Claudia Jacobs

Das Mädchen mit den Mandelaugen



“Das also, ist jetzt mein Kind. Meine Tochter“: dachte die Frau.
Sie sah auf ein Mädchen mit borstigen, kurzen schwarzen Haaren, die wie die Stacheln eines Igels vom Kopf abstanden. Darunter war ein winziges Gesicht mit hohen Wangenknochen und grossen, mandelförmigen, fast schwarzen Augen. Sie waren ebenso glanzlos wie ihr Haar. Und leblos, ohne Ausdruck.....
Nicht einmal Angst schien sie zu haben....nicht einmal das.....
Am Hals waren kleine Narben zu sehen....Napalm hatte man ihr gesagt. Und da seien noch mehr. Auf dem Rücken und an der Seele.
Die andere Frau drückte ihr mit einem verlegenen Lächeln die kleine, knochige Hand in ihre. Sie war schlaff und kalt.
Die Frau wusste nicht viel von dem Kind. Nur das sie in einem Dorf gefunden wurde, irgendwo in Vietnam. Sie war sprachlos und halb verhungert gewesen. Verbrannt vom Napalm.
In einem Flüchtlingslager hat sie gewartet. Darauf, das jemand kam, der sie wollte. Sie hat lange gewartet. Stumm und alleine.
Die Frau wusste, es würde schwer werden. Doch sie hatte soviel Liebe.
Und nun ein Kind, das diese Liebe brauchte.
Die andere Frau drückte ihr einen winzigen Rucksack und einen Umschlag in die freie Hand.
“Das war es dann! Ich muss das nächste Flugzeug nehmen. Es sind noch soviele Kinder, die ich unterbringen muss“
In dem Umschlag und dem winzigen Rucksack war das ganze Leben ihrer Tochter. Alles was sie besass und alles, was sie war.
Das kleine Mädchen lief stumm und ohne aufzusehen neben ihr her. Vor dem Gebäude wartete ein Mann, lässig mit dem Rücken an ein Auto gelehnt. Er hatte geraucht. Vor seinen Füssen lagen Reste von kaum angerauchten Zigaretten. Mit einem Ruck stiess er sich vom Wagen ab. Er ging auf die beiden zu und kniete vor dem Kind nieder. Er nahm die winzige Knochenhand in seine grosse, schwarz behaarte Hand.

“Willkommen im Leben mein Kind!“

Mit vorsichtigen Bewegungen setzte er das Kind in den Fond, neben seine Frau.
Das Zimmer des Kindes war spartanisch eingerichtet. Es sollte sich erst an die vielen fremden Dinge gewöhnen. Dinge, die es nicht kannte, niemals zuvor gesehen hat.
Ein grosses Bett stand an der einen Wand und eine Tür führte ins Elternschlafzimmer. Die Tür blieb auf.
Am Tisch ass das Mädchen nicht viel. Nur ein wenig Brot und Obst. Nichts gegartes oder Wurst. Auch nicht Salat oder Süsses. Sie trank nur Wasser. Und immer nahm sie Essen mit.
Die neuen Eltern glaubten, sie würde es später essen.
Das Kind schlief auf dem Boden vor dem Bett.
Die Eltern hatten Urlaub genommen, doch sie blieben zuhause.
Sie wussten, das Kind brauchte Zeit. Viel Zeit. Soviel Zeit, wie Liebe.
Alles ging langsam, behutsam und mit leisen Stimmen.
Doch das Kind blieb stumm.
Und es schlief nie in dem grossen Bett. Immer auf dem kleinen Teppich davor. Und immer mit dem Rücken zur Wand. Es war sofort wach, näherte sich jemand ihrem Teppich.
Am Tage sass es in irgendeiner Ecke des Hauses auf dem Boden. Immer mit dem Rücken zur Wand.
Es schien, als schliefe das Mädchen. Doch kam man ihr nahe, war da ein Flackern in den Augen. Und ein kaum wahrnehmbares Zucken in den Beinen.
Nach einiger Zeit fing es im Zimmer der Mädchens an zu riechen. Verfault....süsslich....was war das?
Die Frau suchte und sie fand...
...unter dem Bett lagen das Obst und Brot, das immer mit dem Mädchen verschwand.
Und sie begriff!
Nun wusste sie, was zu tun war.
An diesem Abend sassen sie wieder gemeinsam am Tisch. Das Kind ass nur wenig.
Als die Mahlzeit beendet war, nahm die Frau ein Tablett. Sie stellte Wasser, Obst und Brot darauf. Dann ging sie die Treppe hinauf. Das kind hinter ihr her.
Oben nahm sie das Tablett und schob es unter das Bett. Dann nahm sie, immer noch wortlos, einen Teppich,legte ihn an die Wand und rollte sich auf dem Teppich zusammen.
Das Kind stand da.
Lange stand es da.
Die Frau blieb liegen.
Sie wartete.
Das Kind sah unter das Bett. Alles war da. Auch das alte, faulende Essen.
Das Kind sah zu der Frau, und unter das Bett und zu der Frau. Zu der Frau mit dem Rücken an der Wand. Das Kind nahm seinen Teppich und legte ihn vor die Frau. Dann legte das Kind sich auf den Teppich. Mit dem Rücken zur Frau.
Am nächsten Tag suchte das Kind in der Küche.
Es nahm einen Beutel und eine Schaufel und ging die Treppe hinauf.
Nach einer Weile kam es wieder. In der Tüte waren faulige alte Essenreste.
Einen Moment schien das Kind nicht zu wissen was zu tun ist. Dann formten ihre Lippen kaum wahrnehmbar ein Wort: “Mama?“

....und sie hielt der Frau die Tüte hin...


An diesem Abend ass das Kind zum erstenmal Rühreier...


...und heute steht sie wieder mit dem Rücken zur Wand. Denn ihre Haare sind schwarz, ihre Wangenknochen hoch und ihre Augen haben die Form von Mandeln...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.08.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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