenjäger jagen sie über die Welt dahin. Sie fliegen Kurven und weichen schweren Wolken aus, die der Erde neuen Schnee bescheren wollen. Höher und höher steigen sie, überwinden die dicke Wolkenschicht, um schließlich in die rabenschwarze Nacht über ihr einzutauchen. Aber, halt – so ganz schwarz ist es hier oben nicht! Statt der gelben Sonnenstrahlen des Tages umgeben sie Millionen und Abermillionen winzige und größere, schwächere und ganz hell blinkende Himmelslaternen, die Sterne. Andächtig geworden, setzen die Noten wortlos ihren Flug durch die ewige Stille fort. Viele tiefgründige Fragen stellen sie sich beim Anblick des geheimnisvollen Sternenmeeres:
´Birgt unsere kleine Erde in dem riesigen Universum wirklich das einzige Leben in diesem allumfassenden Wunder? Was wird uns noch begegnen?`
Trunken von der sie umgebenden Pracht, denkt die kleine Note:
´Die Sterne sind unvergleichlich schöner als all die Diamanten in den teuren Geschäften der Königallee!`

Wiederum verändert sich alles um sie her. Jetzt weichen die Himmelslaternen vor ihren bewundernden Blicken zurück und verblassen langsam. Da der Anblick der Sterne die Noten in ihrem Innern nicht mehr wärmt, beginnen sie zu frieren. Sie sind zurück in die Wolkendecke eingetaucht. Schwer und dunkel hängt der Wolkenmantel am Himmel. Aus ihrem Sternentraum herausgerissen, finden sie in der Kälte die Sprache wieder:
„Warum können wir denn nicht für alle Zeiten dort oben die Gesellschaft der Sterne genießen?“, fragt die kleine Note ihre Freundin, die ebenfalls vor sich hin zittert.
„Hast du denn vergessen, weswegen wir diese Reise unternommen haben?“
„Nein, du hast ja Recht. Und, denke ich an das Schöne, das uns erwartet, wird es mir gleich bestimmt wieder wunderbar warm.“ 

Ja, sie sind auf dem Rückflug zur Erde, auf der Heimkehr in ihre kleine verträumte Stadt mitten auf dem Lande. In die Trauer ob all des Zauberhaften, das sie nun hinter sich lassen, mischt sich eine immer intensivere Freude in Erwartung dessen, was noch auf sie zukommt. An einem sachten hellen Schimmer am Horizont erkennen die beiden Heimkehrerinnen, dass die Nacht, die sie soviel Gutes hat erfahren lassen, sich ihrem Ende zuneigt. Schon können sie die Kirchturmspitze ihrer Kirche erkennen und sehen bereits die vertrauten Straßen unter sich. Noch eine Flugkurve und sie sind daheim. Das heißt: Unsere kleine Note ist daheim!
„Von nun an ist dieses Haus auch dein Zuhause. Das hat mein Schutzengel mir fest versprochen!“

In den letzten beweglichen Minuten ihres Notenlebens rollen sie durch die Haustür des Heimathauses der kleinen Note, setzen sich auf die Kante des Treppengeländers und huschen hoch bis in den ersten Stock. Da es eine Traumnacht ist, rollen sie durch die geschlossene Wohnungstür, durchqueren den Flur, setzen ihren Weg an der Kante des langen Wohnzimmerteppichs fort und erreichen den großen Schreibtisch ihres Meisters.
"Schnell! Rasch die Schreibtischkante hoch und dann an der kante der Tischplatte entlang zurück auf mein Notenblatt!", mahnt das ´E`.

Beide stellen sich auf die Linie, die der Künstler dem ´E` zugewiesen hat. Dort benehmen sie sich von diesem Augenblick an wieder wie alle guterzogenen Noten auf ihrem Notenblatt. Kerzengerade stehen sie, wackeln weder mit dem Kopf, noch zittert ihr Hals hin und her. Stattdessen warten sie da mit stolzer Haltung und völlig still auf den Musiker und sind sehr gepsannt auf die versprochene Melodie.


Inzwischen wird es langsam hell in der gemütlichen Dachstube. Die Nacht ist vorüber. Es folgt ein Vormittag mit vielen Schneeflocken. Diese Flöckchen verdecken behutsam die Fußspuren des späten Spaziergängers, der am Vorabend durch die Straßen und Gässchen gewandert ist. Alles sieht wieder völlig unberührt aus und deswegen sehr verträumt.

In der kleinen Dachwohnung rührt sich etwas. Richtig, Herr Sänger ist aufgewacht. Er reckt sich erst mal kräftig. Dann öffnet er, noch immer verschlafen, die Augen. Es scheint ihm, als habe er in der Nacht einen wunderlichen, aber schönen Traum geträumt. Irgendwie ist er sehr guter Laune an diesem Morgen.
„Eigentlich doch komisch“, sagt er sich, „denn eine Melodie habe ich immer noch nicht!“
Fröhlich steht er auf, gönnt sich ein warmes Bad, frühstückt gemütlich und setzt sich dann an seinen Schreibtisch, um sich seinen Kompositionen zu widmen.

Erschrocken und verdutzt hält er plötzlich inne. Wie? Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen!? Er weiß doch genau, dass er gestern frustriert den Stift zur Seite gelegt hat, weil ihm einfach nichts einfallen wollte. Und jetzt? Ganz deutlich kann er sie sehen: Diese beiden Noten, von denen er aber doch nur die eine gemalt hat. Aber wo kommt die andere Note her? Ach was, vielleicht ist er trotz Badens und Frühstückens noch nicht richtig wach! Er geht ins Bad und fährt sich vorsichtshalber mit einem eiskalten Waschlappen durchs Gesicht. So, zurück zum Schreibtisch. Da wird nun alles wieder seine Ordnung haben.

Verunsichert betrachtet er das Blatt. So etwas gibt es nicht, das kann einfach nicht sein! Er glaubt zu träumen. Noch immer sieht ihm da diese fremde kleine Note entgegen!
Der junge Künstler wi9rd ganz nachdenklich:
„Es ist kurz vor Weihnachten! Hat dort oben im Himmel vielleicht jemand meine verzweifelten Versuche registriert, etwas Schönes zu komponieren? Ist mir etwa ein kleines Wunder widerfahren?“
Je länger er überlegt, umso wahrscheinlicher erscheint es ihm. Da der Künstler nicht an Zauberei glaubt, gibt es gar keine andere Erklärung Der Künstler glaubt nicht an Zauberei. Also gibt es für ihn gar keine andere Erklärung für das Auftauchen dieser fremden kleinen Note.

Von tiefer Dankbarkeit erfüllt, nimmt er den immer noch sorgfältig gespitzten Bleistift zur Hand und entschließt sich dazu, dieses ´A` ebenfalls für seine neue Melodie zu nutzen. Da er nun weiß, dass ihm ein Wunder beschert worden ist, klingt in seinem glücklichen Herzen eine neue Weise. Die nächsten Stunden verbringt er damit, mit Hilfe ´seiner` kleinen Note und der kleinen ´Himmelsnote` diese Weise ins Leben zu rufen. Flink schreibt er die neuen Noten auf die Linien, damit sie ihm nicht noch in letzter Sekunde wieder entfallen. Seine Finger fliegen nur so über das Blatt. Mit jeder vollgeschriebenen Linie wird er froher, bis er schließlich stolz seinen Bleistift zur Seite legt. Seine Melodie, seine Melodie steht da vor ihm auf dem Papier und sehnt sich offensichtlich danach, gespielt zu werden.

Vorsichtig probiert er auf der Geige den ersten Ton. ´Ping!` macht es hell. Das gefällt ihm recht gut. So lässt er weitere Töne folgen. Ihn erfüllt unbändige Freude bei dem, was er da hört. So eine herrliche Melodie hat er in seinem ganzen Leben noch niemals vernommen.

Am Nachmittag besucht ihn sein Freund. Während des gemütlichen Kaffeetrinkens erwähnt der Musiker seine neueste Komposition. Natürlich möchte jener sie sofort hören. Rasch holt der Musiker seine Geige. Bereits die ersten Töne lassen den Gast aufhorchen. Je länger Herr Sänger spielt, umso verträumter lauscht er dieser Weise. Kein einziges Mal unterbricht er den jungen Musiker. Gebannt nimmt der Freund diese Melodie in sich auf. Der Musiker hat seinen Vortrag beendet und sieht ihn forschend an. Aber Fragen braucht er keine zu stellen. Die Antwort kann er auf dem Gesicht seines Freundes ablesen. Pure Begeisterung sieht er da.
„Das ist das Schönste, was ich je gehört habe“, bemerkt jener. „Diese Musik muss noch viel mehr Menschen erfreuen.“

In den nächsten Tagen organisiert er ein Künstlertreffen. Auch dort spielt der Musiker die neue Weise vor. Seine Zuhörer reagieren begeistert, drängen ihn, diese neueste Kompositon einem noch größerem Publikum vorzutragen. Ein Klassikliebhaber kennt den Direktor des Opernhauses gut und berichtet er ihm von diesem jungen Talent, unserem Musiker. Neugierig geworden, lädt der Direktor den jungen Mann zum Vorspiel ein. Fasziniert lauscht er der zauberhaften Melodie.
„Was halten Sie davon, ihr Werk im Rahmen eines Galaabends zum Besten zu geben?“ 
Herr Sänger  kann es kaum fassen, dass ihm diese Ehre zuteil werden soll. Damit aber der Direktor sein Angebot nicht mehr zurückzieht, sagt er schnellstens zu.

Voller Lampenfieber wartet er dann am kommenden Samstag hinter der Bühne auf seinen Auftritt. Das Notenblatt hat er unter den Arm geklemmt. Neugierig schiebt er den roten Vorhang der Bühne ein wenig zur Seite, um einen Blick aufs Publikum zu riskieren. Ob das Haus wohl ausverkauft ist? Himmel, vor mehreren hundert Leuten soll er spielen? Es ist für ihn das erste Mal, auf einer so großen Bühne vor so erlesenem Publikum zu agieren. Natürlich ist er entsprechend nervös. Sein Herz klopft laut. Da hört er, wie er angekündigt wird. Schnell kontrolliert er im bereitstehenden Spiegel noch einmal sein Äußeres, rückt die Schleife des Smokinghemdes ein letztes Mal zurecht und ist eigentlich recht zufrieden mit sich. Er sieht in seinem dunkelblauen Anzug wirklich ausgesprochen schick aus.

Nun ist es soweit. Seine Hand umgreift etwas verkrampfter sein Notenheft. Noch einmal atmet er tief und betritt die Bühne. Es empfängt ihn ein höflicher Begrüßungsapplaus. Nach einer eleganten Verbeugung in Richtung des Publikums nimmt Herr Sänger auf einem Stuhl Platz und beginnt zu spielen. Erst klingen die Töne noch etwas schüchtern dargebracht. Dann aber vergisst der Musiker alles rings um ihn herum und konzentriert sich völlig auf sein Geigenspiel. Seine Noten in ihrem Heft wissen um die Bedeutung dieser Minuten und stehen kerzengerade auf ihren Linien. Ihre stolz blinkenden schwarzen Notenköpfchen vermitteln ihm Zuversicht. Immer lebhafter wird sein Spiel. Völlig entrückt sitzt er da, registriert keine Zuschauer mehr, sondern lebt nur noch in seiner Notenwelt und berauscht sich an seiner eigenen Musik.

Schon nähert sich sein Vortrag seinem Ende! Keinen Laut hört man im Publikum. Wie verzaubert sitzen die Leute in ihren Sesseln. Der letzte Ton verklingt, der Musiker hat alles gegeben. Nun sitzt er erschöpft auf seinem Stuhl und hat Mühe, wieder in die Wirklichkeit zurückzufinden. Noch immer ist Stille im Saal.
Dann jedoch wird diese knisternde Spannung von einem ersten Applaus aufgelöst. Ihm folgen immer mehr Hände, die mit ihrem Klatschen dem Musiker Ovationen darbringen. Schließlich erfüllt der Beifall des Publikums den ganzen Saal und lässt den Boden erzittern. Sogar Bravorufe schallen durch den Raum!

Der Musiker ist überwältigt. Wieder und wieder muss er sich bei tosendem Applaus verbeugen. Vor Glück stehen ihm Tränen in den Augen. Per Zufall wirft er während einer weiteren Verbeugung einen Blick auf das Notenblatt, das vor ihm auf seinem Notenständer liegt. Ist es Einbildung, oder haben ihm soeben seine beiden Anfangsnoten strahlend zugeblinzelt? Er ist sich nicht sicher, aber in seiner überschäumenden Freude blinzelt er, unmerkbar fürs Publikum, ebenso strahlend zurück.

Was er nicht ahnt: Die kleine, von ihm so liebevoll gezeichnete Note denkt in all dem Jubel:
„Jetzt sollten mich mal jene hochmütigen Klassiknoten sehen! Die wunderten sich, was so eine arme Straßennote alles erreichen kann. Die wären bestimmt neidisch!“
Und ihre Freundin ergänzt:
„Nun hätten wir das Recht, sie wie Luft zu behandeln! Denn wir haben es geschafft, nicht nur die weite Welt da draußen, sondern auch noch dieses berühmte Theater mit unserer Melodie zu erobern!“

Die beiden kleinen Noten sehen sich glücklich an, nicken noch einmal ihrem Musiker zu und geben sich dann ganz der Wonne des sie umrauschenden Beifalls hin. An diesem Abend zum ersten, aber bestimmt nicht zum letzten Male in ihrem sicherlich noch sehr, sehr langem Leben!!



Liebe Leser!

Ja, ja...der Walzer!!
Über Kommentare zu diesem Märchen würde ich mich ganz besonders freuen.

Gaby Schumacher
Gaby Schumacher, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.07.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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