Holger Gerken

Mein Freund, der Baum

„So, morgen ist es soweit. Dann wird die elende Hungerharke endlich umgehauen!“ Mein Vater nahm sich seelenruhig von den Kartoffeln, während er am Abendbrottisch das Todesurteil über meinen besten Freund sprach.
Lange hatte ich schon damit gerechnet, aber nicht damit, dass es so schnell gehen würde und vor allem nicht, dass er es wirklich tun würde. Ich mochte nicht mehr essen, schob meinen Teller mit Erbsen und Möhren beiseite, entschuldigte mich und ging hinaus in den Garten, um meinen Freund vielleicht ein letztes Mal zu sehen.
Es war ein warmer Sommerabend, die Grillen zirpten und die untergehende Sonne tauchte den Horizont in ein orangerotes Meer. Einsam und etwas vertrocknet stand er da gegen die untergehende Sonne, als wüsste er, was ihm blühte. Scheinbar verzweifelt, aber in sein Schicksal ergeben streckte er seine Äste in den Abendhimmel
Seit Wochen hatte es schon nicht mehr geregnet, und der Boden war trocken. Also setzte ich mich auf das Gras zu seinen Füßen, lehnte meinen Rücken gegen seinen grünen Stamm und dachte nach.
So manchen Ast mussten wir absägen in den letzten Jahren, weil der Krebs ihn zerfressen hatte. Ganz unten ragte noch ein Ast hervor, knorrig und eigenwillig gewachsen wie Opas Gichthände.
Jetzt hatte „Baumi“, wie ich ihn nannte, nur noch ein paar vereinzelte Blätter, einige Äste und Zweige waren wohl schon ganz abgestorben, und geblüht hatte er seit letztem Jahr nicht mehr.
„Ach, Baumi“, seufzte ich laut, streichelte seine Borke und schaute in seine kärgliche Krone hinauf.
„Tja“, seufzte Baumi zurück. „Es kommt wohl irgendwann für jeden der Tag, an dem er gehen muss.“
„Was, du weißt...?“
„Wenn man so alt und weise ist wie ich, dann ahnt man so etwas, lange bevor die anderen es wissen.“
An diesem Abend hörte er sich unheimlich alt an, mit einem merkwürdigen Ton in der Stimme, den ich sonst nicht an ihm kannte.
„Ich bin alt, ich bringe keine Äpfel mehr hervor, ich nehme euch das Licht und den Platz hier weg und dann muss ich eben gehen. So ist das Leben. Ich fühle mich ja selbst ein wenig schwach.“
„Hast du Angst?“ fragte ich. „Ich meine, ob es wehtut oder so?“
„Ich weiß nicht“, sagte Baumi. „Ich hoffe, es ist schnell vorbei. Vor dem Tod habe ich keine Angst, aber vor dem Sterben. Wird er die Säge nehmen oder die Axt?“
„Wahrscheinlich die Axt, schätze ich.“
„Hm“, brummte Baumi.
Eine Zeitlang schwiegen wir.
„Weißt du noch damals?“ fragte ich. „Als Kind bin ich immer in deinen Ästen herumgeklettert. Und wenn ich was angestellt hatte und Papa mich gesucht hat, dann hast du mich mit deinem Laub in der Krone immer versteckt.“
„Ja, und du hast immer von meinen Äpfeln probiert, auch wenn sie noch gar nicht reif waren. Und ein paar Mal bist du von ganz oben heruntergefallen und hast dir die Knie aufgeschlagen in deinen kurzen Hosen.“
„Ich wollte mir auch ein Baumhaus in deinen Ästen bauen, aber Papa hat gesagt, deine Äste sind nicht stark genug und außerdem ist ein Apfelbaum nicht zum Spaß da, sondern um Äpfel zu liefern. Am liebsten wäre ich aber den ganzen Sommer bei dir geblieben.“
Einen Augenblick schwiegen wir wieder.
„Weißt du was?“, sagte ich zu Baumi. „Wir verbringen deine letzte Nacht zusammen hier draußen und quatschen über alte Zeiten…“
„Du bist ein echter Freund“, sagte Baumi.
Wir mussten nur aufpassen, dass mein Vater nichts merkte. Er hielt nichts von so einem „sentimentalen Quatsch“ und glaubte auch nicht, dass Baumi sprechen konnte.
Ich setzte mich und lehnte mich an Baumis Stamm.
„Lass uns zusammen abhauen“, sagte ich.
Baumi lachte. „Wie stellst du dir denn das vor? Ich bin hier festgewachsen.“
„Hast du schon mal versucht, dich zu bewegen? Oder überhaupt drüber nachgedacht?“
„Ich bin ein Baum. Ich kann mich kein bisschen von der Stelle rühren.“ Um es zu beweisen, versuchte er, die Wurzeln zu bewegen. „Siehst du – nichts!“
„Da, da hat etwas gezuckt!“ , rief ich plötzlich. Ich hatte es genau gesehen. Die knorrige Wurzel, die aus dem Rasen herausragte, hatte sich geregt.
