Klaus-D. Heid

Inkonsequenz

Es ist 21.17 Uhr...

„Höchstens bis 22.00 Uhr...!“ denke ich mir – und überlege, wie ich die Zeit bis dahin totschlagen kann. Wenn er dann immer noch nicht da ist, haue ich ab. Einfach so. Soll er doch sehen, wie er klarkommt! Es ist doch nicht normal, dass er mich Abend für Abend warten lässt, als wäre ich das Unwichtigste auf der Welt für ihn. Jeden Hund auf der Straße behandelt man mit mehr Respekt! Er geht einfach davon aus, dass ich da bin, wenn er kommt. Wahrscheinlich trudelt er irgendwann gegen Mitternacht ein, um mir dann völlig selbstverständlich zu erzählen, wie schwer und anstrengend sein Tag heute war. Er wird die Welt nicht mehr verstehen, wenn er heute feststellt, dass ich nicht mehr da bin, um mir seine Jammertiraden anzuhören. Er wird sogar toben und fluchen, weil ich es gewagt habe, mich an meinen eigenen Willen zu erinnern.

Seit ich ihn kenne, hat er niemals auf mich Rücksicht genommen. Wenn er kam, kam er. Kam er nicht, dann kam er eben nicht. Basta. Aus. Ende. So war er nun mal. Und auf gar keinen fall durfte ich die Frechheit besitzen, von meinen eigenen Erlebnissen des Tages berichten zu wollen, bevor er nicht sein gebündeltes Elend über mir ausgeschüttet hatte.

„Du glaubst ja gar nicht, wie schwer...“

Jeder seiner Sätze begann so. So oder zumindest so ähnlich. Es folgte dann eine ausführliche Beschreibung aller hochdramatischen Unwichtigkeiten, die er aufblähte, als seien sie das Ende der Welt. Darin bestand eine seiner größten Begabungen. Wenn er erst einmal anfing, sich in das erlebte Grauen eines Tages hineinzusteigern, wunderte es mich, dass er überhaupt noch am Leben war. Seinen Schilderungen nach, müsste er längst tausend Tode gestorben sein. Nichts, was er nicht mit seinem persönlichen Übertreibungsfaktor multiplizierte. Mücken wurden zu Elefanten; Feldmäuse mutierten in seiner Schilderung zu alles fressenden Bestien – und winzigste Unwichtigkeiten glichen aus seinem Mund einem Armageddon der letzten Tage.

Anfangs habe ich noch versucht, zaghaft und nichtsahnend einige wenige Episoden aus meinem Leben beizusteuern, wenn er gerade mal zu einer seiner wenigen Pausen ansetzte. Sehr schnell erkannte ich jedoch, dass ihn nichts interessierte, was nicht direkt mit ihm zu tun hatte. Er konnte sogar fuchsteufelswild werden, wenn ich es wagte, seinen Redefluss zu unterbrechen.

„Ist mein Leben nicht hart genug? Muss ich mir jetzt auch noch Dein Gequatsche anhören...?“

Damit war dann klargestellt, wer welche Prioritäten für sich beanspruchte. Anders ausgedrückt hieß das, dass lediglich mitleidiges Bedauern seiner misslichen Lage gestattet war. Ich durfte ihm meine Anteilnahme versichern. Ich durfte ihn trösten. Ich durfte ihm seinen fast kahlen Schädel streicheln, wenn er wieder einmal weinerlich in meinem Schoß berichtete, wie gemein und grausam die Welt zu ihm war.

Diesen geistigen Dünnschiss habe ich mir nun fast elf Jahre angetan. Elf Jahre habe ich mich so klein gemacht, dass er ja immer genug Platz zum Jammern hatte. Elf verlorene Jahre. Elf Jahre, die er mir gestohlen hat!

Noch fünf Minuten. Fünf Minuten, die mich davon trennen, ihn ein für alle Male zu verlassen.

Im Verhältnis zu elf Jahren sind fünf Minuten wirklich nicht sehr viel. Andererseits können fünf Minuten endlos sein. Fünf Minuten die Luft anzuhalten, bedeutet den Tod. Fünf Minuten beim Zahnarzt können die Hölle sein. Es ist einfach genug, was er mir angetan hat. Ich bin dumm genug, ihm auch noch diese lächerlichen fünf Minuten zu schenken. Warum war ich nicht längst weg? Was war denn, wenn ich blieb? Was war, wenn er tatsächlich gleich zur Tür hereinkam? Würde ich den Mut besitzen, ihm zu sagen, was für ein unerträgliches Leben er mir zugemutet hat? Oder würde ich wieder einmal still und artig seinem Gebrabbel lauschen? Mit großer – absolut großer! – Wahrscheinlichkeit blieb alles so, wie es immer war. Mein Zorn, meine Wut und meine Verzweifelung blieben still und unbemerkt in meinem Kopf. Er sah sowieso nichts, was nicht ihn betraf. Aber einfach so elf Jahre wegwerfen? Einfach so tun, als hätte es sie nie gegeben? Konnte ich das?

„Ich hab Kopfschmerzen. Massierst Du mir den Nacken?“ „Ich bin todmüde! Ich erzähle Dir morgen, wie mein Tag war, ja?“ „Ich könnte sie alle umbringen! Sie haben mir schon wieder gesagt, dass ich meine Umsatzzahlen steigern soll.“

Ich, ich, ich...

Und ich? Ich spiele wohl keine Rolle in seinem Leben, wie? Habe ich auch nur einmal erzählen dürfen, warum ich mich abends müde und schlaff fühlte?

10.00 Uhr. Die Zeit ist um. Er ist nicht da. Dachte ich’s mir doch. Irgendwann vor Mittenacht kam er. Wie so oft würde sein Atem nach Bier stinken. Wie so oft hatte er dann seinen Zorn in einigen Litern Bier ertränkt. Vielleicht trieb er sich auch bei irgendwelchen Weibern herum? Vielleicht? Bestimmt sogar! Eine Nacht um die andere ließ er mich warten, berührte mich nicht mehr – und tat so, als sei ich eine Art Haushaltsmaschine, bei der man nur den Stecker in die Steckdose zu stecken brachte, um sie in Gang zu setzen. Ich war sein Mixer, seine Waschmaschine und sein Bügelautomat. Alles in einem.

Aber elf Jahre...?

Ich werde im Bett auf ihn warten! Morgen – morgen werde ich ihm sagen, dass ich ihn verlasse! Morgen werde ich allen Mut zusammen nehmen und ihn vor die Wahl stellen. Besser noch: ich werde einfach gehen, wenn er bei der arbeit ist. Vielleicht hinterlasse ich ihn noch einen kleinen Zettel, auf dem ich ihm mitteile, wie sehr ich ihn verachte?

Morgen. Jetzt bin ich müde und will ins Bett. Morgen ist auch noch ein Tag...

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