Roman Scherer

Heimweg durch die Hölle

Unsere LKW standen auf dem kleinen Platz in der Mitte des Dorfes. Der Winterwind pfiff durch die engen Gassen. Wenn es zu einem Angriff kommen würde, wären die Dorfstraßen zu eng für eine schnelle Flucht. Es war später Nachmittag. Am frühen Morgen hatten wir Diesel am Flughafen von Sarajevo erhalten und sofort den Heimweg angetreten. Zur Zeit war es ruhig auf dem Weg nach Norden. Wir wollten das Kampfgebiet innerhalb von höchstens zwei Tagen hinter uns lassen, aber heute waren wir nur etwa 50 Kilometer weit gekommen.
Paul und ich hatten uns beim Fahren abgewechselt. Wir achteten darauf, nicht über die Grünstreifen zu fahren wegen der Minen. Gegen 14.30 Uhr waren wir auf einen niederländischen Kontrollposten gestoßen. Die leiteten uns auf eine Nebenstraße ins Gebirge um. Vor uns war es zu Kämpfen gekommen. Docteur Al Mahoud der den Convoi leitete hatte entschieden, die Nacht in diesem Gebirgsdorf zu verbringen. Wir stellten unsere Laster auf den Dorfplatz. Paul kümmerte sich um die technischen Fragen. Die anderen Mitfahrer, alle Freiwillige wie ich, gingen in die geöffnete Cantina am Marktplatz. Das Dörfchen machte einen gepflegten Eindruck . Der Krieg hatte es bis jetzt offenbar verschont. Beim Einfahren in den Ort hatte ich neben der Straße einige Sandsackstellungen mit Milizen gesehen. Sie gehörten nicht zu einer mir bekannten Miliz. Ich drehte mir eine Zigarette und schlenderte an dem malerischen Rathaus vorbei in Richtung der Cantina. Ein gewöhnlicher Dorfplatz, mit Rathaus, Kirche, Brunnen und einer Kneipe, wie in jedem Dorf der Welt, eben nur auffällig, wenn man bedachte, daß rund herum die Welt in Trümmer fällt. Im Gegensatz zu Sarajevo gab es hier keine Zerstörung, nur einige bewaffnete Männer riefen den Krieg zurück in die Erinnerung. Ich warf meine Kippe in den verharschten Schnee und betrat die Cantina. Es gab etwas zu Essen. Überhaupt schien hier kein Krieg zu sein. Ein paar einheimische Männer standen an der Theke. Al Mahoud schob eine Kiste Thunfisch in Dosen und Trockenmilch über den Tresen. Es gab Kartoffelsuppe mit irgendeiner Fleischeinlage, ich denke es war Hammel, schmeckte nach diesem langen Tag aber köstlich. Im Obergeschoß hatte Mahoud ein paar Zimmer gemietet. Wir knobelten die Nachtwache aus und ich erwischte die Hundswache zwischen 12 und 2 Uhr Nacht. Es lohnte sich nicht vorher ins Bett zu gehen. Paul legte sich früh hin, er würde morgen als erster fahren. Nach dem Essen zog ich mit den Mantel über und ging hinaus. Das Dorf lag im Dunkeln. Ich schlenderte durch die ausgestorbenen Gassen. Am Ortseingang traf ich auf einen Doppelposten. Es waren zwei junge Männer, die zuvor in der Cantina in unserer Nähe gesessen hatten. Sie sprachen mich auf Deutsch an.
„Hast du Zigaretten?“ Ich reichte meinen Tabak herüber und zündete mir selbst eine an.
„Ihr wart in Sarajevo? Wie sieht es da aus?“
Ich erzählte ihnen kurz von Sarajevo und ein paar meiner Erlebnisse. Die Dorfmilizionäre erzählten mir von den Problemen die sie hier hatten. Vor dem Krieg hatten im Dorf Serben, Kroaten und Bosnier friedlich zusammengelebt. Die Serben waren jetzt fort. Kroaten und Bosnier sicherten das Tal ab. Wie lange sie den Krieg aus dem Tal halten konnten wußten sie nicht. Im Nachbartal sammelten sich die Serben. Die dort ansässigen Bosnier und Kroaten waren hierher geflohen. Im Laufe des Gesprächs fiel immer wieder der Name Arkan. Ich hatte den Namen schon in Sarajevo gehört. Nur hinter vorgehaltener Hand sprach man dort von diesem Mann. Als sei er der Leibhaftige selbst, erwähnt man seinen Namen nur flüsternd.
Ich zog meine Jacke zu und schlenderte weiter. Die drei LKW’s standen nebeneinander. Ich setzte mich auf den Bock und zog die Tür des Führerhauses hinter mir zu. Ich kroch in den Schlafsack hinein, der auf dem unteren der beiden Pritschen des Führerhauses lag.
Der Dorfplatz lag dunkel. Aus dem dunklen Lastwagen blickte ich zur Kirche und zum Ortsausgang in Richtung Sarajevo. Alles war dunkel. Die Sterne sah man deutlich am klaren Nachthimmel über dem Tal. Es gab keine beleuchteten Ortschaften mehr in diesem Teil Bosniens. Die große Hauptstadt des Landes lag keine 50 Kilometer entfernt, trotzdem sah man nichts von ihr. Die schneidende Kälte drang duch den Schlafsack. Neben der Kirche tauchte eine der Wachen auf. Der Milizionär zündete sich vor der Kirchpforte eine Zigarette an. Das hätte er sich in Sarajevo nicht getraut, dort zielten die Sniper auf die Zigarettenglut. Nirgens auf der Welt ist das Rauchen gefährlicher. Der Soldat blieb nicht allein. Aus dem Schatten neben der Kirche tauchte ein Mädchen auf. Sie küßte ihn. Ich schaute eine Zeit lang zu, dann mußte ich doch auf mich aufmerksam machen. Die beiden schauten zu mir herüber, grinsten und küßten sich weiter. Wenn es euch nicht stört, mich ganz gewiß nicht. Ich zog den Vorhang vor der Pritsche zu und rollte mich auf die Seite, redlich bemüht, die eiskalte Rückwand nicht zu berühren. Irgendwann bin ich wohl in einen recht unruhigen Schlaf gefallen. Die Kälte verfolgte mich sogar in meine Träume, und nur die Erinnerung an Dana machte mich etwas warm halten.
Es war so gegen 5 Uhr früh. Alles lag noch in tiefer Dunkelheit, als auf dem Dorfplatz die Hölle losbrach.
Irgendwer feuerte eine automatische Waffe ab. Mit einem Satz war ich aus dem Schlafsack. Der Wagen war nicht getroffen. Ich zog den Vorhang auf. Draußen war eine Menge Geschrei. Vor der Kirche stand ein Jeep.
Obwohl ich nicht sicher war was vorging, stieg ich aus. Al Mahoud und die andern waren schon auf den Beinen. Sie stapften durch den frischen Schnee der in den letzten Stunden gefallen war.
„Zieht die Schneeketten auf, mach eure Tanks voll. Wir fahren in 20 Minuten.“
Ich blickte Paul an. Er warf sein Bündel auf den Bock, dann kam er um den Wagen.
„Gib mir den Tabak bitte.“ Mit zittrigen Händen drehte er sich eine Zigarette.
„Was ist los, was soll die plötzliche Eile ?“
„Mahoud hat vorhin einen Funkspruch vom Flughafen aufgefangen, die Serben kommen hierher.“ Mir wurde trotz der Kälte ganz heiß. „Wir müssen weg bevor die Einheimischen versuchen auf die LKW zu kommen.“
Der Lastwagen war vollgetankt. Ich schwang mich auf den Fahrersitz, Paul, der eigentlich zuerst fahren sollte protestierte nicht.
Auf dem Platz wurde es lebendig. Milizen tauchten auf. Sie schrien herum und gestikulierten. Ich verstand kein Wort. Mahoud gab das Zeichen und wir warfen die Motoren an. Wir wollten die Autos erst mal warmlaufen lassen. Die Gebirgsstraße war schneebedeckt und wir würden sowieso nur langsam voran kommen. Einer der Männer mit denen ich am Abend gesprochen hatte kam auf den Platz gelaufen und deutete talabwärts. In die Leute die sich inzwischen versammelt hatte kam Bewegung, die Männer rannten zu ihren Häusern, Autos mit kleinen Anhängern wurden vorgefahren. Von unserer Gruppe sah ich es wohl als erster. Ich schluckte und bekam kein Wort heraus. Mit der Hand deutete ich an der Kirch vorbei, talabwärts. Paul schaute erst mich an, folgte dann aber der Richtung in die ich wies. „Merde“ Unten am Taleingang, etwa 6 bis 7 Kilometer entfernt war helles Licht zu sehen, Feuer. Gestern hatten wir dort ein paar kleine Bauernhöfe passiert. Sie schienen in Flammen zu stehen. Mahoud kam herübergelaufen. „Roman, wir fahren sofort los. Arkan kommt.“ Ich wollte gerade den ersten Gang einlegen, als der Milizionär auf meinen LKW zugelaufen kam. „Halt, halt. Ihr könnt nicht losfahren, die Straße über den Pass ist nicht frei.“
Ich stieg aus, den Motor ließ ich laufen. Mahoud kam zu mir gerannt. „Was soll das?
Wir müssen los!“
Der Milizionär drehte sich zu ihm. „Nein, das geht nicht. Die Straße ist zu eng. Aus dem Dorf hinter dem Pass hat uns die Armee einen Panzer zur Verteidigung geschickt. An dem kommt ihr nirgens vorbei.“
Obwohl es dunkel war, sah ich den Algerier erbleichen. Ich gab sicher auch kein gutes Bild ab in dem Moment. „Was machen wir jetzt, Doc?“ „Abwarten, Roman, mehr können wir nicht tun.“
Ich ging zum Wagen und stellte den Motor wieder ab zurück. Auf dem Bock drehte ich mir eine Zigarette. Paul wagte wohl nicht zu fragen was los war. Er schaute ins Tal herunter. Man konnte nun deutlich die brennenden Höfe sehen. Die Milizen besetzten die Stellungen am talwärtigen Ortseingang. Die Männer gingen mit hängenden Köpfen, schicksalsergeben an uns vorbei. Der Junge den ich an der Kirche gesehen hatte winkte mir mit der der Kalaschnikov zu. Ich warf den Motor wieder an und die Heizung des Wagens begann endlich zu wärmen, aber es fröstelte mich immer noch.
Gestern hatten wir mit den LKWs etwas mehr wie eine halbe Stunde von den Höfen hierher gebraucht. Wenn die Serben motorisiert sind werden sie schneller da sein. Paul kurbelte die Scheibe ein Stück herunter um seine Zigarette hinauszuwerfen, durch den Lärm der Motoren hörten wir von fern Gewehrfeuer.
Meine Nerven waren gespannt wie Drahtseile. Vom talseitigen Ortseingang kam knatternd ein Motorad mit Seitenwagen gefahren. Aus der Cantina stürzten Leute heraus. Sie halfen einem offenbar Verletzten aus dem Beiwagen und trugen ihn in den Gastraum. An der Kirche begannen die Glocken zu läuten. Immer mehr Männer tauchten auf, alle bewaffnet. Alte Schrotflinten, Karabiner, Jagdwaffen und jede Menge Messer und Knüppel. Wenn wir nicht bald hier wegkommen würden wir mitten drin stecken in der Scheiße, dagegen war die Scheiße in Sarajevo lächerlich. Paul schaute mich fragend an. „Die wollen dieses Kaff gegen eine bestens ausgerüstete Einheit Paramilitärs verteidigen, die haben nicht die geringste Chance.“
„Wohin sollten sie von hieraus den fliehen, überall ist Krieg, überall sterben die Menschen. Wenn ich nirgens mehr hin kann, werde ich mich auch verteidigen– Außerdem, je länger sie die Serben aufhalten, je besser ist unsere Chance hier fort zu kommen.“ und wie zur Bekräftigung trat ich das Gaspedal und ließ den Motor aufheulen. - Wir warteten.
Die Dämmerung kam, es dürfte so gegen 7.30 Uhr gewesen sein, da brachten zwei Männer einen offenbar schwer Verletzten. Sie trugen ihn auf den Schultern, ich erkannte sofort den Jungen von der Kirche wieder.
Meinen Kopf legte ich zwischen die Arme auf das Lenkrad, doch ich konnte den Schrei des Mädchens hören, als man ihren Freund in die Schankstube trug, wo man eine Behelfslazarett eingerichtet hatte.
Dann hörten wir das Motorgeräusch. Ein schwerer großes Fahrzeug näherte sich uns.
Paul blickte mich an, wenn das die Serben waren, dann war es nun für uns vorbei. Ich hörte das Rasseln von Panzerketten auf Asphalt und spürte die leichte Vibration die der anrollende Koloß erzeugte. Das Gewehrfeuer war schon ganz nah.
Offenbar nur noch wenige hundert Meter entfernt.
Aus der Cantina kamen Dorfbewohner gelaufen. Sie gingen rüber zum LKW von Mahoud. Dann brachten sie den Verletzten. Doc Mahoud lud ihn ins Führerhaus. Ich sah den Jungen schwer atmen, die weiße Fahne die in der Kälte aus seinem Mund kam stockte immer wieder. Der Doc legte ihn auf die Pritsche. Für das Mädchen war bei ihm drüben kein Platz mehr und Mahoud bedeutete ihr bei uns einzusteigen.
Paul rutschte zur Seite und half ihr ins Führerhaus. In dem Augenblich rasselte ein Panzer auf den Dorfplatz. Es war die Verstärkung der Armee. Ein Jeep hielt beim Laster von Mahoud. Paul öffnete das Fenster und horchte. „Die Straße ist jetzt frei. Es geht los, wir fahren als letzte.“ Ich war erleichtert, Paul wurde etwas ruhiger, das Mädchen sagte kein Wort und starrte auf den schneebedeckten Platz, auf dem man nun beim heller werden, das Blut ihres Freundes im Schnee sehen konnte.
Ich reihte mich hinter den beiden anderen Lastwagen ein. Wir fuhren bergauf. Die Straße war tatsächlich sehr schmal. Irgendwann kamen wir an drei Autos mit Anhängern vorbei, der talwärts fahrende Panzer hatte sie einfach in den Abgrund gedrückt. Die Flüchtlinge standen frierend am Straßenrand. Wir fuhren vorbei. Als wir die Passhöhe erreichten, sah ich im Rückspiegel Leuchtspurgeschosse. Die Kirche des Dorfes brannte. Ich drückte das Gaspedal durch und sagte an diesem Tag kein Wort mehr.

Der Rückweg aus Bosnien war besonders gefährlich. Ich glaubte schon alles hinter mir zu haben, was man erleben kann. Aber das ist ein Fehler, wie ich am eigenen Leib zu spüren bekam.Roman Scherer, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.02.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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