„Ach, du spinnst“, sagte Baumi, als sie schon wieder zuckte und fast aus dem Boden heraus brach.
Überrascht, beinahe verstört, strengte er sich noch etwas an und zog tatsächlich eine seiner alten Wurzeln aus der Wiese. Ganz feucht und mit einigen Erdbrocken bedeckt lag sie jetzt zitternd auf dem Gras. Ängstlich und aufgeregt schaute Baumi zu mir herüber.
„Das ist ja unglaublich“, rief ich. „Versuch mal, ob du den Rest auch aus dem Boden ziehen kannst.“
Baumi biss alle Zähne zusammen, er stöhnte und schnaufte, zerrte und drückte, riss und ruckte. Unter dem Baum bröselte die Erde, und ein dünner Riss zog sich durch den Garten.
„Mach weiter, du schaffst es“, feuerte ich ihn an.
Plötzlich kam vom Haus ein Ruf. „Junge, was machst du noch da draußen, du musst ins Bett. Morgen wollen wir früh raus. Ich mach’ die Axt schon mal scharf.“
„Ja, ich komme gleich“, log ich. Mein Vater verschwand in seiner Werkstatt, und wenig später hörte man, wie er sein Mordwerkzeug am Schleifstein schärfte.
In Todesangst ruckelte Baumi weiter an seinen Wurzeln, jetzt viel entschlossener. Der Riss unter ihm vergrößerte sich, Baumi atmete tief durch und mit einem entschlossenen Ruck brach die Wurzel aus dem dunklen Boden und klatschte auf das Gras.
„Du hast es geschafft, Baumi!“
Er hing jetzt nur noch an zwei kleineren Saugfasern in der Erde fest. Ein paar kurze Bewegungen und mein Freund, der Baum war frei. Fasziniert starrte ich ihn an. Auf wackeligen Beinen stand er da und versuchte, mit den spärlichen, knorrigen Ästen das Gleichgewicht zu halten. Stolz lächelte er mich an.
„Siehst du, ich habe es geschafft, ich bin frei.“
„Ja, es ist unglaublich. Aber wir müssen uns jetzt etwas einfallen lassen. Es ist schon fast dunkel. In ein paar Stunden holt mein Vater die Axt wieder hervor und wird dich umbringen.“
Baumis trockene Zweige zitterten in der lauen Sommerluft.
„Wir müssen von hier verschwinden“, sagte ich. „Kannst du dich bewegen?“
Baumi hob und senkte seine Füße, um es mir zu zeigen.
„Aber du musst hier bleiben“, sagte er. „Du gehörst zu deinen Eltern. Ich werde allein verschwinden. Schließlich hat dein Vater es nur auf mich abgesehen, nicht auf dich.“
„Allein kommst du doch draußen in der Welt gar nicht zurecht“, erwiderte ich. „Ein alleinreisender Baum fällt auf wie ein bunter Hund. Innerhalb von Stunden hätten sie dich wieder eingefangen. Ich bleibe natürlich bei dir.“
Baumi schlang einen Ast um mich und drückte mich an seine grüne Borke.
„Komm jetzt“, drängte ich. „Wir haben nicht mehr viel Zeit.“
Ich deutete über die abgeernteten Maisfelder hinter unserem Haus auf den Wald, der einige Kilometer entfernt am Horizont auf uns wartete. „Lass uns verschwinden.“
Baumi tapste langsam hinter mir her. Ich half ihm über den Gartenzaun, und dann lagen nur noch die weiten Stoppelfelder vor uns.
„Also los“, rief ich Baumi zu, und gemeinsam liefen wir durch die Abenddämmerung in die Freiheit.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Holger Gerken).
Der Beitrag wurde von Holger Gerken auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.08.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Holger Gerken als Lieblingsautor markieren

Buch von Holger Gerken:

cover

Der Wichtel und das Schwein der Waisen von Holger Gerken



In diesem ironischen Fantasy-Roman begeben sich der Wichtel Puck und der Rabe Muhugin auf die Suche nach der Goldenen Waldsau, die Trolle von ihrer Waldlichtung gestohlen haben. Dabei durchqueren sie Schauplätze und treffen auf Figuren, denen wir so ähnlich schon in verschiedensten Abenteuerromanen und –filmen begegnet sind. Aber irgendetwas ist immer ein bisschen anders als bei den bekannten Originalen.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Skurriles" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Holger Gerken

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Wenn das Glück zu dir kommt... von Holger Gerken (Wie das Leben so spielt)
Der Erste Kuß von Rita Bremm-Heffels (Skurriles)
Ganz ohne Chance!? von Christina Wolf (Lebensgeschichten & Schicksale)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen